Lombrosianischer Mythos: Unterschied zwischen den Versionen

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Der '''Lombrosianische [[Mythos]]''' ist ein Begriff, der von den Soziologen [http://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_R._Lindesmith Alfred R. Lindesmith] und [[Yale Levin]] durch ihren Aufsatz ''The Lombrosian Myth in Criminology'' im Jahre 1937 geprägt wurde. Der Artikel hinterfragt die Bedeutung und Stellung des italienischen Arztes und Begründers der Kriminalanthropologie [[Cesare Lombroso]] als Gründungsvater der [[Kriminologie]] und setzt ihn in den historischen Kontext.
 
Der '''Lombrosianische [[Mythos]]''' ist ein Begriff, der von den Soziologen [[Alfred R. Lindesmith]] und [[Yale Levin]] durch ihren Aufsatz ''The Lombrosian Myth in Criminology'' im Jahre 1937 geprägt wurde. Der Artikel hinterfragt die Bedeutung und Stellung des italienischen Arztes und Begründers der Kriminalanthropologie [[Cesare Lombroso]] als Gründungsvater der [[Kriminologie]] und setzt ihn in den historischen Kontext.


== The Lombrosian Myth in Criminology ==
== The Lombrosian Myth in Criminology ==
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== Die Kritik ==
== Die Kritik ==
Obwohl Lindesmith und Levin Lombroso in ihrem Aufsatz nicht grundsätzlich eine Bedeutung für die Kriminologie versagen, halten sie doch den Wert seiner Arbeiten als gering, und den Ruhm um seiner Person als Gründungsvater der Kriminologie als verfehlt. Der von ihnen geprägte Ausdruck des „Lombrosianischen Mythos“ wurde daher zum Inbegriff des Streites um die Gründungsmeriten dieser Wissenschaft. Brisanz erfährt der Streit dadurch, dass Cesare Lombrosos Forschungen für den aus heutiger unhaltbaren - [[biologistischen Determinismus]] des ausgehenden 19. Jahrhunderts stehen.
Obwohl Lindesmith und Levin Lombroso in ihrem Aufsatz nicht grundsätzlich eine Bedeutung für die Kriminologie versagen, erachten sie doch den Wert seiner Arbeiten für gering, und den Ruhm um seiner Person als Gründungsvater der Kriminologie für verfehlt. Der von ihnen geprägte Ausdruck des ''Lombrosianischen Mythos'' wurde daher zum Inbegriff des Streites um die Gründungsmeriten dieser Wissenschaft. Weitere Brisanz erfährt der Streit dadurch, dass Cesare Lombrosos Forschungen für den - aus heutiger Sicht unhaltbaren - [[biologistischen Determinismus]] des ausgehenden 19. Jahrhunderts stehen.
Ein kurzer Abriss der hellsten Schlaglichter der kriminologischen Entwicklungsgeschichte und ihrem historischem Kontext können den Gegenstand des Lombrosianischen Mythos begreifbarer machen.  
Eine Analyse der Studien der Wegbereiter oder eine Untersuchung der methodischen Vorgehensweise Lombrosos kann in diesem Rahmen nicht geleistet werden, vielmehr soll ein kurzer Abriss der hellsten Schlaglichter der kriminologischen Entwicklungsgeschichte in ihrem historischen Kontext den Gegenstand des ''Lombrosianischen Mythos'' begreifbarer machen und zu einer ersten Einschätzung befähigen.
 
== Der historische Kontext ==
== Der historische Kontext ==
=== Wegbereiter ===
=== Wegbereiter ===
Zwar berichten bereits schon antike und biblische Texte über Straftaten und schwere Verbrechen (Kury 2007, S. 55), der früheste Beginn der Erforschung und Klärung von Verbrechen ist aber wohl am Beginn der Neuzeit in Form von ersten Leichenschauen und -öffnungen zu finden. Die constitutio Criminalis Carolina von 1532 schrieb die Heranziehung eines Sachverständigung bei den Delikten ''Kindstötung'' und ''Tötung'' zur empirischen Abklärung der Verbrechensursache vor (Kunz 2008, S. 33)
Zwar berichten bereits schon antike und biblische Texte über Straftaten und schwere Verbrechen (Kury 2007, S. 55), der früheste Beginn der Erforschung und Klärung von Verbrechen ist aber wohl am Beginn der Neuzeit in Form von ersten Leichenschauen und -öffnungen zu finden. Die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 schrieb die Heranziehung eines Sachverständigung bei den Delikten ''Kindstötung'' und ''Tötung'' zur empirischen Abklärung der Verbrechensursache vor. (Kunz 2008, S. 33)
Wenig Zeit später führte die sich im 15. und 16. Jahrhundert ausbreitende humanistische Weltanschauung bereits zu intensiveren Beschäftigung mit kriminalsoziologischen Problemen. So stellte der englische Jurist [[Thomas Morus]] (1478-1535) im Rahmen seines Romans ''Utopia'' die Frage nach dem Ursprung der Diebe und Räuber und schlug dabei vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung durch Verminderung von Armut und Elend vor. So schreibt Morus in seinem Roman:
Wenige Zeit später führte die sich im 15. und 16. Jahrhundert ausbreitende humanistische Weltanschauung bereits zu intensiverer Beschäftigung mit kriminalsoziologischen Problemen. So stellte der englische Jurist [[Thomas Morus]] (1478-1535) im Rahmen seines Romans ''Utopia'' die Frage nach dem Ursprung der Diebe und Räuber und schlug dabei vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung durch Verminderung von Armut und Elend vor. So schreibt Morus in seinem Roman:
::''Er [der Jurist] erzählte, es würden allenthalben oft zwanzig [Diebe und Räuber] aufs mal an einem Galgen gehenkt, und fügte bei, da so wenige ihrer Strafe  entwischten, frage er sich um so mehr, welches Verhängnis daran Schuld sei, daß trotzdem so viele  Räuber ihr Unwesen trieben. ... Da sagte ich ... : „Das sei nicht zum Verwundern. Diese Bestrafung der Diebe geht über das Maß hinaus und nützt überdies dem Staate nichts. Um einen Diebstahl zu ahnden, ist sie nämlich zu scharf, und um diesem Treiben Einhalt zu tun, reicht sie nicht aus; denn weder ist das einfache Stehlen ein so ungeheuerliches Verbrechen, daß es den Kopf kosten muß, noch gibt es irgendeine Strafe, die schwer genug wäre, um einen Menschen vom Rauben abzuschrecken, wenn er kein anderes Gewerbe hat, mit dem er sein Leben fristen kann.'' (Morus 1981, Seite 25 f.)
::''Er [der Jurist] erzählte, es würden allenthalben oft zwanzig [Diebe und Räuber] aufs mal an einem Galgen gehenkt, und fügte bei, da so wenige ihrer Strafe  entwischten, frage er sich um so mehr, welches Verhängnis daran Schuld sei, daß trotzdem so viele  Räuber ihr Unwesen trieben. ... Da sagte ich ... : „Das sei nicht zum Verwundern. Diese Bestrafung der Diebe geht über das Maß hinaus und nützt überdies dem Staate nichts. Um einen Diebstahl zu ahnden, ist sie nämlich zu scharf, und um diesem Treiben Einhalt zu tun, reicht sie nicht aus; denn weder ist das einfache Stehlen ein so ungeheuerliches Verbrechen, daß es den Kopf kosten muß, noch gibt es irgendeine Strafe, die schwer genug wäre, um einen Menschen vom Rauben abzuschrecken, wenn er kein anderes Gewerbe hat, mit dem er sein Leben fristen kann.'' (Morus 1981, Seite 25 f.)


* '''erste gerichtliche Fallsammlungen'''
* '''erste gerichtliche Fallsammlungen'''
Ein weiterer Eckpunkt in der Geschichte der Kriminologie bilden die Fallsammlungen von [[François Gayot de Pitaval]] (1673-1743) und [[Paul Johann Anselm von Feuerbach]] (1775-1833). Sie gelten als erste Gerichtsberichterstatter, die durch ihre Sammlungen von ''Merkwürdigen Criminal-Rechtsfällen'' nicht nur die Prozessverläufe, sondern auch das Vorleben der Tatbeteiligten sowie die Tatbegehung und die -aufklärung darstellten. Durch diese Zusammenschau von Prozessbeobachtungen boten sich eine nunmehr erstmals empirische Sammlung von Kriminalfällen, die aus Sicht der wissenschaftlichen Methodologie heute nicht mehr wegzudenken wäre. Wie [[Beccaria]] nach ihm ist von Feuerbach der Tradition des öffentlichen, staatlichen Strafrechts verpflichtet. Er sieht das Strafrecht als legitimes Mittel der Steuerung durch den Staat an. (vgl. Naucke 1989, S. 44) Von Feuerbach gilt als Begründer der deutschen Strafrechtslehre und setzte hierbei einen wesentlichen Akzent auf die Generalprävention.
Ein weiterer Eckpunkt in der Geschichte der Kriminologie bilden die Fallsammlungen von [[François Gayot de Pitaval]] (1673-1743) und [[Paul Johann Anselm von Feuerbach]] (1775-1833). Sie gelten als erste Gerichtsberichterstatter, die durch ihre Sammlungen von ''Merkwürdigen Criminal-Rechtsfällen'' nicht nur die Prozessverläufe, sondern auch das Vorleben der Tatbeteiligten sowie die Tatbegehung und die -aufklärung darstellten. Durch diese Zusammenschau von Prozessbeobachtungen bot sich eine nunmehr erstmals empirische Sammlung von Kriminalfällen, die aus Sicht der wissenschaftlichen Methodologie heute nicht mehr wegzudenken wäre. Wie [[Beccaria]] nach ihm ist von Feuerbach der Tradition des öffentlichen, staatlichen Strafrechts verpflichtet. Er sieht das Strafrecht als legitimes Mittel der Steuerung durch den Staat an. (vgl. Naucke 1989, S. 44) Von Feuerbach gilt als Begründer der deutschen Strafrechtslehre und setzte hierbei einen wesentlichen Akzent auf die Generalprävention.


* '''erste kriminalpolitische Studien'''
* '''erste kriminalpolitische Studien'''
Mit dem satirischen Briefroman ''Persische Briefe'', einer Sammlung von fiktiven Briefen, die zwei Perser auf ihrer Reise durch Frankreich in ihre Heimat schicken, verfasste der französische Literat und Staatstheoretiker [[de Montesquieu]] (1689-1755)  nebenbei auch mit eine der ersten [[Kriminalpolitik|kriminalpolitischen]] Studien der Neuzeit. Ihre Briefe beinhalten eine kritische Beschreibung des Okzidents und des christlichen Europas am Anfang des 18. Jahrhunderts. Im Achzigsten Brief schreibt Usbek an Rehdi in Venedig:
Mit dem satirischen Briefroman ''Persische Briefe'', einer Sammlung von fiktiven Briefen, die zwei Perser auf ihrer Reise durch Frankreich in ihre Heimat schicken, verfasste der französische Literat und Staatstheoretiker [[de Montesquieu]] (1689-1755)  nebenbei auch mit eine der ersten [[Kriminalpolitik|kriminalpolitischen]] Studien der Neuzeit. Ihre Briefe beinhalten eine kritische Beschreibung des Okzidents und des christlichen Europas am Anfang des 18. Jahrhunderts. Im Achtzigsten Brief schreibt Usbek an Rehdi in Venedig:
''Wenn sich das Volk einer milden Regierung ebenso unterordnet wie einer strengen, so ist erstere vorzuziehen, weil sie eher der Vernunft entspricht und weil Strenge ein fremdartiger Beweggrund ist. Bedenke, lieber Rhedi, daß die Höhe der Strafen in einem Staat nicht bewirkt, daß die Gesetze eher befolgt werden. In den Ländern, wo die Strafen maßvoll sind, werden sie ebenso gefürchtet wie in denen, wo sie tyrannisch und abscheulich sind.'' (Montesquieu, 1991, S. 154)
''Wenn sich das Volk einer milden Regierung ebenso unterordnet wie einer strengen, so ist erstere vorzuziehen, weil sie eher der Vernunft entspricht und weil Strenge ein fremdartiger Beweggrund ist. Bedenke, lieber Rehdi, daß die Höhe der Strafen in einem Staat nicht bewirkt, daß die Gesetze eher befolgt werden. In den Ländern, wo die Strafen maßvoll sind, werden sie ebenso gefürchtet wie in denen, wo sie tyrannisch und abscheulich sind.'' (Montesquieu, 1991, S. 154)


=== Die Klassische Schule ===
=== Die Klassische Schule ===
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Rückblickend erscheint Beccarias Werk jedoch weder inhaltlich ingeniös noch methodisch belastbar, da sein [[Kriminalprävention|kriminalpräventives]] Programm noch nicht auf empirisch überprüfbaren Annahmen über die mutmaßliche Entstehung von Verbrechen beruht. (vgl. Deimling 1989, S. 165) Methodische Grundsätze einer wissenschaftlichen Datenerhebung oder Erforschung lassen sich bei Beccaria somit noch nicht erkennen. [[Elio Monachesi]] schrieb 1972
Rückblickend erscheint Beccarias Werk jedoch weder inhaltlich ingeniös noch methodisch belastbar, da sein [[Kriminalprävention|kriminalpräventives]] Programm noch nicht auf empirisch überprüfbaren Annahmen über die mutmaßliche Entstehung von Verbrechen beruht. (vgl. Deimling 1989, S. 165) Methodische Grundsätze einer wissenschaftlichen Datenerhebung oder Erforschung lassen sich bei Beccaria somit noch nicht erkennen. [[Elio Monachesi]] schrieb 1972
::''Der Beifall, den es [das Werk; H.B.] erhielt, beruhte nicht auf der exklusiven Originalität, tatsächlich wurden die von Beccaria verfochtenen Reformen von anderen aufgestellt, sondern weil es den ersten erfolgreichen Versuch darstellte, ein in sich konsistentes und logisches Strafsystem vorzustellen – ein Strafsystem, um es an die Stelle der den verwirrenden, unsicheren, missbrauchenden und inhumanen Praktiken innewohnenden Strafgesetze und Justizsysteme seiner Zeit zu setzen.''  (Monachesi 1972, S. 48; Übersetzung: H.B.) [3]
::''Der Beifall, den es [das Werk; H.B.] erhielt, beruhte nicht auf der exklusiven Originalität, tatsächlich wurden die von Beccaria verfochtenen Reformen von anderen aufgestellt, sondern weil es den ersten erfolgreichen Versuch darstellte, ein in sich konsistentes und logisches Strafsystem vorzustellen – ein Strafsystem, um es an die Stelle der den verwirrenden, unsicheren, missbrauchenden und inhumanen Praktiken innewohnenden Strafgesetze und Justizsysteme seiner Zeit zu setzen.''  (Monachesi 1972, S. 48; Übersetzung: H.B.) [3]
Die von Beccaria gegründete Klassische Schule der Kriminologie begründete ihrerseits noch keine eigenständige wissenschaftliche Disziplin, sondern folgte eher einer in dieser Epoche vorherrschenden utilitaristischen Strafrechtskritik. Weder sind spezielle Ansätze zur Untersuchung von Kriminalität ersichtlich noch differenzierte Erklärungsversuche zur Ursache von Kriminalität dargelegt worden. (vgl. Kunz 2008, S. 36 f.) Kriminologische Studien erscheinen vor diesem Hintergrund eher als zufällige Abschweifung der Bezugsdisziplinen als Teilgebiete einer souveränen und autonomen Wissenschaft zu sein.  
Die von Beccaria gegründete Klassische Schule der Kriminologie begründete ihrerseits noch keine eigenständige wissenschaftliche Disziplin, sondern folgte eher einer in dieser Epoche vorherrschenden utilitaristischen Strafrechtskritik. Weder sind spezielle Ansätze zur Untersuchung von Kriminalität ersichtlich noch differenzierte Erklärungsversuche zur Ursache von Kriminalität dargelegt worden. (vgl. Kunz 2008, S. 36 f.) Kriminologische Studien erscheinen vor diesem Hintergrund eher als zufällige Abschweifung der Bezugsdisziplinen als Teilgebiete einer souveränen und autonomen Wissenschaft.  


* '''Strafvollzugsreformen'''
* '''Strafvollzugsreformen'''
Frühe Bemühungen, den Strafvollzug humaner und vor allem sicherer zu gestalten, liegen bereits von [[John Howard]] (1726-1790) vor, der 1755 selbst wenige Tage in einem französischen Gefängnis festgehalten wurde und in späteren Jahren hunderte Gefängnisse in England und dem übrigen Europa besuchte. Als ''High Sheriff of Bedfordshire'' gelang es ihm, ab 1773 erste Strafvollzugsreformen in England durchzusetzen und mit seiner Schrift ''The State of the Prisons in England and Wales'' die unzumutbaren Zustände in Englands Gefängnissen in die öffentliche Diskussion zu tragen.
Frühe Bemühungen, den Strafvollzug humaner und vor allem sicherer zu gestalten, liegen bereits von [[John Howard]] (1726-1790) vor, der 1755 selbst wenige Tage in einem französischen Gefängnis festgehalten wurde und in späteren Jahren hunderte Gefängnisse in England und dem übrigen Europa besuchte. Als ''High Sheriff of Bedfordshire'' gelang es ihm, ab 1773 erste Strafvollzugsreformen in England durchzusetzen und mit seiner Schrift ''The State of the Prisons in England and Wales'' die unzumutbaren Zustände in Englands Gefängnissen in die öffentliche Diskussion zu tragen.
Seine Bemühungen wurden wenig später durch Jeremy Bentham fortgeführt, der die Strafreform nach dem Gesichtspunkt des Utilitarismus zur Zeit der Entstehung von Beccarias Denkschrift in Europa maßgeblich vorantrieb. Der englische Jurist und Ethiker versuchte u.a., ein utilitaristisches Ethiksystem zu entwickeln, um mit diesem der steigenden Kriminalität in England Herr zu werden. (vgl. Geis 1972, S. 54)
Seine Bemühungen wurden wenig später durch Jeremy Bentham fortgeführt, der die Strafreform nach dem Gesichtspunkt des Utilitarismus zur Zeit der Entstehung von Beccarias Denkschrift in Europa maßgeblich vorantrieb. Der englische Jurist und Ethiker versuchte u.a., ein utilitaristisches Ethiksystem zu entwickeln, um mit diesem der steigenden Kriminalität in England Herr zu werden. (vgl. Geis 1972, S. 54)
Eine Handlung war demnach nach Bentham nützlich, wenn sie dazu dienlich war, Positives zu produzieren oder das Eintreten von Negativem für diejenigen, für die die Handlung von Interesse war, zu verhindern. (vgl. Geis 1972, S. 54 f.) Bentham sah es dabei als Aufgabe der Strafgesetze an, unerwünschtes Verhalten durch geeignete Sanktionen zu verhindern. Um die Rechtsprechung und den Strafvollzug zu rationalisieren, sollten diese Gesetze [[Generalprävention|generalpräventiv]] wirken. (vgl. Geis 1972, S. 61) Eine besondere Form sowohl Effizienz mit Generalprävention zu verbinden, sah Bentham in Form des von ihm entwickelten Konzeptes des [[Panopticon|Panopticons]], das durch seine markante Bauweise und die vorgesehene stadtnahe Erbauung den Einwohnern der Stadt einerseits eine ständige Ermahnung zur Gesetzestreue andererseits durch die Form der Insassenkontrolle mit einem Minimum an Personal zu betreiben sein sollte. (vgl. Geis 1972, S. 64 ff.)
Nach Bentham war eine Handlung demnach nützlich, wenn sie dazu dienlich war, Positives zu produzieren oder das Eintreten von Negativem für diejenigen, für die die Handlung von Interesse war, zu verhindern. (vgl. Geis 1972, S. 54 f.) Bentham sah es dabei als Aufgabe der Strafgesetze an, unerwünschtes Verhalten durch geeignete Sanktionen zu verhindern. Um die Rechtsprechung und den Strafvollzug zu rationalisieren, sollten diese Gesetze [[Generalprävention|generalpräventiv]] wirken. (vgl. Geis 1972, S. 61) Eine besondere Form sowohl Effizienz mit Generalprävention zu verbinden, sah Bentham in Form des von ihm entwickelten Konzeptes des [[Panopticon|Panopticons]], das durch seine markante Bauweise und die vorgesehene stadtnahe Erbauung den Einwohnern der Stadt einerseits eine ständige Ermahnung zur Gesetzestreue andererseits durch die Form der Insassenkontrolle mit einem Minimum an Personal zu betreiben sein sollte. (vgl. Geis 1972, S. 64 ff.)
Bentham setzte sich mit seinen Reformbemühungen für gerechtere und humanere Strafen ein und etablierte letztendlich ein Strafsystem in England, das sich in der Folgezeit - auch mit Hilfe des Werkes von Beccaria - über den gesamten europäischen Kontinent ausbreitete. Bentham gilt daher durch seine vielen Reformbemühungen als einer der wichtigsten Sozialreformer im England des 19. Jahrhunderts.
Bentham setzte sich mit seinen Reformbemühungen für gerechtere und humanere Strafen ein und etablierte letztendlich ein Strafsystem in England, das sich in der Folgezeit - auch mit Hilfe des Werkes von Beccaria - über den gesamten europäischen Kontinent ausbreitete. Bentham gilt daher durch seine vielen Reformbemühungen als einer der wichtigsten Sozialreformer im England des 19. Jahrhunderts.


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=== Die Italienische Schule ===
=== Die Italienische Schule ===
Das ausgehende 19. Jahrhundert wird bestimmt durch den immer rascher erfolgenden Fortschritt in Bereich der Medizin und der biologischen Wissenschaften. Ende 1859 veröffentlichte [[Charles Darwin]] die Evolutionstheorie in seinem Werk ''Über die Entstehung der Arten'', das die Wissenschaftswelt revolutionieren sollte und die bis dato durch Religion und Kirche gesteckten Grenze zwischen Mensch und Tier zu verwischen drohte. Mit der Naturalisierung und Biologisierung der Identität des Menschen operierten Lombroso und seine Anhänger in der Grauzone dieses nunmehr nicht mehr eindeutigen Grenzbereiches. Beide Ereignisse bildeten den theoretischen-handwerklichen Unterbau für die sich nun entwickelnde  Italienische Schule und ihrem physiognomischen Denken.  (vgl. Person, 2006, S. 1)
Das ausgehende 19. Jahrhundert wird bestimmt durch den immer rascher erfolgenden Fortschritt im Bereich der Medizin und der biologischen Wissenschaften. Ende 1859 veröffentlichte [[Charles Darwin]] die Evolutionstheorie in seinem Werk ''Über die Entstehung der Arten'', das die Wissenschaftswelt revolutionieren sollte und die bis dato durch Religion und Kirche gesteckte Grenze zwischen Mensch und Tier zu verwischen drohte. Mit der Naturalisierung und Biologisierung der Identität des Menschen operierten Lombroso und seine Anhänger in der Grauzone dieses nunmehr nicht mehr eindeutigen Grenzbereiches. Beide Ereignisse bildeten den theoretischen-handwerklichen Unterbau für die sich nun entwickelnde  Italienische Schule und ihrem physiognomischen Denken.  (vgl. Person, 2006, S. 1)
Cesare Lombroso (1835-1909) war ein italienischer Psychiater und Begründer der Kriminalanthropologie, die die Lehre vom ''[[Verbrechermenschen|Verbrechermensch]]'' vertrat. Lombroso nahm an, dass Straftäter generell Angehörige eines besonderen Menschenschlages sind, geprägt von atavistischen Überbleibseln vergangener menschlicher Entwicklungsstadien. (vgl. Kaiser 1985, S. 18) Lombroso wurde bei der Entwicklung seiner Theorien von der Idee geleitet, dass sowohl das Temperament als auch die Lebensgestaltung eines Menschen durch seine körperliche Gestalt bedingt sei und insofern sich durch das eine auf das andere schließen ließe. (vgl. Hering 1966, S. 49) Aus den unterschiedlichen Merkmalen, die er anhand von anthropometrischen Untersuchungen von 1301 Straftätern und Nicht-Straftätern feststellte, entwickelte er letztendlich seine Lehre von ''Verbrechermenschen'', die er in seinem gleichnamigen Buch ''L'uomo delinquente'' 1876 veröffentlichte.
Cesare Lombroso (1835-1909) war ein italienischer Psychiater und Begründer der Kriminalanthropologie, die die Lehre vom ''[[Verbrechermenschen|Verbrechermensch]]'' vertrat. Lombroso nahm an, dass Straftäter generell Angehörige eines besonderen Menschenschlages sind, geprägt von atavistischen Überbleibseln vergangener menschlicher Entwicklungsstadien. (vgl. Kaiser 1985, S. 18) Lombroso wurde bei der Entwicklung seiner Theorien von der Idee geleitet, dass sowohl das Temperament als auch die Lebensgestaltung eines Menschen durch seine körperliche Gestalt bedingt sei und insofern sich durch das eine auf das andere schließen ließe. (vgl. Hering 1966, S. 49) Aus den unterschiedlichen Merkmalen, die er anhand von anthropometrischen Untersuchungen von 1301 Straftätern und Nicht-Straftätern feststellte, entwickelte er letztendlich seine Lehre von ''Verbrechermenschen'', die er in seinem gleichnamigen Buch ''L'uomo delinquente'' 1876 veröffentlichte.
Der ''Verbrechermensch'' von Geburt an organisch zum Verbrecher prädestiniert und sein Leben determiniert – er ''muss'' früher oder später zum Verbrecher werden, für den es sodann jedoch nur noch lebenslange Gefangenschaft oder die Todesstrafe gebe. (vgl. Schwind 2001, S. 91) In seinem Werk verweist Lombroso auf morphologische Kennzeichen für Straftäter, d.h. auf Abweichungen in der Form von bestimmten Körperteilen wie bspw.  einer fliehenden Stirn, Größe der Augenhöhlen aber auch der Schädelform allgemein, wie sie von der Lehre der Phrenologie um den deutschen Arzt [[Franz Joseph Gall]] (1758-1828) bereits Jahrzehnte vor Lombroso mit geringer Akzeptanz betrieben wurde. (Strasser 1980, S. 50) Die morphologischen Kennzeichen erstrecken sich mit zunehmender Ausprägung der Lehre Lombrosos über den gesamten menschlichen Körper und schließen letztlich auch psychische Merkmale wie Leichtsinn, Trägheit oder auch herabgesetzte Schmerzempfindlichkeit mit ein. (vgl. Hering 1966, S. 50) Obwohl oder auch gerade weil die Zahl seiner Kritiker, insbesondere der der Französischen Schule um [[Lacassagne]] und [[Tarde]], groß war, entwickelte Lombroso seine Theorie beständig fort und bezog in den folgenden Jahren auch soziale Komponenten und andere Bezugswissenschaften in seine Lehre mit ein.
Der ''Verbrechermensch'' von Geburt an organisch zum Verbrecher prädestiniert und sein Leben determiniert – er ''muss'' früher oder später zum Verbrecher werden, für den es sodann jedoch nur noch lebenslange Gefangenschaft oder die Todesstrafe gebe. (vgl. Schwind 2001, S. 91) In seinem Werk verweist Lombroso auf morphologische Kennzeichen für Straftäter, d.h. auf Abweichungen in der Form von bestimmten Körperteilen wie bspw.  einer fliehenden Stirn, Größe der Augenhöhlen aber auch der Schädelform allgemein, wie sie von der Lehre der Phrenologie um den deutschen Arzt [[Franz Joseph Gall]] (1758-1828) bereits Jahrzehnte vor Lombroso mit geringer Akzeptanz betrieben wurde. (Strasser 1980, S. 50) Die morphologischen Kennzeichen erstrecken sich mit zunehmender Ausprägung der Lehre Lombrosos über den gesamten menschlichen Körper und schließen letztlich auch psychische Merkmale wie Leichtsinn, Trägheit oder auch herabgesetzte Schmerzempfindlichkeit mit ein. (vgl. Hering 1966, S. 50) Obwohl oder auch gerade weil die Zahl seiner Kritiker, insbesondere der der Französischen Schule um [[Lacassagne]] und [[Tarde]], groß war, entwickelte Lombroso seine Theorie beständig fort und bezog in den folgenden Jahren auch soziale Komponenten und andere Bezugswissenschaften in seine Lehre mit ein.


Zu den Anhängern und Verfechter der Lehre Lombrosos gehörten neben dem deutschen Neurologen und Psychiater [[Hans Kurella]] (* 20. Februar 1858 in Mainz; † 25. Oktober 1916 in Dresden) auch der italienische Politiker [[Enrico Ferri]] (1856-1929) und der italienische Jurist [[Raffaele Garofalo]] (1851-1934). Während Garofalo der von Lombroso vorgegebenen anthropologischen Richtung folgte, erkannte Ferri früh, dass die Studien Lombrosos, die sich zunächst nur auf die Person des Verbrechers, d.h. auf Strafgefangene oder Insassen von den damals so bezeichneten ''Irrenanstalten'' erstreckten, auf einer zu kleinen wissenschaftlichen Basis standen. Eine Studienreise nach Frankreich, in der er die französische Kriminalstatistiken von über einem halben Jahrhundert analysierte, befähigten ihn, Lombrosos Ansichten zur Kriminogenese deutich zu erweitern. (vgl. Hering 1966, S. 61) Ferri sah im Laufe seiner Arbeiten neben einem anthropologischem Faktor bald auch einen soziologischem Faktor für die Entstehung von Straftätern als gegeben an (Hering 1966, S. 61), wobei er jedoch rein soziologische Erklärungsmodelle ablehnt. Trotz dieser Ansicht näherte er sich stets weiter den Sozialwissenschaften an und sieht letztendlich die Kriminalanthropologie und die Kriminalstatistik sowie das Strafrecht mit ihren Funktionen als Teilgebiete der von ihm gegründeten neuen wissenschaftlichen Disziplin der Kriminalsoziologie an. (vgl. Hering 1966, S. 73)  
Zu den Anhängern und Verfechtern der Lehre Lombrosos gehörten neben dem deutschen Neurologen und Psychiater [[Hans Kurella]] (* 20. Februar 1858 in Mainz; † 25. Oktober 1916 in Dresden) auch der italienische Politiker [[Enrico Ferri]] (1856-1929) und der italienische Jurist [[Raffaele Garofalo]] (1851-1934). Während Garofalo der von Lombroso vorgegebenen anthropologischen Richtung folgte, erkannte Ferri früh, dass die Studien Lombrosos, die sich zunächst nur auf die Person des Verbrechers, d.h. auf Strafgefangene oder Insassen von den damals so bezeichneten ''Irrenanstalten'' erstreckten, auf einer zu kleinen wissenschaftlichen Basis standen. Eine Studienreise nach Frankreich, in der er die französischen Kriminalstatistiken von über einem halben Jahrhundert analysierte, befähigten ihn, Lombrosos Ansichten zur Kriminogenese deutich zu erweitern. (vgl. Hering 1966, S. 61) Ferri sah im Laufe seiner Arbeiten neben einem anthropologischem Faktor bald auch einen soziologischen Faktor für die Entstehung von Straftätern als gegeben an (Hering 1966, S. 61), wobei er jedoch rein soziologische Erklärungsmodelle ablehnt. Trotz dieser Ansicht näherte er sich stets weiter den Sozialwissenschaften an und sieht letztendlich die Kriminalanthropologie und die Kriminalstatistik sowie das Strafrecht mit ihren Funktionen als Teilgebiete der von ihm gegründeten neuen wissenschaftlichen Disziplin der Kriminalsoziologie an. (vgl. Hering 1966, S. 73)


=== Die Französische Schule ===
=== Die Französische Schule ===
Nur wenige Jahre nachdem die Theorie vom Lombrosos ''Verbrechermensch'' und Ferris ''geborenem Verbrecher'' veröffentlicht waren, wurde sie bereits durch die These vom ''sozialem Milieu'' heftig angegriffen. Die Theorie besagte, dass die Umgebung eines Menschen für dessen Eigenarten verantwortlich war. Der Mensch ist demnach nichts ohne die gesellschaftlichen Lebens- und Entwicklungsbedingungen, in die er hineingestellt wurde. (vgl. Hering 1966, S. 93) Im Gegensatz zum biologistischen Determinismus der Italienischen Schule, war der Mensch im ''sozialen Milieu'' nur durch eben dieses bestimmt. Demnach brauchten sich nur Umweltbedingungen, in denen sich ein Straftäter aufhielt, zu ändern, um einen Persönlichkeitswandel herbeizuführen. (vgl. Hering 1966, S. 93) Hauptvertreter dieses soziologischen Ansatzes waren Gabriel Tarde (1843-1904) und vor allem Alexandre Lacassagne (1843-1924). Sie bemühten sich zu beweisen, dass der Verbrecher gerade nicht als solcher geboren, sondern vielmehr ein Produkt des ihn umgebenden gesellschaftlichen Milieus ist. (Hering 1966, S. 93 ff.) Lacassagne erkennt in der Ätiologie des Verbrechers zwei Ursachen: den individuellen und den - aus seiner Sicht bedeutenderen - sozialen Faktor.
Nur wenige Jahre nachdem die Theorie von Lombrosos ''Verbrechermensch'' und Ferris ''geborenem Verbrecher'' veröffentlicht waren, wurde sie bereits durch die These vom ''sozialen Milieu'' heftig angegriffen. Die Theorie besagte, dass die Umgebung eines Menschen für dessen Eigenarten verantwortlich war. Der Mensch ist demnach nichts ohne die gesellschaftlichen Lebens- und Entwicklungsbedingungen, in die er hineingestellt wurde. (vgl. Hering 1966, S. 93) Im Gegensatz zum biologistischen Determinismus der Italienischen Schule, war der Mensch im ''sozialen Milieu'' nur durch eben dieses bestimmt. Demnach brauchten sich nur Umweltbedingungen, in denen sich ein Straftäter aufhielt, zu ändern, um einen Persönlichkeitswandel herbeizuführen. (vgl. Hering 1966, S. 93) Hauptvertreter dieses soziologischen Ansatzes waren Gabriel Tarde (1843-1904) und vor allem Alexandre Lacassagne (1843-1924). Sie bemühten sich zu beweisen, dass der Verbrecher gerade nicht als solcher geboren, sondern vielmehr ein Produkt des ihn umgebenden gesellschaftlichen Milieus ist. (Hering 1966, S. 93 ff.) Lacassagne erkennt in der Ätiologie des Verbrechers zwei Ursachen: den individuellen und den - aus seiner Sicht bedeutenderen - sozialen Faktor.
Versuchte Lacassagne noch, mit der Untersuchung und Analyse von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und ihren Einfluss auf die Entstehung von Kriminalität der Italienischen Schule den Rang abzulaufen, argumentierte Tarde direkt gegen sie. (Hering 1966, S. 101 ff.) Tarde entwickelte schließlich eigene Theorien, die Soziologie und Psychologie miteinander verbanden und sowohl die ''Nachahmung'' als auch die Gelegenheit als Triebkraft und Grundbedingung aller sozialen Phänomene vorstellt. (vgl. Wilson Vine 1972, 293 f.)  
Versuchte Lacassagne noch, mit der Untersuchung und Analyse von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und ihren Einfluss auf die Entstehung von Kriminalität der Italienischen Schule den Rang abzulaufen, argumentierte Tarde direkt gegen sie. (Hering 1966, S. 101 ff.) Tarde entwickelte schließlich eigene Theorien, die Soziologie und Psychologie miteinander verbanden und sowohl die ''Nachahmung'' als auch die Gelegenheit als Triebkraft und Grundbedingung aller sozialen Phänomene vorstellt. (vgl. Wilson Vine 1972, 293 f.)


== Der Mythos Lombroso? ==
== Der Mythos Lombroso? ==
Bereits dieser kurze Abriss der hellsten Schlaglichter in der Kriminologiegeschichte zeigt, dass kriminologische Studien und Untersuchungen bereits viel älter sind als die wissenschaftliche Kriminologie selbst. Die breite Palette an Bezugswissenschaften der Kriminologie lässt dabei ihre Wegbereiter unübersichtlich und widerläufig erscheinen. Ohne Frage wurde die Entwicklungsgeschichte der Kriminologie von zahlreichen Gelehrten und  Wissenschaftlern geprägt, die allesamt und auf ihre Weise einen Beitrag für die Institutionalisierung und Konsolidierung der Kriminologie als eigenständige Wissenschaft geleistet haben, einer Wissenschaft, die nicht nur wissenschaftliche Vernunft, sondern auch menschliche Moral miteinander verbindet. (Strasser, 1980, S. 7) Dies mag letztlich der Grund dafür sein, warum dass keine Person in der Geschichte der Kriminologie dermaßen umstritten, kein Name dermaßen gepriesen und gleichzeitig so heftigen Angriffen ausgesetzt ist wie der Lombrosos. Auch wenn seine Lehre vom biologischem Determinismus sich an dem wissenschaftlichen Selbstverständnis der Kriminologie stößt und ihr die Diskrepanz zwischen Selbstbild und tatsächlicher Realität vor Augen führt, kein Gelehrter und Wissenschaftler vor Lombroso lieferten nur unvollständige Gesichtspunkte und uneinheitliche Schilderungen vor dem Hintergrund mangelhafter empirischer Grundlagen. Lombroso war der erste der ernsthafte, systematische, dem wissenschaftlichen Standard genügende Ursachenforschung gerade aus dem Grunde betrieb, die Ursache der Kriminalität zu erhellen (Hering 1966, S. 47). Spricht nun auch viel für Lombroso als Gründungsvater der Kriminologie, so ist doch zweifellos, dass es, wie Lindesmith und Levin es hervorheben, zahllose Gelehrte vor Lombroso gab, die kriminologische Studien unternahmen. Lombroso als ''ersten Kriminologen'' zu benennen wäre vor diesem Hintergrund eine unzulässige Verkürzung der geschichtlichen Zusammenhänge – hinge aber auch ganz entscheidend von der persönlichen Definition des Kriminologiebegriffes ab.
Bereits dieser kurze Abriss der hellsten Schlaglichter in der Kriminologiegeschichte zeigt, dass kriminologische Studien und Untersuchungen bereits viel älter sind als die wissenschaftliche Kriminologie selbst. Die breite Palette an Bezugswissenschaften der Kriminologie lässt dabei ihre wegbereitenden Entwicklungen unübersichtlich und sogar widerläufig erscheinen. Ohne Frage wurde die Entwicklungsgeschichte der Kriminologie von zahlreichen Gelehrten und  Wissenschaftlern geprägt, die allesamt und auf ihre Weise einen Beitrag für die Institutionalisierung und Konsolidierung der Kriminologie als eigenständige Wissenschaft geleistet haben, einer Wissenschaft, die nicht nur wissenschaftliche Vernunft, sondern auch menschliche Moral miteinander verbindet. (Strasser, 1980, S. 7) Dies mag letztlich der Grund dafür sein, warum keine Person in der Geschichte der Kriminologie dermaßen umstritten, kein Name dermaßen gepriesen und gleichzeitig so heftigen Angriffen ausgesetzt ist wie der Lombrosos. Auch wenn seine Lehre vom biologischem Determinismus sich an dem wissenschaftlichen Selbstverständnis der Kriminologie stößt und ihr die Diskrepanz zwischen Selbstbild und tatsächlicher Realität vor Augen führt, kein Gelehrter und Wissenschaftler vor Lombroso lieferte vollständige Gesichtspunkte und einheitliche Schilderungen vor dem Hintergrund ausreichender empirischer Grundlagen. Lombroso war der erste, der ernsthafte, systematische, dem wissenschaftlichen Standard genügende Ursachenforschung gerade aus dem Grunde betrieb, die Ursache der Kriminalität zu erhellen (Hering 1966, S. 47). Spricht nun auch viel für Lombroso als Gründungsvater der Kriminologie, so ist doch zweifellos, dass es, wie Lindesmith und Levin es hervorheben, zahllose Gelehrte vor Lombroso gab, die kriminologische Studien unternahmen. Lombroso als ''ersten Kriminologen'' zu benennen wäre vor diesem Hintergrund eine unzulässige Verkürzung der geschichtlichen Zusammenhänge – hinge aber auch ganz entscheidend von der persönlichen Definition des Kriminologiebegriffes ab.


== Zitate ==
== Zitate ==
''Im Widerspruch zu den sich im Umlauf befindlichen Behauptungen, welche von der Entwicklung vom "Umweltansatz" bis zur Kriminalitätsforschung als eine des 20. Jahrhunderts sprechen, glauben wir ausreichend dargestellt zu haben, dass der Ansatz  im frühen 19. Jahrhundert von Gelehrten in verschiedenen Ländern, die jeweils um die Arbeiten des anderen wussten, systematisch angewandt wurde. Die erste systematische Studie in diesem Bereich wurde offensichtlich in Frankreich von A. M. Guerry und in Belgien von A. Quetelet in den 1830er Jahren betrieben. (Lindesmith/Levin 1937a, S. 815; Übersetzung: H.B.) [2]  
''Im Widerspruch zu den sich im Umlauf befindlichen Behauptungen, welche von der Entwicklung vom "Umweltansatz" bis zur Kriminalitätsforschung als eine Entwicklung des 20. Jahrhunderts sprechen, glauben wir ausreichend dargestellt zu haben, dass der Ansatz  im frühen 19. Jahrhundert von Gelehrten in verschiedenen Ländern, die jeweils um die Arbeiten des anderen wussten, systematisch angewandt wurde. Die erste systematische Studie in diesem Bereich wurde offensichtlich in Frankreich von A. M. Guerry und in Belgien von A. Quetelet in den 1830er Jahren betrieben. (Lindesmith/Levin 1937a, S. 815; Übersetzung: H.B.) [2]  


''Es kommt nicht so sehr darauf an, Beccaria vielleicht zum Begründer der Kriminologie küren zu wollen. Das dürfte aus verschiedenen Gründen so eindeutig nicht möglich sein, insbesondere angesichts seiner weitreichenden Rezeption gesellschaftstheoretischen (incl. Kriminologischen) Gedankenguts anderer Köpfe der Aufklärung sowie der nur punktuellen, unsystematischen, mehr prosaisch als theoretisch gefaßten Äußerungen kriminologischen Charakters. (Kräupl, 1989, S. 150)
''Es kommt nicht so sehr darauf an, Beccaria vielleicht zum Begründer der Kriminologie küren zu wollen. Das dürfte aus verschiedenen Gründen so eindeutig nicht möglich sein, insbesondere angesichts seiner weitreichenden Rezeption gesellschaftstheoretischen (incl. Kriminologischen) Gedankenguts anderer Köpfe der Aufklärung sowie der nur punktuellen, unsystematischen, mehr prosaisch als theoretisch gefaßten Äußerungen kriminologischen Charakters. (Kräupl, 1989, S. 150)
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[[Kategorie:Geschichte der Kriminologie]]
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[[Kategorie:Wissenschaftliches Werk]]
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[[Kategorie:Leistungsnachweis]]
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