Mord (Version 2): Unterschied zwischen den Versionen

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== Mord als Sonderfall des Tötens ==
== Mord als Sonderfall des Tötens ==


Was den Mord angeht, so kann man sich als Grundregel merken: nur Menschen können morden. Erdbeben und Überschwemmungen können vieltausendfach pflanzliches, tierisches und menschliches Leben vernichten, aber nicht ermorden. Katzen bringen Vögel und Mäuse um, aber sie ermorden sie nicht. Jemanden ermorden zu können, ist sozusagen ein Monopol - ein negatives Privileg - einer einzigen, nämlich unserer eigenen Spezies: das Subjekt des Mordens ist der Mensch. Das heißt nicht, dass Menschen immer morden, wenn sie töten. Der Mensch tötet weitaus mehr, als dass er mordet: er tötet pflanzliches Leben schon beim Unkrautjäten im Balkonkasten und er tötet tierisches Leben schon bei der Bekämpfung von Mücken, Motten und Silberfischen. Dass er das zielgerichtet, planvoll und mit voller Absicht tut, macht aus dem Töten noch keinen Mord. Nicht alles, was lebt, kommt überhaupt als Objekt eines Mordes in Frage. Es muss schon "jemand" sein. Mit anderen Worten: jeder Mord erfordert mindestens einen Menschen als Subjekt und mindestens einen Menschen als Objekt.  
Was den Mord angeht, so kann man sich als Grundregel merken: nur Menschen können morden. Erdbeben und Überschwemmungen können vieltausendfach pflanzliches, tierisches und menschliches Leben vernichten, aber nicht ermorden. Katzen bringen Vögel und Mäuse um, aber sie ermorden sie nicht. Jemanden ermorden zu können, ist sozusagen ein Monopol - ein negatives Privileg - einer einzigen, nämlich unserer eigenen Spezies: das Subjekt des Mordens ist der Mensch. Das heißt nicht, dass Menschen immer morden, wenn sie töten. Der Mensch tötet weitaus mehr, als dass er mordet: er tötet pflanzliches Leben schon beim Unkrautjäten im Balkonkasten und er tötet tierisches Leben schon bei der Bekämpfung von Mücken, Motten und Silberfischen. Dass er das zielgerichtet, planvoll und mit voller Absicht tut, macht aus dem Töten noch keinen Mord. Das gilt auch für die Tötung von jährlich 25 Millionen Tieren für die Pelzindustrie, von mehreren Milliarden Hühnern und rund 360 Millionen Schweinen, Schafen, Ziegen und Rindern für die Fleischerzeugung allein in der Europäischen Union (European Commission 2008). Denn nicht alles, was lebt, kommt als Objekt eines Mordes in Frage. Es muss schon "jemand" sein. Mit anderen Worten: jeder Mord erfordert mindestens einen Menschen als Subjekt und mindestens einen Menschen als Objekt einer Tötung.


Es gibt (seltene) Ausnahmen von dieser Regel. Man denke an Mordprozesse gegen Tiere oder an den Diskurs über Folter und Mord an Menschenaffen (Fischer 2005, Cavalieri & Singer 1994). Diese Ausnahmen zeigen zweierlei. Erstens, dass der Mord als soziale Tatsache nicht durch das Mensch-Sein von Täter und Opfer definiert ist, sondern letztlich nur durch die außerordentliche Verwerflichkeit, die einer Tötung zugeschrieben wird; die Menschen-Eigenschaft von Täter (= schuldfähiges Subjekt) und Opfer (= verbotenes Objekt der Tötung) gilt normalerweise als Voraussetzung dafür, eine Tötung als besonders empörend zu qualifizieren, doch können ausnahmsweise eben auch Tier-Mensch- oder Mensch-Tier-Tötungen ebenso starke Reaktionen auslösen wie kaltblütige Tötungen unter Menschen. Zweitens belegt die zunehmende Plausibilität der Ansicht, dass auch Tiere - und insbesondere die sog. Menschenaffen - Opfer von Folter und Mord sein können, die weitere Selbstrelativierung des Menschen im historischen Prozess und die daraus folgende allgemeine "Tendenz zur Inklusion" (Hess 2011).
Es gibt (seltene) Ausnahmen von dieser Regel. Man denke an Mordprozesse gegen Tiere oder an den Diskurs über Folter und Mord an Menschenaffen (Fischer 2005, Cavalieri & Singer 1994). Diese Ausnahmen zeigen zweierlei. Erstens, dass der Mord als soziale Tatsache nicht durch das Mensch-Sein von Täter und Opfer definiert ist, sondern letztlich nur durch die außerordentliche Verwerflichkeit, die einer Tötung zugeschrieben wird; die Menschen-Eigenschaft von Täter (= schuldfähiges Subjekt) und Opfer (= verbotenes Objekt der Tötung) gilt normalerweise als Voraussetzung dafür, eine Tötung als besonders empörend zu qualifizieren, doch können ausnahmsweise eben auch Tier-Mensch- oder Mensch-Tier-Tötungen ebenso starke Reaktionen auslösen wie kaltblütige Tötungen unter Menschen. Zweitens belegt die zunehmende Plausibilität der Ansicht, dass auch Tiere - und insbesondere die sog. Menschenaffen - Opfer von Folter und Mord sein können, die weitere Selbstrelativierung des Menschen im historischen Prozess und die daraus folgende allgemeine "Tendenz zur Inklusion" (Hess 2011).
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Die Kategorie des Mordes sondert die außergewöhnlich verabscheuungswürdigen Tötungen von allen anderen Tötungen ab. Was diesseits und was jenseits dieser Grenze anzusiedeln ist, darüber gehen die Anschauungen zwar historisch und interkulturell auseinander. Einigkeit scheint aber darüber zu bestehen, dass eine solche Grenze notwendig und gerechtfertigt ist.
Die Kategorie des Mordes sondert die außergewöhnlich verabscheuungswürdigen Tötungen von allen anderen Tötungen ab. Was diesseits und was jenseits dieser Grenze anzusiedeln ist, darüber gehen die Anschauungen zwar historisch und interkulturell auseinander. Einigkeit scheint aber darüber zu bestehen, dass eine solche Grenze notwendig und gerechtfertigt ist.


Man tötet allein innerhalb der Europäischen Union jährlich 25 Millionen Tiere für die Pelzindustrie sowie mehrere Milliarden Hühner und weiteres Geflügel sowie rund 360 Millionen Schweine, Schafe, Ziegen und Rinder für die Fleischerzeugung (European Commission 2008). Darüber hinaus ist der Mensch aber auch biologisch gesehen durchaus "frei, seine Artgenossen zu töten; die instinktive Hemmung dagegen reicht bei ihm nicht aus" (v. Weizsäcker 1979: 85). Als soziale Tatsache ist das Töten - auch das von Artgenossen - in soziologischer Hinsicht normal (Durkheim 1968).


Die soziale Bewertung reicht von schärfster Verurteilung bis zu höchster Anerkennung. Das Grundmuster, dem die Verteilung von Ächtung und Achtung folgt, sieht folgendermaßen aus. Das Töten von Nicht-Menschen gilt grundsätzlich als moralisch neutral. Das Töten von Artgenossen wird grundsätzlich dann als Gefahr für die Allgemeinheit wahrgenommen und dementsprechend missbilligt, wenn die Handlung aus (egoistischen) Motiven zum privaten Vorteil erfolgt. Demgegenüber wird das (altruistische) Töten zur Abwehr von Bedrohungen des Gemeinwesens innerhalb des betreffenden Gemeinwesens grundsätzlich als notwendig und gerechtfertigt, wenn nicht lobenswert und vorbildlich bewertet. Tötungen können den Status einer Person also beschädigen (Bestrafung, Verachtung), sie können ihn aber auch unberührt lassen (Indifferenz bei Notwehr oder bei der Tötung von Tieren) oder erhöhen (Orden, Ehrenzeichen, Denkmäler).
Die soziale Bewertung reicht von schärfster Verurteilung bis zu höchster Anerkennung. Das Grundmuster, dem die Verteilung von Ächtung und Achtung folgt, sieht folgendermaßen aus. Das Töten von Nicht-Menschen gilt grundsätzlich als moralisch neutral. Das Töten von Artgenossen wird grundsätzlich dann als Gefahr für die Allgemeinheit wahrgenommen und dementsprechend missbilligt, wenn die Handlung aus (egoistischen) Motiven zum privaten Vorteil erfolgt. Demgegenüber wird das (altruistische) Töten zur Abwehr von Bedrohungen des Gemeinwesens innerhalb des betreffenden Gemeinwesens grundsätzlich als notwendig und gerechtfertigt, wenn nicht lobenswert und vorbildlich bewertet. Tötungen können den Status einer Person also beschädigen (Bestrafung, Verachtung), sie können ihn aber auch unberührt lassen (Indifferenz bei Notwehr oder bei der Tötung von Tieren) oder erhöhen (Orden, Ehrenzeichen, Denkmäler).
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