Kriminalsoziologie: Unterschied zwischen den Versionen

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Die '''Kriminalsoziologie''' ist mit der [[Kriminalität]] als gesellschaftlicher Erscheinung befasst. Sie gilt innerhalb der deutschsprachigen Mainstreamkriminologie als ein Teilbereich der [[Soziologie]] und eine Bezugswissenschaft der [[Kriminologie]]. Im Selbstverständnis der angloamerikanischen Kriminologie und der deutschen [[Kritische Kriminologie|Kritischen Kriminologie]] ist Kriminalsoziologie identisch mit Kriminologie. Bis auf die Grundlegung durch den Franzosen [[Émile Durkheim]] stammen die kriminalsoziologischen Impulse ganz überwiegend aus den [[Vereinigte Staaten|USA]].  
Die '''Kriminalsoziologie''' ist mit der [[Kriminalität]] als gesellschaftlicher Erscheinung befasst. Sie untersucht die (Ursachen der) Verteilung und Entwicklung von Kriminalitätsraten in verschiedenen sozialen Einheiten (soziale Klassen/Schichten; Städte/Regionen/Staaten; Geschlecht; Ethnizität) und - mit weniger Energie - die (Gründe für die) unterschiedlichen Stile der Strafgesetzgebung und -verfolgung (Gefangenenraten im internationalen Vergleich; "philosophies" of law enforcement; Machtmissbrauch der Polizei etc.). Die Kriminalsoziologie gilt innerhalb der deutschsprachigen Mainstreamkriminologie als ein Teilbereich der [[Soziologie]] und als Bezugswissenschaft der [[Kriminologie]]. Im Selbstverständnis der angloamerikanischen Kriminologie und der deutschen [[Kritische Kriminologie|Kritischen Kriminologie]] ist Kriminalsoziologie hingegen die Leitdisziplin und damit weitgehend identisch mit Kriminologie. Die Ursprünge der Kriminalsoziologie werden mit einigem Recht in Frankreich (und Belgien) gesehen (André-Michel Guerry, Adolphe Quetelet, Émile Durkheim). Seit dem 20. Jahrhundert stammen die wesentlichen Impulse für die Entwicklung der Kriminalsoziologie ganz überwiegend aus den USA.  


== Grundlegung durch Émile Durkheim  ==
== Grundlegung durch Émile Durkheim  ==
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In der deutschen Kriminalsoziologie radikalisierte insbesondere [[Fritz Sack]] den Labeling Approach zu einer Theorie, in der es real keine Straftaten mehr gab und jede [[Devianz]] als Resultat von [[Zuschreibung]] betrachtet wurde.Im Gegensatz dazu betonte Lemert, primäre Devianz beruhe auf mehreren Ursachen. Sie entstehe aus einer Vielzahl von sozialen, kulturellen, psychologischen und physiologischen Faktoren. Die ''sekundäre Devianz'' habe ihre Ursache dagegen in den Zuschreibungen, denen Menschen ausgesetzt sind, die bereits abweichendes Verhalten ([[Verbrechen]], [[Prostitution]], [[Alkoholismus]], [[Drogenabhängigkeit]], psychiatrische Erkrankungen) zeigen. Solche Symptomträger würden durch Folge-[[Stigmatisierung]] in ihrer Normabweichung stabilisiert. Schon 1964 hatte [[Stephan Quensel]] in Deutschland ein [[Etikettierungstheorie#Karrieremodell mit Bezug auf ursprüngliche Kriminalität|Karrieremodell]] entworfen, das dem Konstrukt der primären Devianz entsprach.
In der deutschen Kriminalsoziologie radikalisierte insbesondere [[Fritz Sack]] den Labeling Approach zu einer Theorie, in der es real keine Straftaten mehr gab und jede [[Devianz]] als Resultat von [[Zuschreibung]] betrachtet wurde.Im Gegensatz dazu betonte Lemert, primäre Devianz beruhe auf mehreren Ursachen. Sie entstehe aus einer Vielzahl von sozialen, kulturellen, psychologischen und physiologischen Faktoren. Die ''sekundäre Devianz'' habe ihre Ursache dagegen in den Zuschreibungen, denen Menschen ausgesetzt sind, die bereits abweichendes Verhalten ([[Verbrechen]], [[Prostitution]], [[Alkoholismus]], [[Drogenabhängigkeit]], psychiatrische Erkrankungen) zeigen. Solche Symptomträger würden durch Folge-[[Stigmatisierung]] in ihrer Normabweichung stabilisiert. Schon 1964 hatte [[Stephan Quensel]] in Deutschland ein [[Etikettierungstheorie#Karrieremodell mit Bezug auf ursprüngliche Kriminalität|Karrieremodell]] entworfen, das dem Konstrukt der primären Devianz entsprach.


Quensel wandete sich später der radikalen Version des Labeling Approach zu, wie sie von Fritz Sack, [[Helge Peters]] und anderen vertreten wurde. Ihre Auslegung der US-amerikanischen Soziologie wird vom Soziologen und Kriminologen [[Michael Bock]] als Fehl[[rezeption]] bezeichnet: ''"Die amerikanischen Labeling-Theoretiker konnten gelassen und konstruktiv den bisherigen kriminalsoziologischen Wissensbestand integrieren. In der Variante von Sack jedoch erhielten die Etikettierungsansätze eine giftige Unduldsamkeit nicht nur gegenüber den anderen soziologischen Ansätzen, sondern gegenüber allem 'ätiologischen' Denken."''[6]  
Quensel wandete sich später der radikalen Version des Labeling Approach zu, wie sie von Fritz Sack, [[Helge Peters]] und anderen Vertretern der deutschen [[Kritischen Kriminologie|Kritische Kriminologie]] verfochten wurde. Ihre Auslegung der US-amerikanischen Soziologie wird vom Soziologen und Kriminologen [[Michael Bock]] als Fehl[[rezeption]] bezeichnet:
::''"Die amerikanischen Labeling-Theoretiker konnten gelassen und konstruktiv den bisherigen kriminalsoziologischen Wissensbestand integrieren. In der Variante von Sack jedoch erhielten die Etikettierungsansätze eine giftige Unduldsamkeit nicht nur gegenüber den anderen soziologischen Ansätzen, sondern gegenüber allem 'ätiologischen' Denken."''[6]  
Auch aus den Reihen der kritischen Kriminologie selbst entstand ab Mitte der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts zunehmend Widerpruch  zur radikalen Interpretation des Labeling-Ansatzes. Paradigmatisch hierfür ist die von [[Henner Hess]] und [[Sebastian Scheerer]] zuerst 1997 formulierte "Allgemeine Theorie der Kriminalität". Diese unternahm den Versuch, etikettierungstheoretische und handlungstheoretische Ansätze miteinander zu verbinden.


Die radikale Version des Labeling Approach, in der es keine Kriminalität sondern nur Kriminalisierung gibt, hatte wissenschaftliche und kriminalpolitische Konjunktur von etwas 1970 bis 1990. Inzwischen hat sie einen massiven Bedeutungsverlust erlitten. Die moderate Labeling-Varinaten (sekundäre Devianz) dagegen gehört inzwischen zum Wissensbestand der Mainstream-Kriminologie.
Die radikale Version des Labeling Approach, in der es keine Kriminalität sondern nur Kriminalisierung gibt, hatte wissenschaftliche und kriminalpolitische Konjunktur von etwas 1970 bis 1990. Inzwischen hat sie einen massiven Bedeutungsverlust erlitten. Die moderate Labeling-Varinaten (sekundäre Devianz) dagegen gehört inzwischen zum Wissensbestand der Mainstream-Kriminologie.
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=== Allgemeine Werke zur Kriminalsoziologie ===
=== Allgemeine Werke zur Kriminalsoziologie ===
*Colaianni, Napoleone (1887) Sociologia criminale. Catania: F. Tropea
*Grispigni, Filippo (1928) Introduzione alla sociologia criminale: Oggetto e natura della Sociologia criminale. Il Metodo. Il concetto sociologico della criminalità. Torino: Utet.
*[[Fritz Sack]]/[[René König]] (Hgg.): ''Kriminalsoziologie'' (1968)
*[[Fritz Sack]]/[[René König]] (Hgg.): ''Kriminalsoziologie'' (1968)
*Fritz Sack: ''Probleme der Kriminalsoziologie'', in: René König (Hg.): ''Handbuch der empirischen Sozialforschung'', Stuttgart ²1969, S. 192-492.  
*Fritz Sack: ''Probleme der Kriminalsoziologie'', in: René König (Hg.): ''Handbuch der empirischen Sozialforschung'', Stuttgart ²1969, S. 192-492.  
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*[[Siegfried Lamnek]]:''Theorien abweichenden Verhaltens 1: "Klassische" Ansätze: Eine Einführung für Soziologen, Psychologen, Juristen, Journalisten und Sozialarbeiter'' (2007)
*[[Siegfried Lamnek]]:''Theorien abweichenden Verhaltens 1: "Klassische" Ansätze: Eine Einführung für Soziologen, Psychologen, Juristen, Journalisten und Sozialarbeiter'' (2007)
*Siegfried Lamnek: ''Theorien abweichenden Verhaltens'', Bd. II: ''Moderne Ansätze'' (2008)
*Siegfried Lamnek: ''Theorien abweichenden Verhaltens'', Bd. II: ''Moderne Ansätze'' (2008)
*[http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/rt/printerFriendly/732/1586 Ottermann, Was ist Kriminalsoziologie?]


=== Werke zu zu einzelnen kriminalsoziologischen Themen ===
=== Einzelthemen ===
*Émile Durkheim: ''Die Regeln der soziologischen Methode'' (1984, Original 1895).
*Émile Durkheim: ''Die Regeln der soziologischen Methode'' (1984, Original 1895).
*Émile Durkheim: ''Der Selbstmord'' (1983, Original 1897).
*Émile Durkheim: ''Der Selbstmord'' (1983, Original 1897).
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*Jack P. Gibbs: Crime, ''Punishment an Deterrence'' (1975).
*Jack P. Gibbs: Crime, ''Punishment an Deterrence'' (1975).
*John Braitwaite: ''Crime, Shame and Reintegration'', Cambridge University Press 1989.
*John Braitwaite: ''Crime, Shame and Reintegration'', Cambridge University Press 1989.
*Susanne Krassmann: ''Die Kriminalität der Gesellschaft. Zur Gouvernementalität der Gegenwart'' (2003).
*Susanne Krasmann: ''Die Kriminalität der Gesellschaft. Zur Gouvernementalität der Gegenwart'' (2003).
*Michel Foucault: ''Geschichte der Gouvernementalität'', 2 Bde. (2004).
*Michel Foucault: ''Geschichte der Gouvernementalität'', 2 Bde. (2004).
*David Garland: ''Kultur der Kontrolle: Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart'' (2008).
*David Garland: ''Kultur der Kontrolle: Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart'' (2008).
*Straßenverkehr: [http://www.ggkvs.de/arbeitsfelder/kriminalpraevention/ Jeder vierte Verurteilte: Straßenverkehr]


== Anmerkungen ==
== Anmerkungen ==
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