Mord (Version 2): Unterschied zwischen den Versionen

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Es gibt (seltene) Ausnahmen von dieser Regel. Man denke an Mordprozesse gegen Tiere oder an den Diskurs über Folter und Mord an Menschenaffen (Fischer 2005, Cavalieri & Singer 1994). Diese Ausnahmen zeigen zweierlei. Erstens, dass der Mord als soziale Tatsache nicht durch das Mensch-Sein von Täter und Opfer definiert ist, sondern letztlich nur durch die außerordentliche Verwerflichkeit, die einer Tötung zugeschrieben wird; die Menschen-Eigenschaft von Täter (= schuldfähiges Subjekt) und Opfer (= verbotenes Objekt der Tötung) gilt normalerweise als Voraussetzung dafür, eine Tötung als besonders empörend zu qualifizieren, doch können ausnahmsweise eben auch Tier-Mensch- oder Mensch-Tier-Tötungen ebenso starke Reaktionen auslösen wie kaltblütige Tötungen unter Menschen. Zweitens belegt die zunehmende Plausibilität der Ansicht, dass auch Tiere - und insbesondere die sog. Menschenaffen - Opfer von Folter und Mord sein können, die weitere Selbstrelativierung des Menschen im historischen Prozess und die damit zusammenhängende allgemeinere "Tendenz zur Inklusion" (Hess 2011).
Es gibt (seltene) Ausnahmen von dieser Regel. Man denke an Mordprozesse gegen Tiere oder an den Diskurs über Folter und Mord an Menschenaffen (Fischer 2005, Cavalieri & Singer 1994). Diese Ausnahmen zeigen zweierlei. Erstens, dass der Mord als soziale Tatsache nicht durch das Mensch-Sein von Täter und Opfer definiert ist, sondern letztlich nur durch die außerordentliche Verwerflichkeit, die einer Tötung zugeschrieben wird; die Menschen-Eigenschaft von Täter (= schuldfähiges Subjekt) und Opfer (= verbotenes Objekt der Tötung) gilt normalerweise als Voraussetzung dafür, eine Tötung als besonders empörend zu qualifizieren, doch können ausnahmsweise eben auch Tier-Mensch- oder Mensch-Tier-Tötungen ebenso starke Reaktionen auslösen wie kaltblütige Tötungen unter Menschen. Zweitens belegt die zunehmende Plausibilität der Ansicht, dass auch Tiere - und insbesondere die sog. Menschenaffen - Opfer von Folter und Mord sein können, die weitere Selbstrelativierung des Menschen im historischen Prozess und die damit zusammenhängende allgemeinere "Tendenz zur Inklusion" (Hess 2011).
   
   
Andererseits ist aber auch nicht jede Tötung eines Menschen durch einen Menschen ein Mord. Man denke an die Einnahme feindlicher Stellungen im Krieg, an die Vollstreckung von Todesstrafen, an die Tötung in Notwehr oder an den tödlichen Schuss auf einen Bankräuber zur Rettung von Geiseln. Man denke an fahrlässige Tötungen, an die Tötung auf Verlangen, an Abtreibungen oder Taten im Affekt. Man denke schließlich an vorsätzliche, rechtswidrige und schuldhaft begangene Tötungen, die vom Gesetz und von den Gerichten wie auch von der öffentlichen Meinung als Totschlags- und nicht als Mord-Fälle angesehen werden. Die Funktion der Kategorie des Mordes besteht darin, eine Grenze zu ziehen zwischen den Tötungen, die der Mensch an Artgenossen vornimmt, und die noch irgendwie als innerhalb der Gesellschaft angesehen werden (können und sollen) - und jenen, die von einer Grausamkeit und Gefährlichkeit sind, die ganz fundamentale Fragen der Existenz und des Wesens des Menschen, Gottes und des Bösen aufwerfen ("Wie kann ein Mensch zu einer solchen Tat in der Lage sein? Was muss das für ein Gott sein, der so etwas zulässt?"). Welche Eigenschaften eine Tat aufweisen muss, um der Extremkategorie dieser besonders verabscheuungswürdigen und kaum oder gar nicht nachvollziehbaren Mord-Taten zugeordnet zu werden, wird von jeder Epoche und jeder Rechtskultur anders beantwortet: was sie aber alle zu einen scheint ist die Überzeugung, dass die Existenz einer solchen Kategorie zur Benennung des Aller-Abscheulichsten, was der Mensch dem Menschen antun kann, in der Sprache und in der Verknüpfung solcher Fälle mit besonderen Rechtsfolgen einen klaren Ausdruck finden muss.  
Andererseits ist aber auch nicht jede Tötung eines Menschen durch einen Menschen ein Mord. Man denke an die Einnahme feindlicher Stellungen im Krieg, an die Vollstreckung von Todesstrafen, an die Tötung in Notwehr oder an den tödlichen Schuss auf einen Bankräuber zur Rettung von Geiseln. Man denke an fahrlässige Tötungen, an die Tötung auf Verlangen, an Abtreibungen oder Taten im Affekt. Man denke schließlich an vorsätzliche, rechtswidrige und schuldhaft begangene Tötungen, die vom Gesetz und von den Gerichten wie auch von der öffentlichen Meinung als Totschlags- und nicht als Mord-Fälle angesehen werden. Die Funktion der Kategorie des Mordes besteht darin, eine Grenze zu ziehen zwischen den Tötungen, die der Mensch an Artgenossen vornimmt, und die noch irgendwie als innerhalb der Gesellschaft angesehen werden (können und sollen) - und jenen, die von einer Grausamkeit und Gefährlichkeit sind, die ganz fundamentale Fragen der Existenz und des Wesens des Menschen, Gottes und des Bösen aufwerfen ("Wie kann ein Mensch zu einer solchen Tat in der Lage sein? Was muss das für ein Gott sein, der so etwas zulässt?"). Welche Eigenschaften eine Tat aufweisen muss, um der Extremkategorie dieser besonders verabscheuungswürdigen und kaum oder gar nicht nachvollziehbaren Mord-Taten zugeordnet zu werden, wird von jeder Epoche und jeder Rechtskultur anders beantwortet: was sie aber alle zu einen scheint ist die Überzeugung, dass die Existenz einer solchen Kategorie zur Benennung des Aller-Abscheulichsten, was der Mensch dem Menschen antun kann, in der Sprache und in der Verknüpfung solcher Fälle mit besonderen Rechtsfolgen einen klaren Ausdruck finden muss.


Die westliche Tradition ordnet grundsätzlich all jene Tötungen der Kategorie des Mordes (oder seiner begrifflichen Äquivalente) zu, die außerhalb des gesetzlichen Rahmens mit Vorbedacht (im griechischen Altertum: ''ek pronoia'') und Planung (''bouleusis'') begangen wurden. Das deutsche Recht schlug 1941 einen bis heute nicht verlassenen Sonderweg ein, indem es die Abgrenzung nicht mehr nach dem Merkmal der Überlegung vornahm, sondern eine typisierende Bewertung von Tatmotiven, Tatumständen und Tatzielen vornahm. Seither beschreibt das Gesetz auch nicht mehr die Tat des Mordes, sondern den Täter, indem es in § 211 des Strafgesetzbuchs formuliert: "Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet." Aus der nationalsozialistischen Formulierung "Der Mörder wird mit dem Tode bestraft" wurde inzwischen: "Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft." Das deutsche Strafrecht weist dem Mord also eine dreifache Sonderstellung zu: erstens durch die Rede vom "Mörder" inmitten eines sonst nur Handlungen beschreibenden Tatstrafrechts, zweitens durch die Abweichung von der durchgängigen Praxis des Gesetzgebers, keine Punktstrafe vorzuschreiben, sondern einen gerichtlich auszufüllenden Strafrahmen anzugeben und drittens durch die Ausnahmevorschrift (seit 1979), dass Mord - anders als alle anderen Straftaten - keiner Verjährung unterliegt.
Die allgemeine Bedeutung der Definition des Mordes für jede Gesellschaft zeigt sich auch daran, dass der gesetzlich fixierte Mordbegriff zu jeder Zeit mit sozialen Anschauungen und Forderungen konkurriert. So kommt es, dass in der Realität zu jeder Zeit mehreres als Mord bezeichnet wird, nämlich jeweils das, was:  
 
Unterschiedliche gesetzliche, aber auch die verschiedenen sozialen Aussagen darüber, was als Mord anzusehen sei, können Aufschluss geben über divergierende Überzeugungen sozialer Schichten und Milieus ebenso wie über Tendenzen des Wertewandels. Die einen prangern Abtreibungen als "Massenmord an ungeborenen Kindern" an, die anderen bezeichnen das Treiben in Schlachthöfen als "Mord an Tieren" (vgl. dazu Hoerster 2007). Hinter derlei "Streit um Worte" steht meist ein handfester sozialer Konflikt darum, welcher Teil der Bevölkerung seine Wertorientierung im Gesetzestext festschreiben und damit allgemein verbindlich machen darf. Eine selbstbewusste Zivilgesellschaft kämpft zum Beispiel gegen den Obrigkeitsstaat und dessen Parteigänger mit Slogans wie "Soldaten sind Mörder" und kritisiert die Praxis der Hinrichtungen in Staaten, in denen es die Todesstrafe gibt, als "staatlichen Mord". In solchen gesellschaftlichen Morddefinitionen drückt sich nicht nur ein Unbehagen an dem aus, was vielen als pure Heuchelei, bzw. als Doppelmoral einer gespaltenen Tötungsethik erscheint. Sie sind auch die logische Konsequenz eines vergesellschafteten Staatsverständnisses, das diesen als Diener seiner Bürger sieht und ihm also am liebsten die Gesellschaftsmoral des Tötungsverbots oktroyieren würde. All diese Phänomene zeigen, dass es eine Differenz gibt zwischen den herrschenden Überzeugungen, wie sie im positiven Recht verankert sind, und den Werten und Normen gesellschaftlicher Gruppen, Bewegungen oder Subsysteme, aus denen historisch gesehen immer wieder auch rechtlicher Wandel entsteht. Insofern sensibilisieren diese Definitionen nicht nur für ethisch-ideologische Differenzen zwischen Herrschenden und Beherrschten, sondern sie gewähren auch einen Blick auf das, was kommen könnte. 
 
 
Welche Arten von Tötungshandlungen als besonders verwerflich gelten, ist immer auch Gegenstand sozialer und ideologischer Konflikte. Alte Eliten kämpfen gegen die Abwertung und neue für die Verankerung ihrer jeweiligen Moralvorstellungen im Strafgesetzbuch. So unterliegt das, was vom Gesetzgeber mit dem Anspruch der Allgemeinverbindlichkeit als Mord bezeichnet wird, letztlich auch dem Wandel der gesellschaftlichen Einstellungen und der politischen Machtverhältnisse. Daraus ergibt sich, dass zu jeder Zeit mehrere Begriffe des Mordes in einer Gesellschaft benutzt werden. In der gesellschaftlichen Realität wird als Mord bezeichnet, was:  


#im Gesetz abstrakt-generell als Mord definiert ist (abstrakte Gesetzes-Definition)
#im Gesetz abstrakt-generell als Mord definiert ist (abstrakte Gesetzes-Definition)
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#staatliche Institutionen offiziell als Mord registrieren (formelle Real-Definition)
#staatliche Institutionen offiziell als Mord registrieren (formelle Real-Definition)
#Historiker, Journalisten, Kriminologen und andere informell unter die gesetzliche Definition subsumieren (informelle Real-Definition).
#Historiker, Journalisten, Kriminologen und andere informell unter die gesetzliche Definition subsumieren (informelle Real-Definition).
Die westliche Tradition ordnet grundsätzlich all jene Tötungen der Kategorie des Mordes (oder seiner begrifflichen Äquivalente) zu, die außerhalb des gesetzlichen Rahmens mit Vorbedacht (im griechischen Altertum: ''ek pronoia'') und Planung (''bouleusis'') begangen wurden. Das deutsche Recht schlug 1941 einen bis heute nicht verlassenen Sonderweg ein, indem es die Abgrenzung nicht mehr nach dem Merkmal der Überlegung vornahm, sondern eine typisierende Bewertung von Tatmotiven, Tatumständen und Tatzielen vornahm. Seither beschreibt das Gesetz auch nicht mehr die Tat des Mordes, sondern den Täter, indem es in § 211 des Strafgesetzbuchs formuliert: "Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet." Aus der nationalsozialistischen Formulierung "Der Mörder wird mit dem Tode bestraft" wurde inzwischen: "Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft." Das deutsche Strafrecht weist dem Mord also eine dreifache Sonderstellung zu: erstens durch die Rede vom "Mörder" inmitten eines sonst nur Handlungen beschreibenden Tatstrafrechts, zweitens durch die Abweichung von der durchgängigen Praxis des Gesetzgebers, keine Punktstrafe vorzuschreiben, sondern einen gerichtlich auszufüllenden Strafrahmen anzugeben und drittens durch die Ausnahmevorschrift (seit 1979), dass Mord - anders als alle anderen Straftaten - keiner Verjährung unterliegt.
Unterschiedliche gesetzliche, aber auch die verschiedenen sozialen Aussagen darüber, was als Mord anzusehen sei, können Aufschluss geben über divergierende Überzeugungen sozialer Schichten und Milieus ebenso wie über Tendenzen des Wertewandels. Die einen prangern Abtreibungen als "Massenmord an ungeborenen Kindern" an, die anderen bezeichnen das Treiben in Schlachthöfen als "Mord an Tieren" (vgl. dazu Hoerster 2007). Hinter derlei "Streit um Worte" steht meist ein handfester sozialer Konflikt darum, welcher Teil der Bevölkerung seine Wertorientierung im Gesetzestext festschreiben und damit allgemein verbindlich machen darf. Eine selbstbewusste Zivilgesellschaft kämpft zum Beispiel gegen den Obrigkeitsstaat und dessen Parteigänger mit Slogans wie "Soldaten sind Mörder" und kritisiert die Praxis der Hinrichtungen in Staaten, in denen es die Todesstrafe gibt, als "staatlichen Mord". In solchen gesellschaftlichen Morddefinitionen drückt sich nicht nur ein Unbehagen an dem aus, was vielen als pure Heuchelei, bzw. als Doppelmoral einer gespaltenen Tötungsethik erscheint. Sie sind auch die logische Konsequenz eines vergesellschafteten Staatsverständnisses, das diesen als Diener seiner Bürger sieht und ihm also am liebsten die Gesellschaftsmoral des Tötungsverbots oktroyieren würde. All diese Phänomene zeigen, dass es eine Differenz gibt zwischen den herrschenden Überzeugungen, wie sie im positiven Recht verankert sind, und den Werten und Normen gesellschaftlicher Gruppen, Bewegungen oder Subsysteme, aus denen historisch gesehen immer wieder auch rechtlicher Wandel entsteht. Insofern sensibilisieren diese Definitionen nicht nur für ethisch-ideologische Differenzen zwischen Herrschenden und Beherrschten, sondern sie gewähren auch einen Blick auf das, was kommen könnte. 




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