Kritik der Polizei bei Walter Benjamin und Giorgio Agamben: Unterschied zwischen den Versionen

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Konnte demnach also kein „souveräner Staat über einen anderen zu Gericht sitzen“ (ebd.)  
Konnte demnach also kein „souveräner Staat über einen anderen zu Gericht sitzen“ (ebd.)  
Das änderte sich nach dem Ende des [http://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Weltkrieg Ersten Weltkriegs]: Von nun an sei eine Entwicklung zu beobachten gewesen, die es einem souveränen Staat ermöglichte, über einen anderen [http://de.wikipedia.org/wiki/Souver%C3%A4n Souverän] zu richten (Vgl. Agamben 2001: 101f). Dazu wird nach Agamben der Feind zunächst deklariert,  aus der zivilisierten Menschehiet ausgeschlossen und als kriminell abgestempelt. In einem zweiten Schritt werde der Feind in einer Polizeioperation, die keinen Rechten und Regeln mehr unterliegt, vernichtet. Dabei könne sich die Kriminalisierung des Feindes aber auch jederzeit gegen den Souverän selbst richten, schreibt Agamben (Vgl. Agamben 2001: 102). „Heute gibt es auf der Welt nicht ein Staatsoberhaupt, das nicht in diesem Sinne potentiell ein Verbrecher wäre“ (ebd.). (SOLL HIER NOCH DIE VERBRECHER NÄHE HIN?)
Das änderte sich nach dem Ende des [http://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Weltkrieg Ersten Weltkriegs]: Von nun an sei eine Entwicklung zu beobachten gewesen, die es einem souveränen Staat ermöglichte, über einen anderen [http://de.wikipedia.org/wiki/Souver%C3%A4n Souverän] zu richten (Vgl. Agamben 2001: 101f). Dazu wird nach Agamben der Feind zunächst deklariert,  aus der zivilisierten Menschehiet ausgeschlossen und als kriminell abgestempelt. In einem zweiten Schritt werde der Feind in einer Polizeioperation, die keinen Rechten und Regeln mehr unterliegt, vernichtet. Dabei könne sich die Kriminalisierung des Feindes aber auch jederzeit gegen den Souverän selbst richten, schreibt Agamben (Vgl. Agamben 2001: 102). „Heute gibt es auf der Welt nicht ein Staatsoberhaupt, das nicht in diesem Sinne potentiell ein Verbrecher wäre“ (ebd.). (SOLL HIER NOCH DIE VERBRECHER NÄHE HIN?)
== '''Fazit, Kritik und Weiterführungen''' ==
=== '''Über die Art der Kritik an Polizei und Rechtsstaat''' ===
==== '''Kritik der Polizei als eine Kritik der Rechtsordnung als Ganzes oder der Souveränität''' ====
Sowohl Walter Benjamin in seinem Essay Zur Kritik der Gewalt als auch Giorgio Agamben in dem Text Souveräne Polizei formulieren keine für sich allein stehende Kritik an der Polizei. In beiden Fällen ist diese eingebettet in den Rahmen einer fundamentalen Kritik an der Rechtsordnung. Obwohl die Beispiele, auf die Benjamin und Agamben Bezug nehmen, aus unterschiedlichen Zeitkontexten stammen, ermöglicht ihre grundlegende Kritik ein gemeinsam geteiltes pessimistisches Fazit.
In seinem Essay bestätigt Benjamin mithilfe der Überlegungen zur Polizei seine Hauptthese im Bereich der rechtserhaltenden Gewalt. Auf diese Weise verfolgt er sein Ziel einer „Kritik des Rechts im Ganzen“ (Honneth 2011: 209, vgl. Saar 2006; Marcuse 1975). Benjamins radikale Kritik der Rechtsordnung geht in seiner Argumentation über in eine grundsätzliche „Infragestellung der gesellschaftlichen und geschichtlichen Mächte“ (Saar 2006: 116) seiner Zeit. Auch Agambens Polizeikritik ist ein einzelnes Fragment seiner grundlegenden Kritik an der Souveränität. Er stellt in seinem Text die strukturellen und wesentlichen Zusammenhänge zwischen Souverän und Polizei sowie Recht und Gewalt dar. Gegenstand seiner Kritik ist dementsprechend bereits deren strukturelle und latente Beziehung – nicht erst ihr Zusammenfallen in der Ununterscheidbarkeit des Ausnahmezustandes (vgl. Loick 2012: 230).
==== '''Maßstab der Kritik und Geschichtsphilosophie''' ====
Auch bezüglich des Maßstabs und der Verwendung von Beispielen lassen sich Gemeinsamkeiten bei Benjamin und Agamben ausmachen. Beide argumentieren geschichtsphilosophisch und beziehen sich auf historische Gegebenheiten. Benjamin verweist explizit darauf, dass die Kritik der Gewalt „die Philosophie ihrer Geschichte“ (Benjamin 1991: 202) sei. Nach Abschluss seiner immanenten Kritik des Rechts versucht er mithilfe dieser geschichtsphilosophischen Perspektive einen externen, transzendierenden Standpunkt der Kritik außerhalb der Rechtsordnung einzunehmen (vgl. Honneth 2011: 206; 209). Agamben wiederum arbeitet mit historischen Beispielen aus dem Alten Rom und der Zeit des deutschen Nationalsozialismus. Ferner verweist er auf seine Konzeption des Ausnahmezustandes als „Zone der Unterscheidungslosigkeit zwischen Gewalt und Recht“ (Agamben 2001: 100). Diese Zone beschreibt Agamben in seinem Werk auch als Schwelle der Ordnung. Schwelle bezeichnet dabei den Punkt, „an dem sich die Ordnung mit dem berührt, was nicht mehr zu dieser Ordnung gehört“ (Geulen 2005: 62). Mit diesem räumlichen Bild der Schwelle verbindet Agamben zugleich die zeitliche Vorstellung vom Anfang oder Ursprung der Ordnung (vgl. Geulen 2005: 62) und gibt folglich auch Hinweise auf eine geschichtsphilosophische Perspektive. Im Gegensatz zu Benjamins verbleibt Agambens Kritik aber innerhalb der Rechts- respektive Polizeiordnung – verzichtet also auf einen externen Maßstab.
=== '''Kritik an der Kritik: Das Verhältnis von Theorie und Empirie''' ===
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Benjamin in Zur Kritik der Gewalt und Agamben in Souveräne Polizei bedienen sich historischer Beispiele um ihre theoretischen Gedankengänge zu illustrieren/unterstützen. In beiden Fällen stellt sich die Frage, ob diese empirischen Befunde zu gültigen theoretischen Aussagen verallgemeinert werden können.
Axel Honneth bemängelt beispielsweise, dass Benjamins Ausführungen zur rechtserhaltenden Gewalt und somit auch seine Polizeikritik auf problematischen Grundlagen beruhen würden (vgl. Honneth 2011: 203). Bei Benjamins Kritik handle es um die „Verallgemeinerung von historischen Erfahrungen“ (ebd.) argumentiert Honneth. Die theoretische Einschätzung dieser Erfahrungen verdanke „sich ganz offensichtlich lebhaftesten Eindrücken vom Machmißbrauch der Polizeibehörden“ (Honneth 2011: 202) zu Beginn der 1920er Jahre in der Weimarer Republik. Am meisten verstört Honneth hierbei Benjamins These über die Polizei in der Demokratie als die „denkbar größte Entartung der Gewalt“ (Benjamin 1991: 190; vgl. 1.3.3):
„Daß es vielleicht auch ganz anders sein könnte, daß nämlich gerade demokratische Gesellschaften mit der Zeit zivile Ressourcen der Bindung von Polizei und Militär entwickeln könnten, liegt außerhalb seines [Benjamins] Vorstellungshorizonts.“ (Honneth 2011: 202)
Auch Agambens Äußerungen – und damit verbunden die Interpretation seiner verwendeten Beispiele, im Text Souveräne Polizei der Zweite Golfkrieg oder die Judenvernichtung – gilt es kritisch zu hinterfragen. Daniel Loick äußert beispielsweise Bedenken über die historische Stimmigkeit der Überlegungen Agambens (vgl. Loick 2012: 232; 3.3). Dennoch betont er aber auch den positiven Aspekt, dass Agamben „Funktionsweisen und Zusammenhänge, die von der traditionellen Theorie der Souveränität gar nicht in den Blick genommen wurden“ (Loick 2012: 232) exponierte. Weiterführende Kritik an Agamben, die oftmals auf das Fehlen einer in sich geschlossenen Rechtstheorie insistiert, formulieren Fabian Steinhauer (vgl. Steinhauer 2010: 220-224) oder Günter Frankenberg (vgl. Frankenberg 2010: 148f.; 3.3).
=== ''' Weiterführungen''' ===
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==== '''Rezeption von Benjamins Essay Zur Kritik der Gewalt''' ====
Erst mit den 1970er Jahren setzte in der Literatur eine intensivere Rezeption des Essays Zur Kritik der Gewalt ein (vgl. Honneth 2011: 193). Benjamins radikale Kritik an der Rechtsordnung diente unter anderem Herbert Marcuse als Grundlage für seine Rechtskritik und revolutionstheoretischen Überlegungen (vgl. Marcuse 1975). Auch Jacques Derrida (vgl. Derrida 1991) und Giorgio Agamben (vgl. Agamben 2001; 2002; 2004) bauten auf Benjamin als „Basis für den Entwurf von eigenen Theorien über das Verhältnis von Recht, Gerechtigkeit und Politik“ (Honneth 2011: 193) auf.
Wissenschaftler_innen wie Judith Butler, Christoph Menke oder Daniel Loick beziehen sich in den letzten Jahren auf einzelne Aspekte von Benjamins Essay. Butler setzt sich dabei vor allem mit Benjamins Begriffen von Kritik, Rechtszwang und dem „Satz von der Heiligkeit des Lebens“ (vgl. Benjamin 1991: 201) auseinander (vgl. Butler 2006). Christoph Menke hingegen führt Benjamin als Teil seiner Argumentation für ein selbstreflexives Recht ein (vgl. Menke 2012). Im Kern geht es Menke um das Verhältnis von Recht und Nicht-Recht beziehungweise Gewalt (vgl. Menke 2012: 10) sowie der Möglichkeit eines anderen Rechts, dass über seine eigenen konstitutiven Gewaltmomente reflektiert (vgl. Menke 2012: 102). Mit Benjamin und der Interpretation von Passagen aus unterschiedlichen Werken und Texten wie Wolokolamsker Chaussee 1: Russisch Eröffnung, Sophokles' König Ödipus oder Der zerbrochne Krug von Heinrich von Kleist versucht Menke diese Gedankengänge zu plausibilisieren. Daniel Loicks kritische Theorie der Souveränität bringt stattdessen „die Vermutung in Anschlag, dass nur durch eine grundsätzliche Überwindung konventioneller Formen staatlicher Herrschaft das gesellschaftliche Gewaltaufkommen reduziert, politische Ausgrenzung und Repression vermindert werden können“ (Loick 2012: 22). Als ein Moment dieses Programms rekonstruiert Loick Benjamins Kritik der rechtserhaltenden Gewalt in Gestalt der Polizei (vgl. Loick 2012: 181-197). Ferner verweist er auf weitere, von Loius Althusser inspirierte, kritische Theorien der Polizei in den Werken von Michel Foucault und Jacques Ranciére (vgl. Loick 2012: 196f.).
==== '''Die Thematisierung des Ausnahmezustandes''' ====
Zu Agambens Konzeption des Ausnahmezustandes findet sich eine Vielzahl an Sekundärliteratur (vgl. Geulen 2005; Loick 2012: 214-232; Steinhauer 2010, Frankenberg 2010). Günter Frankenberg beispielsweise untersucht mit rechtstheoretischer Perspektive das Verhältnis von liberaler, rechtstaatlicher Staatstechnik, Gewalt sowie Ausnahmezustand (vgl. Frankenberg 2010). Er arbeitet dabei vor allem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Agamben und Carl Schmitt in ihren Vorstellungen vom Ausnahmezustand auf (vgl. Frankenberg 2010: 145-149).




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