Kritik der Polizei bei Walter Benjamin und Giorgio Agamben: Unterschied zwischen den Versionen

K
keine Bearbeitungszusammenfassung
K
K
Zeile 11: Zeile 11:
=== '''Formales, Zeit- und theoretischer Kontext''' ===
=== '''Formales, Zeit- und theoretischer Kontext''' ===
----
----
Walter Benjamin verfasste den Essay Zur Kritik der Gewalt während der Jahreswende 1920/21 (vgl. Honneth 2011: 193). Die bekannteste und am häufigsten zitierte Version des Textes befindet sich in Band 2.1 von Walter Benjamins Gesammelten Schriften, die 1991 von Rolf Tiedemann und Hermann Schwepenhäuser im Frankfurter Suhrkamp Verlag publiziert wurden (vgl. Benjamin 1991). Vermutlich plante Benjamin, der sich Anfang der 1920er Jahre verstärkt mit politischen Fragen auseinandersetzte, den Essay als Teil einer längeren Abhandlung über Politik, die aber unausgeführt bleiben sollte (vgl. Honneth 2011: 193; Saar 2006: 113). Wenige Jahre nach Ende des [http://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Weltkrieg Ersten Weltkriegs] und der [http://de.wikipedia.org/wiki/Novemberrevolution Novemberrevolution] im [http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsches_Reich Deutschen Reich] (1918) sowie den russischen Revolutionen und dem darauf folgenden Bürgerkrieg (1917-1921) befand sich „das europäische Modell der bürgerlichen, liberalen und parlamentarischen Demokratie“ (Derrida 1991: 66) und die damit verbundene Vorstellung von einem Rechtsstaat in einer tiefen Krise. Neben der Analyse dieses Zustandes forderte zu dieser Zeit insbesondere die Frage nach der rechtlichen Legitimität außerstaatlicher, revolutionärer Gewalt die Rechtstheoretiker_Innen, Politiker_Innen und politischen Philosoph_Innen heraus (vgl. Honneth: 193; 200). Auch Walter Benjamin reflektierte in seinem Text, mit Rückgriff auf die Schriften der politischen Theoretiker_Innen [http://de.wikipedia.org/wiki/Charles_P%C3%A9guy Charles Péguy], [http://de.wikipedia.org/wiki/Georges_Sorel Georges Sorel] und Ernst Unger, über diese besondere gesellschaftliche Konstellation (vgl. Honneth 2011: 193f.). Das zeigt sich unter anderem bei der Auswahl der von ihm verwendeten Beispiele des [http://de.wikipedia.org/wiki/Streikrecht#Streikrecht_in_Deutschland Streikrechts] und des revolutionären [http://de.wikipedia.org/wiki/Generalstreik Generalstreiks] oder seiner scharfen Kritik an der damaligen Polizei. Am deutlichsten tritt es am Ende des Essays hervor, wo Benjamin die eigentliche Fragestellung des Essays diskutiert:
Walter Benjamin verfasste den Essay Zur Kritik der Gewalt während der Jahreswende 1920/21 (vgl. Honneth 2011: 193). Die bekannteste und am häufigsten zitierte Version des Textes befindet sich in Band 2.1 von Walter Benjamins Gesammelten Schriften, die 1991 von Rolf Tiedemann und Hermann Schwepenhäuser im Frankfurter Suhrkamp Verlag publiziert wurden (vgl. Benjamin 1991). Vermutlich plante Benjamin, der sich Anfang der 1920er Jahre verstärkt mit politischen Fragen auseinandersetzte, den Essay als Teil einer längeren Abhandlung über Politik, die aber unausgeführt bleiben sollte (vgl. Honneth 2011: 193; Saar 2006: 113). Wenige Jahre nach Ende des [http://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Weltkrieg Ersten Weltkriegs] und der [http://de.wikipedia.org/wiki/Novemberrevolution Novemberrevolution] im [http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsches_Reich Deutschen Reich] (1918) sowie den russischen Revolutionen und dem darauf folgenden [http://de.wikipedia.org/wiki/Russischer_B%C3%BCrgerkrieg Bürgerkrieg] (1917-1921) befand sich „das europäische Modell der bürgerlichen, liberalen und parlamentarischen Demokratie“ (Derrida 1991: 66) und die damit verbundene Vorstellung von einem [http://de.wikipedia.org/wiki/Rechtsstaat Rechtsstaat] in einer tiefen Krise. Neben der Analyse dieses Zustandes forderte zu dieser Zeit insbesondere die Frage nach der rechtlichen Legitimität außerstaatlicher, revolutionärer Gewalt die Rechtstheoretiker_Innen, Politiker_Innen und politischen Philosoph_Innen heraus (vgl. Honneth: 193; 200). Auch Walter Benjamin reflektierte in seinem Text, mit Rückgriff auf die Schriften der politischen Theoretiker_Innen [http://de.wikipedia.org/wiki/Charles_P%C3%A9guy Charles Péguy], [http://de.wikipedia.org/wiki/Georges_Sorel Georges Sorel] und Ernst Unger, über diese besondere gesellschaftliche Konstellation (vgl. Honneth 2011: 193f.). Das zeigt sich unter anderem bei der Auswahl der von ihm verwendeten Beispiele des [http://de.wikipedia.org/wiki/Streikrecht#Streikrecht_in_Deutschland Streikrechts] und des revolutionären [http://de.wikipedia.org/wiki/Generalstreik Generalstreiks] oder seiner scharfen Kritik an der damaligen Polizei. Am deutlichsten tritt es am Ende des Essays hervor, wo Benjamin die eigentliche Fragestellung des Essays diskutiert:
„Sein [Benjamins] eigentliches Thema ist ersichtlich nicht das der Stellung der Gewalt im modernen Recht; auch widmet er sich im weiteren nicht einfach der Frage nach der Gewalt des Rechts, die er vielmehr wie selbstverständlich für positiv beantwortet hält; ihn beschäftigt letztlich eine Quelle und Form von Gewalt, die von so umstürzlerischer Art ist, daß sie der gewaltsamen Institution des Rechts im Ganzen ein Ende bereiten kann.“ (Honneth 2011: 193)
„Sein [Benjamins] eigentliches Thema ist ersichtlich nicht das der Stellung der Gewalt im modernen Recht; auch widmet er sich im weiteren nicht einfach der Frage nach der Gewalt des Rechts, die er vielmehr wie selbstverständlich für positiv beantwortet hält; ihn beschäftigt letztlich eine Quelle und Form von Gewalt, die von so umstürzlerischer Art ist, daß sie der gewaltsamen Institution des Rechts im Ganzen ein Ende bereiten kann.“ (Honneth 2011: 193)


Zeile 50: Zeile 50:
Agambens Text ''Souveräne Polizei'' wurde 2001 in seinem Sammelband Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik im diaphanes-Verlag publiziert (vgl. Agamben 2001). Die italienische Erstausgabe des Bandes (Mezzi senza fine – Note sulla politica) erschien fünf Jahre zuvor im Verlag Bolla Boringhieri. In den zum großen Teil fragmentarisch gehaltenen Texten in Mittel ohne Zweck formuliert Agamben „eine radikale Kritik von Politik im Zeitalter entleerter Kategorien“ (Agamben 2001: Klappentext). Als Grundlage hierfür analysiert er mit Rückbezug auf Theorien von [http://de.wikipedia.org/wiki/Hannah_Arendt Hannah Arendt], [[Carl Schmitt]], [[Michel Foucault]] und [[Walter Benjamin]] aktuelle politische Ereignisse. Damit zeigt Agamben neue Perspektiven und Fragestellungen auf das Politische im 21. Jahrhundert auf (Agamben 2001: 9, Vorbemerkungen von Mittel ohne Zweck).  
Agambens Text ''Souveräne Polizei'' wurde 2001 in seinem Sammelband Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik im diaphanes-Verlag publiziert (vgl. Agamben 2001). Die italienische Erstausgabe des Bandes (Mezzi senza fine – Note sulla politica) erschien fünf Jahre zuvor im Verlag Bolla Boringhieri. In den zum großen Teil fragmentarisch gehaltenen Texten in Mittel ohne Zweck formuliert Agamben „eine radikale Kritik von Politik im Zeitalter entleerter Kategorien“ (Agamben 2001: Klappentext). Als Grundlage hierfür analysiert er mit Rückbezug auf Theorien von [http://de.wikipedia.org/wiki/Hannah_Arendt Hannah Arendt], [[Carl Schmitt]], [[Michel Foucault]] und [[Walter Benjamin]] aktuelle politische Ereignisse. Damit zeigt Agamben neue Perspektiven und Fragestellungen auf das Politische im 21. Jahrhundert auf (Agamben 2001: 9, Vorbemerkungen von Mittel ohne Zweck).  


Die Kritik an zeitgenössischen politischen Vorstellungen und Ereignissen durchzieht das gesamte Werk Agambens (vgl. Steinhauer 2010: 207). Auch in Souveräne Polizei nimmt er gleich zu Beginn des Textes Bezug auf eine konkrete politische Situation: Das Verhältnis von Souverän und Polizei im Rahmen des Zweiten Golfkriegs (1990/91) und die von George H. W. Bush Senior proklamierte [http://de.wikipedia.org/wiki/Neue_Weltordnung New World Order] nach Ende des [http://de.wikipedia.org/wiki/Kalter_Krieg Kalten Krieges] sind der historische Gegenstand, den Agamben zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nimmt (vgl. Agamben 2001: 99).
Die Kritik an zeitgenössischen politischen Vorstellungen und Ereignissen durchzieht das gesamte Werk Agambens (vgl. Steinhauer 2010: 207). Auch in Souveräne Polizei nimmt er gleich zu Beginn des Textes Bezug auf eine konkrete politische Situation: Das Verhältnis von Souverän und Polizei im Rahmen des [http://de.wikipedia.org/wiki/Zweiter_Golfkrieg Zweiten Golfkriegs] (1990/91) und die von George H. W. Bush Senior proklamierte [http://de.wikipedia.org/wiki/Neue_Weltordnung New World Order] nach Ende des [http://de.wikipedia.org/wiki/Kalter_Krieg Kalten Krieges] sind der historische Gegenstand, den Agamben zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nimmt (vgl. Agamben 2001: 99).


=== '''Die Stellung des Texts im Werk Agambens''' ===
=== '''Die Stellung des Texts im Werk Agambens''' ===
Zeile 71: Zeile 71:
Der „endgültige Eingang der Souverenität in die Gestalt der Polizei“ (Agamben 20012: 99) macht für Agamben neben dem drohenden Charakter auch die „Kriminalisierung des Gegners“ erforderlich. Zur Veranschaulichung seines Aspektes unterscheidet er zwischen der Situation vor Ende des Ersten Weltkrieges und die Zeit danach. Dabei bezieht er sich bei der Beschreibung der Zustands bis Ende des Ersten Weltkrieges auf [http://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Schmitt Carl Schmitt]. Demnach sei es nich möglich gewesen, über die Herrscher eines verfeindeten Staates als Kriminelle zu urteilen. Dieses Prinzip par in par non habet iurisdictionem sieht Schmitt im [http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4isches_Recht Europäischen Recht] verankert.So habe auch eine Kriegserklärung bis dahin nicht die Aufhebung dieses Prinzips bedeutet – somit fand der Konflikt gegen einen „als gleichwertig anerkannten Feind nach präzisen Regeln“ statt (Agamben 2001: 101).  
Der „endgültige Eingang der Souverenität in die Gestalt der Polizei“ (Agamben 20012: 99) macht für Agamben neben dem drohenden Charakter auch die „Kriminalisierung des Gegners“ erforderlich. Zur Veranschaulichung seines Aspektes unterscheidet er zwischen der Situation vor Ende des Ersten Weltkrieges und die Zeit danach. Dabei bezieht er sich bei der Beschreibung der Zustands bis Ende des Ersten Weltkrieges auf [http://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Schmitt Carl Schmitt]. Demnach sei es nich möglich gewesen, über die Herrscher eines verfeindeten Staates als Kriminelle zu urteilen. Dieses Prinzip par in par non habet iurisdictionem sieht Schmitt im [http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4isches_Recht Europäischen Recht] verankert.So habe auch eine Kriegserklärung bis dahin nicht die Aufhebung dieses Prinzips bedeutet – somit fand der Konflikt gegen einen „als gleichwertig anerkannten Feind nach präzisen Regeln“ statt (Agamben 2001: 101).  
Konnte demnach also kein „souveräner Staat über einen anderen zu Gericht sitzen“ (ebd.)  
Konnte demnach also kein „souveräner Staat über einen anderen zu Gericht sitzen“ (ebd.)  
Das änderte sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs: Von nun an sei eine Entwicklung zu beobachten gewesen, die es einem souveränen Staat ermöglichte, über einen anderen Souverän zu richten (Vgl. Agamben 2001: 101f). Dazu wird nach Agamben der Feind zunächst deklariert,  aus der zivilisierten Menschehiet ausgeschlossen und als kriminell abgestempelt. In einem zweiten Schritt werde der Feind in einer Polizeioperation, die keinen Rechten und Regeln mehr unterliegt, vernichtet. Dabei könne sich die Kriminalisierung des Feindes aber auch jederzeit gegen den Souverän selbst richten, schreibt Agamben (Vgl. Agamben 2001: 102). „Heute gibt es auf der Welt nicht ein Staatsoberhaupt, das nicht in diesem Sinne potentiell ein Verbrecher wäre“ (ebd.). (SOLL HIER NOCH DIE VERBRECHER NÄHE HIN?)
Das änderte sich nach dem Ende des [http://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Weltkrieg Ersten Weltkriegs]: Von nun an sei eine Entwicklung zu beobachten gewesen, die es einem souveränen Staat ermöglichte, über einen anderen [http://de.wikipedia.org/wiki/Souver%C3%A4n Souverän] zu richten (Vgl. Agamben 2001: 101f). Dazu wird nach Agamben der Feind zunächst deklariert,  aus der zivilisierten Menschehiet ausgeschlossen und als kriminell abgestempelt. In einem zweiten Schritt werde der Feind in einer Polizeioperation, die keinen Rechten und Regeln mehr unterliegt, vernichtet. Dabei könne sich die Kriminalisierung des Feindes aber auch jederzeit gegen den Souverän selbst richten, schreibt Agamben (Vgl. Agamben 2001: 102). „Heute gibt es auf der Welt nicht ein Staatsoberhaupt, das nicht in diesem Sinne potentiell ein Verbrecher wäre“ (ebd.). (SOLL HIER NOCH DIE VERBRECHER NÄHE HIN?)




34

Bearbeitungen