Makrokriminalität: Unterschied zwischen den Versionen

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Makrokriminalität stellt einen Sammelbegriff für unterschiedliche Erscheinungsformen von kollektivem und staatlichem Unrecht dar und bezieht sich damit auf die Extremformen des Verbrechens. Dabei steht nicht die Abweichung des Täters im Vordergrund sondern seine [[Konformität]]. Der Begriff Makrokriminalität geht auf Herbert Jäger zurück und wurde vor allem durch sein, im Jahre 1989 herausgegebenen Buch „Makrokriminalität, Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt“ geprägt und bekannt.
Makrokriminalität stellt einen Sammelbegriff für unterschiedliche Erscheinungsformen von kollektivem und staatlichem Unrecht dar und bezieht sich damit auf die Extremformen des Verbrechens. Dabei steht nicht die Abweichung des Täters im Vordergrund sondern seine [[Konformität]]. Der Begriff Makrokriminalität geht auf Herbert Jäger zurück und wurde vor allem durch sein, im Jahre 1989 herausgegebenen Buch „Makrokriminalität, Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt“ geprägt und bekannt.


== Definition ==
== Definition ==
Der Begriff Makrokriminalität konzentriert sich auf die Großformen des Verbrechens und vereint damit kollektive Verbrechen mit hoher Destruktivität (vgl. Scheerer 1993, S.246). Diese Art von Verbrechen werden von staatlichen Institutionen verübt, woraus sich eine relative Sanktionsimmunität ergibt (vgl. Jäger 1989, S.202; S.7). Die Makrokriminalität unterscheidet sich grundlegend von anderen Erscheinungsformen der Kriminalität, da für sie nicht das abweichende Verhalten charakteristisch ist, sondern die Konformität des Täters. Individuelles Handeln wird hierbei nicht als isolierte Tat oder punktuelles Ereignis gesehen sondern ist Teil eines kollektiven Aktionszusammenhangs, welcher die Rahmenbedingungen der individuellen Handlung darstellt. Ein Konflikt auf der Ebene der Gesamtgesellschaft (Makroebene) geht der einzelnen Tat voraus (vgl. Jäger 1989, S.11f).  
Der Begriff Makrokriminalität konzentriert sich auf die Großformen des Verbrechens und vereint damit kollektive Verbrechen mit hoher Destruktivität (vgl. Scheerer 1993, S.246). Diese Art von Verbrechen wird von staatlichen Institutionen verübt, woraus sich eine relative Sanktionsimmunität ergibt (vgl. Jäger 1989, S.202; S.7). Die Makrokriminalität unterscheidet sich grundlegend von anderen Erscheinungsformen der Kriminalität, da für sie nicht das abweichende Verhalten charakteristisch ist, sondern die Konformität des Täters. Individuelles Handeln wird hierbei nicht als isolierte Tat oder punktuelles Ereignis gesehen sondern ist Teil eines kollektiven Aktionszusammenhangs, welcher die Rahmenbedingungen der individuellen Handlung darstellt. Ein Konflikt auf der Ebene der Gesamtgesellschaft (Makroebene) geht der einzelnen Tat voraus (vgl. Jäger 1989, S.11f).  


=== Kern- und Randbereiche ===  
=== Kern- und Randbereiche ===  
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Im Sinne eines Erklärungsansatzes hat Jäger die [[Neutralisationstechniken]] von Sykes/Matza auf die Phänomene der Makrokriminologie übertragen. Der einzelne Täter bedient sich Techniken der Rechtfertigung, Neutralisation und Umwertungen, um sich gegen (Selbst-) Vorwürfe zu schützen. Dies erfolgt nicht nur im Sinne einer nachträglichen Selbstentlastung sondern v.a. in vorgeschalteter Weise, um so die Handlung erst zu ermöglichen. Dabei stehen im Falle, der unter Konformität begangenen Makrokriminalität, die Selbstrechtfertigungen im Vordergrund, da ein nur geringer Neutralisationsbedarf gegenüber Dritten besteht. Jäger dehnt die ursprüngliche Fassung aus, indem er alle Fälle einbezieht, in denen es zu einer Schwächung oder völligen Eliminierung des Unrechtsbewusstseins und der Handlungshemmungen kommt (vgl. 1989, S.190). Er unterscheidet 10 Varianten der Neutralisation, die empirisch erkennbar waren (nachzulesen bei Jäger, 1989).  
Im Sinne eines Erklärungsansatzes hat Jäger die [[Neutralisationstechniken]] von Sykes/Matza auf die Phänomene der Makrokriminologie übertragen. Der einzelne Täter bedient sich Techniken der Rechtfertigung, Neutralisation und Umwertungen, um sich gegen (Selbst-) Vorwürfe zu schützen. Dies erfolgt nicht nur im Sinne einer nachträglichen Selbstentlastung sondern v.a. in vorgeschalteter Weise, um so die Handlung erst zu ermöglichen. Dabei stehen im Falle, der unter Konformität begangenen Makrokriminalität, die Selbstrechtfertigungen im Vordergrund, da ein nur geringer Neutralisationsbedarf gegenüber Dritten besteht. Jäger dehnt die ursprüngliche Fassung aus, indem er alle Fälle einbezieht, in denen es zu einer Schwächung oder völligen Eliminierung des Unrechtsbewusstseins und der Handlungshemmungen kommt (vgl. 1989, S.190). Er unterscheidet 10 Varianten der Neutralisation, die empirisch erkennbar waren (nachzulesen bei Jäger, 1989).  


Neben der Betrachtung makrosozialer und situativer Aspekte muss auf der individuellen Ebene nach Erklärungen für kollektive Verbrechen geschaut werden. Art und Grad der Beteiligung und Verstrickung am Kollektivgeschehen werden durch individuelle Einflüsse mitbestimmt. Neben der kriminogenen Situation sind es daher vor allem Gefühle, Einstellungen und Wertorientierungen, welche eine Rolle in Hinblick auf das Geschehen spielen (vgl. Jäger 1980, S.363). Als tatbestimmende Motive können weiter auch Dispositionen und Affinitäten zu gruppenkonformen Verhaltensweisen eine Rolle spielen, um das kollektive Verhalten zu erklären (vgl. Jäger 1989, S.152).
Neben der Betrachtung makrosozialer und situativer Aspekte, muss auf der individuellen Ebene nach Erklärungen für kollektive Verbrechen geschaut werden. Art und Grad der Beteiligung und Verstrickung am Kollektivgeschehen werden durch individuelle Einflüsse mitbestimmt. Neben der kriminogenen Situation sind es daher vor allem Gefühle, Einstellungen und Wertorientierungen, welche eine Rolle in Hinblick auf das Geschehen spielen (vgl. Jäger 1980, S.363). Als tatbestimmende Motive können weiter auch Dispositionen und Affinitäten zu gruppenkonformen Verhaltensweisen eine Rolle spielen, um das kollektive Verhalten zu erklären (vgl. Jäger 1989, S.152).


== Konsequenzen für die Kriminologie und Kriminalpolitik ==
== Konsequenzen für die Kriminologie und Kriminalpolitik ==
Praktische Konsequenzen für die Rechtsanwendung sowie umfassende empirische Erkenntnisse sind aus der Betrachtung der Makrokriminalität nicht hervorgegangen. Ein Ausblenden aus der Kriminologie würde jedoch mit einer Verharmlosung der kriminellen Handlungen auf politischer Ebene einhergehen und würde gewissermaßen einer Legitimierung von kollektiver Gewalt gleichkommen. Zur Folge hätte dies, dass Organisationen wie Amnesty International ein Teil ihrer Legitimationsgrundlage entzogen wird. Der Charakter makrokrimineller Taten muss daher im Rechtsbewusstsein verhaftet werden. Aufklärung über die Phänomene der Makrokriminalität ist daher das Ziel, ebenso Bewusstseinsbildung, öffentliche Verurteilung und Generalprävention. Auch im Falle der Makrokriminalität soll der Verbrechensbegriff allgemeinverbindliche Verbotsnormen fixieren und rechtliche Verbote plakativ deutlich machen. Die Kriminologie steht diesbezüglich vor der schweren Aufgabe, alternative Maßnahmen und Reaktionsweisen herauszustellen, im Sinne einer „Kriminalpolitik gegenüber krimineller Politik“ (vgl. Jäger 1989, S.33ff).
Praktische Konsequenzen für die Rechtsanwendung sowie umfassende empirische Erkenntnisse sind aus der Betrachtung der Makrokriminalität nicht hervorgegangen. Ein Ausblenden aus der Kriminologie würde jedoch mit einer Verharmlosung der kriminellen Handlungen auf politischer Ebene einhergehen und würde gewissermaßen einer Legitimierung von kollektiver Gewalt gleichkommen. Zur Folge hätte dies, dass Organisationen wie Amnesty International ein Teil ihrer Legitimationsgrundlage entzogen wird. Der Charakter makrokrimineller Taten muss daher im Rechtsbewusstsein verhaftet werden. Aufklärung über die Phänomene der Makrokriminalität ist daher das Ziel, ebenso Bewusstseinsbildung, öffentliche Verurteilung und Generalprävention. Auch im Falle der Makrokriminalität soll der Verbrechensbegriff allgemeinverbindliche Verbotsnormen fixieren und rechtliche Verbote plakativ deutlich machen. Die Kriminologie steht diesbezüglich vor der schweren Aufgabe, alternative Maßnahmen und Reaktionsweisen herauszustellen, im Sinne einer „Kriminalpolitik gegenüber krimineller Politik“ (vgl. Jäger 1989, S.33ff).


Normen, welche Großverbrechen zuweilen erfassen sind § 80 StGB (Vorbereitung eines Angriffskrieges) und § 220a StGB (Völkermord). Diese haben jedoch vorrangig symbolische Bedeutung (vgl. Walter 1993, S.124f).
Normen, welche Großverbrechen zuweilen erfassen, sind § 80 StGB (Vorbereitung eines Angriffskrieges) und § 220a StGB (Völkermord). Diese haben jedoch vorrangig symbolische Bedeutung (vgl. Walter 1993, S.124f).


Es besteht eine umgekehrte Proportionalität bezüglich Schuld und Strafe. Ab einer bestimmten Schwere des Verbrechens auf der Makroebene, wird die Aussicht auf strafrechtliche Erfassung und Verfolgung unwahrscheinlicher. Um eine Proprtionalität wieder herzustellen, kann eine Entkriminalisierung im „unteren“ Bereich erfolgen, z.B. im Bereich der Kleindelinquenz (vgl. Walter 1993, S.127).
Es besteht eine umgekehrte Proportionalität bezüglich Schuld und Strafe. Ab einer bestimmten Schwere des Verbrechens auf der Makroebene, wird die Aussicht auf strafrechtliche Erfassung und Verfolgung unwahrscheinlicher. Um eine Proprtionalität wieder herzustellen, kann eine Entkriminalisierung im „unteren“ Bereich erfolgen, z.B. im Bereich der Kleindelinquenz (vgl. Walter 1993, S.127).
Ebenso könnte die Ausdehnung des Sanktionssystem auf Großverbrechen die Proportionen herstellen. Um Makrokriminalität jedoch zu verhindern oder zu verfolgen, fehlen die notwendigen Mittel und Wege weitläufig.
Ebenso kann die Ausdehnung des Sanktionssystem auf Großverbrechen die Proportionen herstellen. Um Makrokriminalität jedoch zu verhindern oder zu verfolgen, fehlen die notwendigen Mittel und Wege weitläufig.
== Eugen Roth: Finstere Geschichte ==
:"Ein Mensch führt, zu gegebnen Fristen,
:Brav über andre Menschen Listen.
:Ein zweiter Mensch ersieht aus diesen,
:Daß dies und jenes sei erwiesen.
:Ein dritter, ohne weitres Rühren,
:Muß drüber wieder Listen führen.
:Ein vierter, sonst nicht ohne Seele,
:Verfährt damit nach dem Befehle.
:Ein fünfter, selbst nur noch Maschine,
:Tut seine Pflicht mit kalter Miene.
:Sein winzig Stücklein macht ein sechster
:Nun hat den Eindruck schon ein nächster,
:Es handle sich bei dem Gelichter
:Um ausgemachte Bösewichter,
:Die er mit gutem Grunde haßt,
:Und listenmäßig streng erfaßt.
:Ganz wenig nur tut nun en achter:
:Bei ein paar Namen Häkchen macht er.
:Ein neunter, ohne Zeitverlieren,
:Läß diese Namen liquidieren.
:Daß auftragsmäßig dies geschehn
:Stellt sachlich fest nun Nummer zehn.
:Ein elfter nimmt es zu den Akten.
:Und so wird aus dem Mord, dem nackten,
:Ein Dreh, bei dem man nie entdeckt,
:Wo eigentlich der Mörder steckt."


== Einzelnachweise ==
== Literatur ==
* Herbert Jäger: ''Gedanken zur Kriminologie kollektiver Verbrechen.'' In: ''Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform'' Jg. 63, Nr.6, 1980, S. 258-265
* Herbert Jäger: ''Gedanken zur Kriminologie kollektiver Verbrechen.'' In: ''Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform'' Jg. 63, Nr.6, 1980, S. 258-265
* Herbert Jäger: ''Makrokriminalität – Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt.'' Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1989
* Herbert Jäger: ''Makrokriminalität – Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt.'' Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1989
* Herbert Jäger: ''Makroverbrechen als Gegenstand des Völkerstrafrechts.'' In:Gerd Hankel, Gerhard Stuby (Hrsg.): ''Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen - Zum Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen.'' Hamburger Edition, Hamburg 1995, S.325-354.
* Herbert Jäger: ''Makroverbrechen als Gegenstand des Völkerstrafrechts.'' In:Gerd Hankel, Gerhard Stuby (Hrsg.): ''Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen - Zum Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen.'' Hamburger Edition, Hamburg 1995, S.325-354.
*Konle, Christian (2010) Makrokriminalität im Rahmen der jugoslawischen Sezessionskriege: Kriminologische Untersuchungen der von serbischer Seite in Bosnien-Herzegowina und Kroatien verübten Menschenrechtsverletzungen. München: Herbert Utz Verlag.
* Regine Michaelke: ''Grenzüberschreitende Probleme des Umwelt- und Wirtschaftsrecht in der Verfolgungspraxis der Strafjustiz.'' In: Klaus Lüderssen (Hrsg.): ''Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse?'' Bd. 3: Makrodelinquenz. Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1998, S.29
* Regine Michaelke: ''Grenzüberschreitende Probleme des Umwelt- und Wirtschaftsrecht in der Verfolgungspraxis der Strafjustiz.'' In: Klaus Lüderssen (Hrsg.): ''Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse?'' Bd. 3: Makrodelinquenz. Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1998, S.29
* Frank Neubacher: ''Politik und Verbrechen – Zur Terminologie und Typologie staatlicher bzw. gegen den Staat gerichteter Kriminalität.'' In: ''Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform.'' Jg. 85, Nr.4, 2002, S. 290-300
* Frank Neubacher: ''Politik und Verbrechen – Zur Terminologie und Typologie staatlicher bzw. gegen den Staat gerichteter Kriminalität.'' In: ''Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform.'' Jg. 85, Nr.4, 2002, S. 290-300
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