Meinungsfreiheit

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Die Meinungsfreiheit verbietet es (sogar) dem demokratischen Gesetzgeber, die unbehinderte Äußerung der eigenen Ansichten über alles und jedes - und insbesondere über politische und gesellschaftliche Fragen - einzuschränken, und zwar auch (und gerade) dann, wenn die Meinung von der großen Mehrheit der Bevölkerung als unstatthaft, unpassend oder verabscheuungswürdig eingeschätzt wird.

Mit der Meinungsfreiheit unvereinbar ist die Zensur von Büchern oder Zeitschriften, von Internetbeiträgen oder anderen Meinungsäußerungen in Schrift, Wort oder Bild. Mit der Meinungsfreiheit unvereinbar sind auch Einschränkungen der Informationsfreiheit (Meinungsbildung ist eine Voraussetzung der Meinungsäußerung) und der Demonstrationsfreiheit (als kollektiver Form der öffentlichen Meinungsäußerung). Wenn in einer Gesellschaft nicht alle Mitglieder ihre Meinung frei bilden und öffentlich äußern dürfen, dann ist die Gesellschaft keine freie Gesellschaft. Und kein Individuum ist frei, wenn es seine Meinung nicht frei bilden und äußern darf.

Meinungsfreiheit ist in den Menschenrechtskonventionen als Menschenrecht anerkannt und in Deutschland auch als Grundrecht im Grundgesetz verankert. Im einzelnen gibt es aber weltweit und in jeder Gesellschaft unterschiedliche Ansichten über den Inhalt und die Grenzen der Meinungsfreiheit. In vielen Staaten wird insbesondere keine Kritik an der Regierung oder an den gesellschaftlichen Verhältnissen geduldet. Kritiker (Dissidenten) werden häufig strafrechtlich verfolgt (prisoners of conscience).

Kriminologisch relevant ist die Meinungsfreiheit wegen der Straftaten, die im Kontext der Äußerung oder Unterdrückung von Meinungen begangen werden. Solche Straftaten gibt es in allen Gesellschaften, weil es überall Konflikte um den Inhalt und die Grenzen der Meinungsfreiheit gibt - und weil diese Konflikte typischerweise auch von Konflikten um die Grenze zwischen dem strafrechtlich Verbotenen und dem strafrechtlich Erlaubten begleitet werden.

Umstritten sind typischerweise die Grenzen zwischen der Meinungsfreiheit auf der einen Seite und der persönlichen Ehre (Beleidigung), bzw. der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (Androhung von Straftaten), bzw. der Achtung vor den Symbolen und der Sicherheit des Staates (Staatsschutzdelikte) auf der anderen Seite.

Konflikte um die Grenzen der Meinungsfreiheit sind oft Ausdruck von Konflikten um das Selbstverständnis eines Staates und um den Status gesellschaftlicher Gruppen. Solche Konflikte erregen oft große öffentliche Aufmerksamkeit, bzw. Skandale. Konflikte um die Grenzen der Meinungsfreiheit kennen die Rollen der autoritären Regierung, des Zensors, des anstößigen Tabuverletzers, des Psychopathen, des Geächteten und in seiner bürgerlichen Existenz Vernichteten, aber auch des Helden mit Zivilcourage und des für seine Meinung inhaftierten oder getöteten Märtyrers.

Geschichte

"Wenn nicht Meinung gegen Meinung offen gesagt wird, lässt isch die bessere nicht herausfinden" (Herodot, 485-425 v. Chr.)


Einschränkungen der Meinungsfreiheit

Amerika

In den USA verbietet der 1791 verabschiedete Zusatzartikel (Amendment) zur Verfassung dem Kongress, Gesetze zu verabschieden, die die Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit oder das Petitionsrecht einschränken. Außerdem verbietet der Artikel die Einführung einer Staatsreligion und die Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Religionen durch Bundesgesetz. In einer knappen Entscheidung hob der Supreme Court 1969 die Bestrafung einer Person auf, die aus Protest gegen den Vietnam-Krieg die US-Flagge verbrannte. Einer der Richter erklärte damals: „Wenn es ein Grundprinzip des ersten Verfassungszusatzes gibt, ist dies das Prinzip, das der Regierung verbietet, den Ausdruck einer Idee nur aufgrund der Tatsache, dass die Gesellschaft diese Idee für beleidigend und widerwärtig hält, zu untersagen.“


Andreas Ross, Meinungsfreiheit in Amerika, 16.01.15, FAZ:

"Wenige Stunden nach dem Massaker bei „Charlie Hebdo“ löschte die amerikanische Bildagentur AP Images mehrere Fotos. Zunächst traf es Karikaturen des Satireblatts, kurz danach verschwand die 25 Jahre alte Abbildung des Kunstwerks „Piss Christ“ aus dem Angebot. Der amerikanische Fotograf Andres Serrano hatte 1987 ein Kruzifix in ein Glas Urin getaucht und ein Hochglanzfoto davon angefertigt; der Skandal über die von Christen als Blasphemie beschimpfte Arbeit flackert zuverlässig bei jeder Ausstellung auf. Nach dem Anschlag von Paris setzte die genossenschaftliche AP ihre Standards bei der kommerziellen Tochter durch. „Die AP versucht alles, um nicht ein Förderband für Bilder und Handlungen zu werden, die dazu dienen, Menschen auf Grundlage ihrer Religion, Rasse oder sexuellen Orientierung lächerlich zu machen oder zu provozieren“, teilte die Agentur mit. Dass man Islam, Christen- und Judentum gleich behandle, wurde einem kritischen Blogger durch die Entfernung des „Piss Christ“ bewiesen. Auch in dieser Woche rangen Amerikas Leitmedien mit „Charlies“ Provokationen. CNN filmte in der Druckerei aus bizarren Blickwinkeln, damit der (weinende) Prophet Mohammed auf dem neuen Heft nicht zu erkennen war. Eine Reporterin der „New York Times“ hatte am Sonntag miterleben dürfen, wie die überlebenden Redakteure an der Ausgabe feilten und sich auf den Titel verständigten. Ihr Bericht musste aber ohne ein Bild desselben auskommen. Das galt auch für die Nachricht über die Rekordauflage am folgenden Tag. Dafür wurde erwähnt, dass in der Mohammed-Zeichnung zweifach männliche Genitalien angedeutet seien. Der Redaktionsleiter der „Washington Post“ sah in dem aktuellen Hefttitel aus Paris dagegen nichts Beleidigendes und beschloss, anders als vorige Woche, einen Abdruck. Juristischen Rat mussten die Redakteure nicht einholen. Die Meinungsfreiheit kennt in den Vereinigten Staaten kaum Grenzen. „Hier muss man schon in ein volles Theater stürmen und fälschlich ,Feuer!‘ rufen, um den Boden des Erlaubten zu verlassen“, sagt der Verfassungsjurist Eric Rassbach. Er ist froh darüber – und sieht darin keinen Widerspruch zu seiner Arbeit als Anwalt religiöser Gruppen und Personen, die er beim „Becket-Fonds für Religionsfreiheit“ vertritt. Dessen Anwälte vertraten jüngst erfolgreich die von Baptisten gegründete Bastelladenkette Hobby Lobby, die sich weigerte, dem neuen Gesetz zu folgen und ihren Mitarbeiterinnen über die Krankenversicherung die „Pille danach“ zu bezahlen. Derzeit vertritt der „Becket Fund“ vor dem Supreme Court einen muslimischen Häftling, dem der Staat Arkansas verboten hat, sich einen kurzen Bart stehen zu lassen. „Meinungs- und Religionsfreiheit stehen nicht im Widerspruch“, sagt Rassbach dieser Zeitung. Man dürfe den Staat nicht durch Gesetze oder internationale Abkommen gegen die Verunglimpfung von Religionen zum Schiedsrichter machen: „Des einen Glaube ist des anderen Blasphemie.“ Es gebe in den Vereinigten Staaten keine nennenswerte Bewegung, die sich für entsprechende Gesetze stark machte. Es wäre auch aussichtslos. Das Oberste Gericht pflegt einen weiten Begriff der „freien Rede“. Es hat sich sogar die Auffassung zu eigen gemacht, dass das im ersten Verfassungszusatz verankerte Grundrecht es dem Kongress weitgehend verbietet, Bürgern oder Firmen Grenzen für politische Spenden zu setzen. Abtreibungskliniken müssen damit leben, dass an ihrer Schwelle für das „Recht auf Leben“ demonstriert wird. Die Mitglieder der kleinen Westboro Baptist Church aus Kansas durften vor Friedhöfen während der Beerdigungen lauthals den Tod von Soldaten im Irak bejubeln (weil Gott damit die Sünde der Homosexualität räche). Die Richter hinderten 2010 auch nicht den Prediger Terry Jones aus Florida daran, den Koran zu verbrennen. Die AP hatte schon entschieden, keine Bilder davon zu verbreiten, als Jones die Aktion absagte. Die öffentliche Ordnung, erklärt Rassbach, habe als Staatsaufgabe in Amerika nie wie in den vom Code Napoléon geprägten Ländern Europas im Mittelpunkt gestanden. Man dürfe nicht Provokationen mit Aufwiegelung verwechseln. Nur wenn jemand die Absicht verfolge, den Angehörigen einer Religion Schaden zuzufügen, sei die Justiz gefragt – ein besonderes Recht auf Schutz vor Beleidigung hätten Gläubige nicht. Selbst die Nationalsozialistische Partei Amerikas bekam vom Obersten Gericht 1977 das Recht zugebilligt, mit Hakenkreuz-Fahnen durch Skokie in Illinois zu marschieren, wo viele Holocaust-Überlebende wohnten. Die in Europa herrschenden Verbote von Symbolen totalitärer Herrschaft gelten in Amerika eher als Zeichen von Unreife. Dass zugleich die „political correctness“ gedeiht, Schmähworte verpönt sind und viele Medien ihre Rolle als Schleusenwärter des Anstands besonders ernst nehmen, könnte gerade daran liegen: Solange der Gesetzgeber nicht zwischen schützenswerter und nicht schützenswerter Rede unterscheidet, müssen die Bürger selbst Grenzen ziehen. In einem Land, das einst wegen ihres Glaubens in Europa verfolgte Siedler als Hort der Vielfalt ansahen, wissen viele Leser und Zuschauer Zurückhaltung der Medien zu schätzen. Selbst Katholiken, von denen es am meisten gibt, sind nur eine Minderheit, die lange mit Vorurteilen kämpfte. Auch die Überwindung der Rassentrennung führte der Einwanderungsnation die Folgen pauschaler Verunglimpfungen vor Augen. „Wir wissen als Gesellschaft, dass wir bei unseren Interaktionen eine gewisse Vorsicht walten lassen müssen“, resümiert Rassbach. Die Agentur AP sagt deshalb, sie wolle keinen Überbietungswettbewerb der Provokateure anheizen. Zensur sei das schon deshalb nicht, weil die Bürger heute nicht mehr von den Informationen weniger Agenturen abhingen. Tatsächlich bezeugt die alltägliche Konkurrenz um die derbste Obama-Kritik oder das schallendste Tea-Party-Bashing in Internet, Radio und Fernsehen, dass noch so bedächtige Traditionsmedien den aggressiven, von Lügen durchsetzten Meinungsstreit nicht unterdrücken könnten. Margaret Sullivan, die bei der „New York Times“ als „public editor“ für den Dialog mit Lesern zuständig ist, hat nach eigenem Bekunden nie so viele Zuschriften erhalten wie nach der Weigerung der Zeitung vorige Woche, „Charlie Hebdo“-Karikaturen nachzudrucken. Sie verteidigte den Beschluss, auch aus Sicherheitsgründen. Am Mittwoch aber ging sie auf Distanz. Das neue Titelblatt sei ein wichtiger Teil einer großen Nachrichtengeschichte. Man hätte die Leser, die es sehen wollten, nicht der Konkurrenz überlassen sollen."

China

In China wird das Internet in großem Maßstab kontrolliert. Es gibt eine automatische Überwachungstechnik namens "Great Chinese Firewall". Unerwünschte Internetseiten (von Menschenrechtsorganisationen, Exiltibetern, ausländischen Medien oder der Falun-Gong-Gemeinde) werden immer wieder geblockt:

"Auch westliche Suchmaschinen müssen in ihrem chinesischen Angebot bestimmte Seiten unterdrücken, um den Marktzugang nicht zu verlieren. Angeblich sind mittlerweile etwa 30 000 Internet-Polizisten im Einsatz, die Blogs und Diskussionsforen überwachen, unliebsame Beiträge sperren, aber auch selbst parteifreundliche Kommentare schreiben. Zudem wird der gesamte E-Mail-Verkehr elektronisch gefiltert. Findet die Überwachungssoftware verdächtige Begriffe, wird ein Zensor eingeschaltet. Ihm bleibt ein gewisser Spielraum bei der Beurteilung. Manche Mails verschwinden spurlos; andere bleiben ganz und gar nicht folgenlos. Denn Internetunternehmen geben den Behörden auch sensible Informationen heraus. Mehrfach wurden auf diese Weise identizifizierte Dissidenten zu hohen Haftstrafen verurteilt" (FAZ 01.08.08: 4).

Schon wer in China Demonstrationen auch nur anmelden möchte, riskiert Lagerhaft. Im August 2008 wurden die 79 Jahre alte Wu Dia-nyuan und die 77 Jahre alte Wang Xiu-ying in Peking wegen 'Störung der öffentlichen Ordnung' ohne Gerichtsverhandlung zu einem Jahr Administrativhaft in einem Lager verurteilt: "Die beiden Frauen wollten in einer der eigens für die Zeit der Olympischen Spiele eingerichteten 'Demonstrations-Zonen' in Pekinger Parks dagegen protestieren, dass sie ohne Entschädigung aus ihren Häusern vertrieben wurden, als die Stadt diese zum Abriss freigab. Sie hatten fünf Anträge eingereicht (...) Die chinesischen Behörden haben bisher keine Demonstration für die Zeit der Spiele genehmigt, nachdem sie eigens für diesen Zweck drei Parks bestimmt hatten. Es wurden mindestens zwei Chinesen festgenommen, die eine Demonstration beantragt hatten. Insgesamt sind bisher bei der Polizei 77 Anträge auf Demonstrationen in den Parks eingegangen, 74 Antragsteller hätten die Anträge aber selbst zurückgezogen, meldeten die Behörden" (FAZ 21.08.08; "Lagerhaft für zwei Rentnerinnen").


Afrika

Ruanda

Seit der Beendigung des Völkermords (1994) herrscht ein autoritäres Regime in Ruanda. Die Regierung selbst entscheidet übe die Zulassung von politischen Parteien, so dass es keine wirkliche Opposition gibt (eine Oppositionspartei der Exilruander - die "Vereinten Demokratischen Kräfte", FDU, existiert in Brüssel). Wirtschaftlich hat sich Ruanda in den Jahren 1994-2008 unter Präsident Kagame gut entwickelt, "Meinungsfreiheit aber gibt es nicht" (FAZ 19.09.08: 6; "Kagames Partei siegt in Ruanda").

Burundi

Bevor Burundis Präsident Pierre Nkurunziza seine verfassungswidrigen Pläne öffentlich machte, ein drittes Mal für das Präsidentenamt zu kandidieren, erließ er Ende April 2015 erst einmal ein Sendeverbot für den wichtigsten unabhängigen Radiosender Radio Publique Africaine. Als es dann Mitte Mai 2015 zu einem Putschversuch gegen ihn kam, nutzten die Putschisten diesen Sender, um seine Absetzung zu verkünden. Nach dem Scheitern des Putsches wurde der Sender von der Polizei besetzt und schwer beschädigt.

Burundi ist kein Einzelfall. Die Meinungsfreiheit in Afrika ist nach einer Periode bescheidener Verbesserungen wieder deutlicher unter Druck, wobei globale Tendenzen eine wichtige Rolle spielen.

Quelle: Meinungsfreiheit in Afrika unter Druck, GIGA 2015

Deutschland

In Deutschland entscheidet die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, welche Seiten Suchmaschinenbetreiber unterdrücken müssen. Insofern ermöglicht das Internet in Deutschland keine unbegrenzte Meinungs- und Informationsfreiheit. In der Praxis soll es sich bei den unterdrückten Seiten meist um politisch extreme oder um (kinder-) pornographische Seiten handeln.

Von der Meinungsfreiheit gedeckt ist in Deutschland die Bezeichnung "rechtsradikal" (FAZ 14.11.2012: 4). Das Bundesverfassungsgericht sieht darin eine Meinungsäußerung. "Ein Rechtsanwalt hatte auf seiner Kanzleihomepage ... etwa über die 'khasarischen, also nicht-semitischen Juden' geschrieben, die das Wirtschaftsgeschehen in der Welt bestimmten, und über den 'transitorischen Charakter' des Grundgesetzes,das lediglich ein 'ordnungsrechtliches Instrumentarium der Siegermächte' sei." Ein anderer Anwalt hatte geschrieben, der Anwalt müsse es sich gefallen lassen, rechtsradikal genannt zu werden. Landgericht und Oberlandesgericht hatten das als Schmähkritik aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit herausfallen lassen, das Verfassungsgericht hob die Urteile auf und erklärte, es handele sich um Meinungsäußerungen in Form eines Werturteils, "denn es ist nicht durch eine Beweiserhebung festzustellen, wann ein Beitrag 'rechtsextrem' ist, wann sich ein Denken vom 'klassisch rechtsradikalen verschwörungstheoretischen Weltbild' unterscheidet und wann man 'es sich gefallen lassen mussen, rechtsradikal genannt zu werden.' Bedeutungund Tragweite der Meinungsfreiheit würden verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik eingestuft werde".

Eine laut Urteil des Bundesverfassungsgserichts vom 04.11.2009 erlaubte Einschränkung der Meinungsfreiheit im Sinne des Grundgesetzes stellt die Strafandrohung des am 01.04.2005 in Kraft getretenen § 130 Abs. 4 StGB dar. Absatz 4 stelle zwar eine Sonderbestimmung und kein allgemeines Gesetz dar, wie es in Artikel 5 für eine rechtmäßige Einschränkung der Meinungsfreiheit eigentlich gefordert würde. Angesichts der Erstehungsgeschichte des Grundgesetzes und der Bundesrepublik Deutschland als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus sei eine solche Einschränkung hierzulande gleichwohl erlaubt.


Dazu Reinhard Müller in der FAZ (27.01.2015, Holocaust. Das deutsche Tabu):

"Geht es um den Holocaust, ist die Meinungsfreiheit eingeschränkt, denn das Bundesverfassungsgerichts sieht die Bundesrepublik als Gegenentwurf zum NS-Staat. Wer dies leugnet, gefährdet den öffentlichen Frieden. Darf man wirklich über alles Witze machen? Muss der Bürger im freiheitlichen Staat alles ertragen, darf er alles sagen? Nein, auch in Deutschland nicht. Abgesehen vom kaum angewandten Blasphemie-Verbot und persönlichen Ehrverletzungen gibt es auch hierzulande Sonderrecht, das die Meinungsfreiheit einschränkt. Wer den Nationalsozialismus und seine Verbrechen billigt, der kann sich strafbar machen – und zwar mit höchstrichterlicher Billigung. Das Bundesverfassungsgericht sieht die Bundesrepublik Deutschland als „Gegenentwurf“ des „ sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrechts und des Schreckens, die die nationalsozialistische Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat“. Das ist historisch und erst recht verständlich – klar ist aber auch, dass sich der Erste Senat mit dieser Entscheidung sehr schwer getan hat. Gilt doch sonst in Karlsruhe eher die Maxime: Im Zweifel für die Freiheit. Und so hebt der Beschluss vom November 2009 auch an, in dem es um die – immer wiederkehrenden – Demonstrationen in Wunsiedel anlässlich des Todestages des einstigen Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß ging: Meinungen, so heißt es, lassen sich nicht als wahr oder unwahr erweisen. Sie genießen den Schutz des Grundrechts, „ohne dass es darauf ankommt, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird“. Die Bürger seien „rechtlich auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen persönlich zu teilen.“ Das Grundgesetz baue zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, „erzwingt die Werteloyalität aber nicht“. Das ist bemerkenswert mit Blick nicht nur auf den politischen Extremismus, sondern auch auf die Themen Einwanderung und Islam – sowie die Demonstrationen dagegen. Das Grundgesetz schützt nämlich auch Meinungen, „die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung zielen, unabhängig davon, ob und wie weit sie im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung durchsetzbar sind.“ Das Grundgesetz vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung „als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien.“ Dementsprechend fällt, auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, sogar die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts nicht von vornherein aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit heraus. Soweit vertraut das Verfassungsgericht ürgerschaftlichem Engagement und staatlicher Aufklärung. Schützenswert ist der öffentliche Frieden. Eine Ausnahme vom Grundsatz, dass es kein Sonderrecht gegen bestimmte Meinungen geben darf, machen die Karlsruher Richter dann aber doch: und zwar für Vorschriften, „die auf die Verhinderung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zwischen den Jahren 1933 und 1945 zielen.“ Das menschenverachtende Regime dieser Zeit, habe für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine „gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung, die einzigartig ist und allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht eingefangen werden kann.“ Die Befürwortung der NS-Herrschaft sei in Deutschland ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens mit friedensbedrohendem Potential. Insofern sei sie mit anderen Meinungsäußerungen nicht vergleichbar „und kann nicht zuletzt auch im Ausland tiefgreifende Beunruhigung auslösen“. Die Karlsruher Richter des Ersten Senats heben gleichwohl hervor, dass der Schutz vor einer Beeinträchtigung des „allgemeinen Friedensgefühls“ oder der „Vergiftung des geistigen Klimas“ ebenso wenig ein Grund für einen Eingriff in die Meinungsfreiheit sein können wie der Schutz der Bevölkerung vor einer Kränkung ihres Rechtsbewusstseins durch totalitäre Ideologien oder eine offenkundig falsche Interpretation der Geschichte. Gleichwohl könne, wenn die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft gutgeheißen werde, grundsätzlich das Vorliegen einer Störung des öffentlichen Friedens vermutet – und eine Versammlung untersagt werden. Vor allem, wenn sie an einem so sensiblen Tag stattfinden soll wie dem der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, der sich an diesem Dienstag zum siebzigsten mal jährt. Der 27. Januar wurde durch den früheren Bundespräsidenten Roman Herzog zum offiziellen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus bestimmt. Das Bundesverfassungsgericht sieht die öffentliche Ordnung betroffen, wenn an einem solchen Tag Rechtsextreme aufmarschieren wollen. Wenn von der Art und Weise der Versammlung Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigen, kann eine Demonstration verboten werden. - Auch freiheitliche Staaten haben Tabus. - Auch die Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust ist strafbar. Auch hier kommt es aber ebenfalls darauf an, ob der öffentliche Friede gestört wird. Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer den unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Völkermord in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost. Das kann durchaus auch mit Haft ohne Bewährung bestraft werden – Österreich ist die Bestrafung jeder Betätigung im Sinne des Nationalsozialismus noch strenger. Das alles zeigt: Nicht nur Religionen haben etwas, das ihnen heilig ist. Tabus, an die nicht gerührt werden darf, pflegen auch freiheitliche Staaten – und übrigens auch Künstler und Satiriker. Wenn es nämlich nach ihrem Empfinden um die eigene Identität, die Existenz geht, ist auch Sonderrecht erlaubt. Das sollte man aber benennen in einer Zeit, in der gern Mut gefordert wird – und nicht so tun, als gelte die Meinungsfreiheit absolut."


Reinhard Müller, FAZ 23.01.2016: Die Meinung ist frei:


Das wird man ja wohl noch sagen dürfen! Darf man auch. Wer meint, in Deutschland herrsche eine Meinungsdiktatur, der hat nicht nur die deutsche Vergangenheit verdrängt – ein Blick in andere westliche Demokratien genügt, um zu erkennen, wie viel die Freiheit des Wortes hierzulande gilt. Selbst in einem Nato-Staat landen Menschen wegen unliebsamer Meinungsäußerungen hinter Gittern; beim westlichen Waffenbruder Saudi-Arabien kann ein falsches Wort ein Fall für den Henker sein. Oder es regiert der Konformismus: Eine Kurznachricht kann einen Sturm entfachen – und eine berufliche Existenz vernichten.

Reinhard Müller Autor: Reinhard Müller, In der politischen Redaktion verantwortlich für „Zeitgeschehen“ und für „Staat und Recht“. Folgen:

Das ist erstaunlich, denn eigentlich sind die Voraussetzungen für die Meinungsfreiheit auf der ganzen Welt bestens, und zwar wegen des weltweiten Netzes. Das Internet stellt einen enormen Freiheitsgewinn dar: Jeder kann an fast jede Information gelangen und diese weiterverbreiten. Und jeder kann seine Ansichten auch grundsätzlich ungestört in alle Welt senden. Daraus folgern manche schon, dass jeder sein eigener Journalist sein könne. Die Pressefreiheit wird damit zu einem Grundrecht für jedermann.

Alles ist möglich. Folge und Preis dieser Freiheit ist die Enthemmung im Netz. Es ist aber keine Verletzung der Meinungsfreiheit oder gar eine Zensur, wenn gegen Hetze und Aufrufe zur Gewalt im Internet vorgegangen wird. Niemand muss dulden, dass unter seiner Marke Beleidigungen ausgestoßen werden. Wenn also Verlage die Kommentarfunktion zu bestimmten Themen sperren, dann auch, um sich nicht selbst strafbar zu machen. Kein Hersteller gibt seine Produkte gern zum öffentlichen Beschmieren frei.

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Die Meinungsfreiheit ist hier nicht in Gefahr, da es nicht der Staat ist, der Äußerungen beschränkt. Der Staat selbst ist ziemlich großzügig. Nicht ohne Grund gilt die Meinungsfreiheit als konstitutiv für eine freie Gesellschaft. Meinungen sind geschützt, auch wenn sie als dumm und gefährlich eingeschätzt werden. Wahr und falsch – diese Begriffe können auf Meinungen (anders als auf Tatsachen) nicht zutreffen. Die Wahrheit hat in einer freiheitlichen Demokratie eben niemand gepachtet; das ist zu Recht ein Hauptvorwurf gegen die neue Regierung in Polen. Der Nationalsozialismus ist ein Sonderfall

Niemand muss das Grundgesetz und die ihm zugrundeliegenden Werte schätzen oder gar lieben. Wie sollte man das auch durchsetzen? Die Verfassung schützt sogar Meinungen, „die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung zielen, unabhängig davon, ob und wie weit sie im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung durchsetzbar sind“. So sagt es das Bundesverfassungsgericht, und es wird interessant sein zu sehen, ob und wie es diese liberale Rechtsprechung im Angesicht der gegenwärtigen Stimmung aufrechterhält. Es mag naiv klingen, doch bleibt es grundsätzlich richtig, wie Karlsruhe in der Kraft der freien Auseinandersetzung die „wirksamste Waffe“ gegen die Verbreitung menschenverachtender Ideologien zu sehen. Umso wichtiger ist das konsequente Vorgehen gegen jede Form von Hass und Gewalt.

Sogar die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts fällt nicht von vornherein aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit heraus, obwohl das Verfassungsgericht hier einen historischen Sonderfall sieht, den es besonders behandelt: Die Befürwortung der NS-Herrschaft sei ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens mit den Frieden bedrohendem Potential. Freilich können mittlerweile auch andere Herrschaftsformen das Gemeinwesen bedrohen, die ebenfalls das Ausland tief beunruhigen; auch das ist ein Karlsruher Maßstab. Doch bleibt es dabei, dass auch eine „Vergiftung des geistigen Klimas“ kein Grund für einen Eingriff in die Meinungsfreiheit ist. Diese Weite der Meinungsfreiheit ist bei weitem noch nicht in das Bewusstsein jedes Bürgermeisters, Polizeipräsidenten und Richters eingedrungen. Aber sie gilt. Und das ist womöglich eine der größten Zumutungen, die der freiheitliche Rechtsstaat seinen Bürgern – und jedem Neuankömmling – aufbürdet. Den Mund aufmachen

Woher kommt es dann, dass viele Bürger gleichwohl meinen, sie dürften nicht sagen, was sie wollten? Weil auch dieser Eindruck vielleicht stimmt? Hier geht es nicht um staatlichen Zwang, sondern um ein Klima der Angst. Wenn sogar Wissenschaftler, deren Freiheit ebenfalls besonders geschützt ist, sich nicht mehr trauen, bestimmte Anträge zu stellen, zu bestimmten Fragen zu forschen oder auch nur ironische Anmerkungen zu machen, und zwar aus Angst vor medialer Hinrichtung beziehungsweise beruflichen Konsequenzen, dann herrscht eine Einschüchterung, wie sie schon an amerikanischen und britischen Universitäten zu beobachten ist. Dort hat sich die gutgemeinte und ursprünglich sinnvolle Antidiskriminierungspolitik in das Gegenteil verkehrt.

Und die Lösung? Einfach den Mund aufmachen. Selbstauferlegte Sprechverbote kann man nur selbst beheben. Jede Unterdrückung der Meinungsfreiheit ist bloßzustellen. Konformismus und Ängstlichkeit gerade bei Medienleuten und Wissenschaftlern sind Zeichen der Krise einer freien Gesellschaft.


Fälle

  • Nachdem die Bezeichnung der deutschen Flaggenfarben als "Schwarz-Rot-Senf" von zwei Instanzen für strafbar erklärt worden war, verwies das Bundesverfassungsgericht den Fall wieder zurück an das Landgericht (1 BvR 1565/05; FAZ 01.11.08:6).
  • Vergleich Deutschland - USA. Viele Äußerungen, die in Deutschland als Volksverhetzung (NS-Propaganda, Gewaltverherrlichung) strafbar sind, sind in den USA unbestrittener Teil der Meinungsfreiheit. "In Deutschland sind die Grenzen des rechtlich Erlaubten und des sozialmoralisch Erträglichen enger gezogen als in Amerika. Die Redefreiheit ist die iure und de facto geschichtspolitisch beschränkt" (Bahners 2008).
  • Der im Jahre 2005 eingeführte § 130 IV des deutschen Strafgesetzbuchs wurde vom Bundesverfassungsgericht für verfassungsgemäß erklärt. Die Vorschrift lautet: "Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt." Das Bundesverfassungsgericht erklärte dazu (4.11.2009): "1. § 130 Abs. 4 StGB ist auch als nichtallgemeines Gesetz mit Art. 5 Abs. 1 und 2 GG vereinbar. Angesichts des sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrechts und des Schreckens, die die nationalsozialistische Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat, und der als Gegenentwurf hierzu verstandenen Entstehung der Bundesrepublik Deutschland ist Art. 5 Abs. 1 und 2 GG für Bestimmungen, die der propagandistischen Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft Grenzen setzen, eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze immanent. 2. Die Offenheit des Art. 5 Abs. 1 und 2 GG für derartige Sonderbestimmungen nimmt den materiellen Gehalt der Meinungsfreiheit nicht zurück. Das Grundgesetz rechtfertigt kein allgemeines Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts.“

Denkspruch

"Beleidigt man Schwarze, nennt ihr es Rassismus... Beleidigt man Juden, nennt ihr es Antisemitismus... Bleidigt man Homosexuelle, nennt ihr es Intoleranz... Beleidigt man sein Land, nennt ihr es Verrat... Beleidigt man Sekten, nennt ihr es Hass.. ABER wenn man den Propheten Muhammad (s.a.a.s.) beleidigt, nennt ihr es MEINUNGSFREIHEIT ....

von: [1]

Österreich

  • Die Berufung auf die Meinungsfreiheit nützte einem emeritierten Wiener Medizinprofessor nichts, als er nach einer Rede, die er 2006 am Grab eines Weltkrieg-II-Jagdfliegers gehalten hatte, unter dem Vorwurf einer schweren Pflichtverletzung als Universitätsrat abberufen wurde. Bei dem Jagdflieger handelte es sich um Walter Nowotny, der 1944 ein Staatsbegräbnis erhalten hatte, als er nach 258 Luftsiegen im Alter von 23 Jahren abgeschossen worden war. Der Redner hatte erklärt, dass die Versammlung am Grab des Jagdfliegers sich nicht "als Wallfahrer an einer heiligen Stätte" verstehe, es aber für ihre Pflicht hielt "aufzuzeigen, dass es doch noch ein Fähnlein in den deutschen Landen gibt, die unsere unschuldigen Soldaten und ihren furchtbaren Tod nicht vergessen oder gar herabwürdigen". Das österreichische Verfassungsgericht erkannte darin eine unkritische Haltung gegenüber dem NS-Regime. Deshalb könne in der Maßregelung des Redners keine Verletzung der Meinungsfreiheit liegen (Az. B 225/07; Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2008: 428 ff.; Müller 2008).

Frankfreich, Belgien

Literatur und Weblinks

Siehe auch