Meinungsfreiheit: Unterschied zwischen den Versionen

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=== Ruanda ===
=== Afrika ===
 
====Ruanda ====


Seit der Beendigung des Völkermords (1994) herrscht ein autoritäres Regime in Ruanda. Die Regierung selbst entscheidet übe die Zulassung von politischen Parteien, so dass es keine wirkliche Opposition gibt (eine Oppositionspartei der Exilruander - die "Vereinten Demokratischen Kräfte", FDU, existiert in Brüssel). Wirtschaftlich hat sich Ruanda in den Jahren 1994-2008 unter Präsident Kagame gut entwickelt, "Meinungsfreiheit aber gibt es nicht" (FAZ 19.09.08: 6; "Kagames Partei siegt in Ruanda").
Seit der Beendigung des Völkermords (1994) herrscht ein autoritäres Regime in Ruanda. Die Regierung selbst entscheidet übe die Zulassung von politischen Parteien, so dass es keine wirkliche Opposition gibt (eine Oppositionspartei der Exilruander - die "Vereinten Demokratischen Kräfte", FDU, existiert in Brüssel). Wirtschaftlich hat sich Ruanda in den Jahren 1994-2008 unter Präsident Kagame gut entwickelt, "Meinungsfreiheit aber gibt es nicht" (FAZ 19.09.08: 6; "Kagames Partei siegt in Ruanda").
====Burundi ====
Bevor Burundis Präsident Pierre Nkurunziza seine verfassungswidrigen Pläne öffentlich machte, ein drittes Mal für das Präsidentenamt zu kandidieren, erließ er Ende April 2015 erst einmal ein Sendeverbot für den wichtigsten unabhängigen Radiosender Radio Publique Africaine. Als es dann Mitte Mai 2015 zu einem Putschversuch gegen ihn kam, nutzten die Putschisten diesen Sender, um seine Absetzung zu verkünden. Nach dem Scheitern des Putsches wurde der Sender von der Polizei besetzt und schwer beschädigt.
Burundi ist kein Einzelfall. Die Meinungsfreiheit in Afrika ist nach einer Periode bescheidener Verbesserungen wieder deutlicher unter Druck, wobei globale Tendenzen eine wichtige Rolle spielen.
Quelle: [http://www.giga-hamburg.de/de/publication/meinungsfreiheit-in-afrika-unter-druck Meinungsfreiheit in Afrika unter Druck, GIGA 2015]


=== Deutschland ===
=== Deutschland ===
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:"Geht es um den Holocaust, ist die Meinungsfreiheit eingeschränkt, denn das Bundesverfassungsgerichts sieht die Bundesrepublik als Gegenentwurf zum NS-Staat. Wer dies leugnet, gefährdet den öffentlichen Frieden. Darf man wirklich über alles Witze machen? Muss der Bürger im freiheitlichen Staat alles ertragen, darf er alles sagen? Nein, auch in Deutschland nicht. Abgesehen vom kaum angewandten Blasphemie-Verbot und persönlichen Ehrverletzungen gibt es auch hierzulande Sonderrecht, das die Meinungsfreiheit einschränkt. Wer den Nationalsozialismus und seine Verbrechen billigt, der kann sich strafbar machen – und zwar mit höchstrichterlicher Billigung. Das Bundesverfassungsgericht sieht die Bundesrepublik Deutschland als „Gegenentwurf“ des „ sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrechts und des Schreckens, die die nationalsozialistische Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat“. Das ist historisch und erst recht verständlich – klar ist aber auch, dass sich der Erste Senat mit dieser Entscheidung sehr schwer getan hat. Gilt doch sonst in Karlsruhe eher die Maxime: Im Zweifel für die Freiheit. Und so hebt der Beschluss vom November 2009 auch an, in dem es um die – immer wiederkehrenden – Demonstrationen in Wunsiedel anlässlich des Todestages des einstigen Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß ging: Meinungen, so heißt es, lassen sich nicht als wahr oder unwahr erweisen. Sie genießen den Schutz des Grundrechts, „ohne dass es darauf ankommt, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird“. Die Bürger seien „rechtlich auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen persönlich zu teilen.“ Das Grundgesetz baue zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, „erzwingt die Werteloyalität aber nicht“. Das ist bemerkenswert mit Blick nicht nur auf den politischen Extremismus, sondern auch auf die Themen Einwanderung und Islam – sowie die Demonstrationen dagegen. Das Grundgesetz schützt nämlich auch Meinungen, „die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung zielen, unabhängig davon, ob und wie weit sie im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung durchsetzbar sind.“ Das Grundgesetz vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung „als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien.“ Dementsprechend fällt, auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, sogar die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts nicht von vornherein aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit heraus. Soweit vertraut das Verfassungsgericht ürgerschaftlichem Engagement und staatlicher Aufklärung. Schützenswert ist der öffentliche Frieden. Eine Ausnahme vom Grundsatz, dass es kein Sonderrecht gegen bestimmte Meinungen geben darf, machen die Karlsruher Richter dann aber doch: und zwar für Vorschriften, „die auf die Verhinderung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zwischen den Jahren 1933 und 1945 zielen.“ Das menschenverachtende Regime dieser Zeit, habe für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine „gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung, die einzigartig ist und allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht eingefangen werden kann.“ Die Befürwortung der NS-Herrschaft sei in Deutschland ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens mit friedensbedrohendem Potential. Insofern sei sie mit anderen Meinungsäußerungen nicht vergleichbar „und kann nicht zuletzt auch im Ausland tiefgreifende Beunruhigung auslösen“. Die Karlsruher Richter des Ersten Senats heben gleichwohl hervor, dass der Schutz vor einer Beeinträchtigung des „allgemeinen Friedensgefühls“ oder der „Vergiftung des geistigen Klimas“ ebenso wenig ein Grund für einen Eingriff in die Meinungsfreiheit sein können wie der Schutz der Bevölkerung vor einer Kränkung ihres Rechtsbewusstseins durch totalitäre Ideologien oder eine offenkundig falsche Interpretation der Geschichte. Gleichwohl könne, wenn die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft gutgeheißen werde, grundsätzlich das Vorliegen einer Störung des öffentlichen Friedens vermutet – und eine Versammlung untersagt werden. Vor allem, wenn sie an einem so sensiblen Tag stattfinden soll wie dem der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, der sich an diesem Dienstag zum siebzigsten mal jährt. Der 27. Januar wurde durch den früheren Bundespräsidenten Roman Herzog zum offiziellen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus bestimmt. Das Bundesverfassungsgericht sieht die öffentliche Ordnung betroffen, wenn an einem solchen Tag Rechtsextreme aufmarschieren wollen. Wenn von der Art und Weise der Versammlung Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigen, kann eine Demonstration verboten werden. - Auch freiheitliche Staaten haben Tabus. - Auch die Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust ist strafbar. Auch hier kommt es aber ebenfalls darauf an, ob der öffentliche Friede gestört wird. Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer den unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Völkermord in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost. Das kann durchaus auch mit Haft ohne Bewährung bestraft werden – Österreich ist die Bestrafung jeder Betätigung im Sinne des Nationalsozialismus noch strenger. Das alles zeigt: Nicht nur Religionen haben etwas, das ihnen heilig ist. Tabus, an die nicht gerührt werden darf, pflegen auch freiheitliche Staaten – und übrigens auch Künstler und Satiriker. Wenn es nämlich nach ihrem Empfinden um die eigene Identität, die Existenz geht, ist auch Sonderrecht erlaubt. Das sollte man aber benennen in einer Zeit, in der gern Mut gefordert wird – und nicht so tun, als gelte die Meinungsfreiheit absolut."
:"Geht es um den Holocaust, ist die Meinungsfreiheit eingeschränkt, denn das Bundesverfassungsgerichts sieht die Bundesrepublik als Gegenentwurf zum NS-Staat. Wer dies leugnet, gefährdet den öffentlichen Frieden. Darf man wirklich über alles Witze machen? Muss der Bürger im freiheitlichen Staat alles ertragen, darf er alles sagen? Nein, auch in Deutschland nicht. Abgesehen vom kaum angewandten Blasphemie-Verbot und persönlichen Ehrverletzungen gibt es auch hierzulande Sonderrecht, das die Meinungsfreiheit einschränkt. Wer den Nationalsozialismus und seine Verbrechen billigt, der kann sich strafbar machen – und zwar mit höchstrichterlicher Billigung. Das Bundesverfassungsgericht sieht die Bundesrepublik Deutschland als „Gegenentwurf“ des „ sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrechts und des Schreckens, die die nationalsozialistische Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat“. Das ist historisch und erst recht verständlich – klar ist aber auch, dass sich der Erste Senat mit dieser Entscheidung sehr schwer getan hat. Gilt doch sonst in Karlsruhe eher die Maxime: Im Zweifel für die Freiheit. Und so hebt der Beschluss vom November 2009 auch an, in dem es um die – immer wiederkehrenden – Demonstrationen in Wunsiedel anlässlich des Todestages des einstigen Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß ging: Meinungen, so heißt es, lassen sich nicht als wahr oder unwahr erweisen. Sie genießen den Schutz des Grundrechts, „ohne dass es darauf ankommt, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird“. Die Bürger seien „rechtlich auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen persönlich zu teilen.“ Das Grundgesetz baue zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, „erzwingt die Werteloyalität aber nicht“. Das ist bemerkenswert mit Blick nicht nur auf den politischen Extremismus, sondern auch auf die Themen Einwanderung und Islam – sowie die Demonstrationen dagegen. Das Grundgesetz schützt nämlich auch Meinungen, „die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung zielen, unabhängig davon, ob und wie weit sie im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung durchsetzbar sind.“ Das Grundgesetz vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung „als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien.“ Dementsprechend fällt, auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, sogar die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts nicht von vornherein aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit heraus. Soweit vertraut das Verfassungsgericht ürgerschaftlichem Engagement und staatlicher Aufklärung. Schützenswert ist der öffentliche Frieden. Eine Ausnahme vom Grundsatz, dass es kein Sonderrecht gegen bestimmte Meinungen geben darf, machen die Karlsruher Richter dann aber doch: und zwar für Vorschriften, „die auf die Verhinderung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zwischen den Jahren 1933 und 1945 zielen.“ Das menschenverachtende Regime dieser Zeit, habe für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine „gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung, die einzigartig ist und allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht eingefangen werden kann.“ Die Befürwortung der NS-Herrschaft sei in Deutschland ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens mit friedensbedrohendem Potential. Insofern sei sie mit anderen Meinungsäußerungen nicht vergleichbar „und kann nicht zuletzt auch im Ausland tiefgreifende Beunruhigung auslösen“. Die Karlsruher Richter des Ersten Senats heben gleichwohl hervor, dass der Schutz vor einer Beeinträchtigung des „allgemeinen Friedensgefühls“ oder der „Vergiftung des geistigen Klimas“ ebenso wenig ein Grund für einen Eingriff in die Meinungsfreiheit sein können wie der Schutz der Bevölkerung vor einer Kränkung ihres Rechtsbewusstseins durch totalitäre Ideologien oder eine offenkundig falsche Interpretation der Geschichte. Gleichwohl könne, wenn die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft gutgeheißen werde, grundsätzlich das Vorliegen einer Störung des öffentlichen Friedens vermutet – und eine Versammlung untersagt werden. Vor allem, wenn sie an einem so sensiblen Tag stattfinden soll wie dem der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, der sich an diesem Dienstag zum siebzigsten mal jährt. Der 27. Januar wurde durch den früheren Bundespräsidenten Roman Herzog zum offiziellen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus bestimmt. Das Bundesverfassungsgericht sieht die öffentliche Ordnung betroffen, wenn an einem solchen Tag Rechtsextreme aufmarschieren wollen. Wenn von der Art und Weise der Versammlung Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigen, kann eine Demonstration verboten werden. - Auch freiheitliche Staaten haben Tabus. - Auch die Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust ist strafbar. Auch hier kommt es aber ebenfalls darauf an, ob der öffentliche Friede gestört wird. Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer den unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Völkermord in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost. Das kann durchaus auch mit Haft ohne Bewährung bestraft werden – Österreich ist die Bestrafung jeder Betätigung im Sinne des Nationalsozialismus noch strenger. Das alles zeigt: Nicht nur Religionen haben etwas, das ihnen heilig ist. Tabus, an die nicht gerührt werden darf, pflegen auch freiheitliche Staaten – und übrigens auch Künstler und Satiriker. Wenn es nämlich nach ihrem Empfinden um die eigene Identität, die Existenz geht, ist auch Sonderrecht erlaubt. Das sollte man aber benennen in einer Zeit, in der gern Mut gefordert wird – und nicht so tun, als gelte die Meinungsfreiheit absolut."
Reinhard Müller, FAZ 23.01.2016: Die Meinung ist frei:
Das wird man ja wohl noch sagen dürfen! Darf man auch. Wer meint, in Deutschland herrsche eine Meinungsdiktatur, der hat nicht nur die deutsche Vergangenheit verdrängt – ein Blick in andere westliche Demokratien genügt, um zu erkennen, wie viel die Freiheit des Wortes hierzulande gilt. Selbst in einem Nato-Staat landen Menschen wegen unliebsamer Meinungsäußerungen hinter Gittern; beim westlichen Waffenbruder Saudi-Arabien kann ein falsches Wort ein Fall für den Henker sein. Oder es regiert der Konformismus: Eine Kurznachricht kann einen Sturm entfachen – und eine berufliche Existenz vernichten.
Reinhard Müller Autor: Reinhard Müller, In der politischen Redaktion verantwortlich für „Zeitgeschehen“ und für „Staat und Recht“. Folgen:
Das ist erstaunlich, denn eigentlich sind die Voraussetzungen für die Meinungsfreiheit auf der ganzen Welt bestens, und zwar wegen des weltweiten Netzes. Das Internet stellt einen enormen Freiheitsgewinn dar: Jeder kann an fast jede Information gelangen und diese weiterverbreiten. Und jeder kann seine Ansichten auch grundsätzlich ungestört in alle Welt senden. Daraus folgern manche schon, dass jeder sein eigener Journalist sein könne. Die Pressefreiheit wird damit zu einem Grundrecht für jedermann.
Alles ist möglich. Folge und Preis dieser Freiheit ist die Enthemmung im Netz. Es ist aber keine Verletzung der Meinungsfreiheit oder gar eine Zensur, wenn gegen Hetze und Aufrufe zur Gewalt im Internet vorgegangen wird. Niemand muss dulden, dass unter seiner Marke Beleidigungen ausgestoßen werden. Wenn also Verlage die Kommentarfunktion zu bestimmten Themen sperren, dann auch, um sich nicht selbst strafbar zu machen. Kein Hersteller gibt seine Produkte gern zum öffentlichen Beschmieren frei.
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Die Meinungsfreiheit ist hier nicht in Gefahr, da es nicht der Staat ist, der Äußerungen beschränkt. Der Staat selbst ist ziemlich großzügig. Nicht ohne Grund gilt die Meinungsfreiheit als konstitutiv für eine freie Gesellschaft. Meinungen sind geschützt, auch wenn sie als dumm und gefährlich eingeschätzt werden. Wahr und falsch – diese Begriffe können auf Meinungen (anders als auf Tatsachen) nicht zutreffen. Die Wahrheit hat in einer freiheitlichen Demokratie eben niemand gepachtet; das ist zu Recht ein Hauptvorwurf gegen die neue Regierung in Polen.
Der Nationalsozialismus ist ein Sonderfall
Niemand muss das Grundgesetz und die ihm zugrundeliegenden Werte schätzen oder gar lieben. Wie sollte man das auch durchsetzen? Die Verfassung schützt sogar Meinungen, „die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung zielen, unabhängig davon, ob und wie weit sie im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung durchsetzbar sind“. So sagt es das Bundesverfassungsgericht, und es wird interessant sein zu sehen, ob und wie es diese liberale Rechtsprechung im Angesicht der gegenwärtigen Stimmung aufrechterhält. Es mag naiv klingen, doch bleibt es grundsätzlich richtig, wie Karlsruhe in der Kraft der freien Auseinandersetzung die „wirksamste Waffe“ gegen die Verbreitung menschenverachtender Ideologien zu sehen. Umso wichtiger ist das konsequente Vorgehen gegen jede Form von Hass und Gewalt.
Sogar die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts fällt nicht von vornherein aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit heraus, obwohl das Verfassungsgericht hier einen historischen Sonderfall sieht, den es besonders behandelt: Die Befürwortung der NS-Herrschaft sei ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens mit den Frieden bedrohendem Potential. Freilich können mittlerweile auch andere Herrschaftsformen das Gemeinwesen bedrohen, die ebenfalls das Ausland tief beunruhigen; auch das ist ein Karlsruher Maßstab. Doch bleibt es dabei, dass auch eine „Vergiftung des geistigen Klimas“ kein Grund für einen Eingriff in die Meinungsfreiheit ist. Diese Weite der Meinungsfreiheit ist bei weitem noch nicht in das Bewusstsein jedes Bürgermeisters, Polizeipräsidenten und Richters eingedrungen. Aber sie gilt. Und das ist womöglich eine der größten Zumutungen, die der freiheitliche Rechtsstaat seinen Bürgern – und jedem Neuankömmling – aufbürdet.
Den Mund aufmachen
Woher kommt es dann, dass viele Bürger gleichwohl meinen, sie dürften nicht sagen, was sie wollten? Weil auch dieser Eindruck vielleicht stimmt? Hier geht es nicht um staatlichen Zwang, sondern um ein Klima der Angst. Wenn sogar Wissenschaftler, deren Freiheit ebenfalls besonders geschützt ist, sich nicht mehr trauen, bestimmte Anträge zu stellen, zu bestimmten Fragen zu forschen oder auch nur ironische Anmerkungen zu machen, und zwar aus Angst vor medialer Hinrichtung beziehungsweise beruflichen Konsequenzen, dann herrscht eine Einschüchterung, wie sie schon an amerikanischen und britischen Universitäten zu beobachten ist. Dort hat sich die gutgemeinte und ursprünglich sinnvolle Antidiskriminierungspolitik in das Gegenteil verkehrt.
Und die Lösung? Einfach den Mund aufmachen. Selbstauferlegte Sprechverbote kann man nur selbst beheben. Jede Unterdrückung der Meinungsfreiheit ist bloßzustellen. Konformismus und Ängstlichkeit gerade bei Medienleuten und Wissenschaftlern sind Zeichen der Krise einer freien Gesellschaft.




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