Kriminalitätsfurcht: Unterschied zwischen den Versionen

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1. Etymologie
'''von Stephanie Thiel'''


Zur Etymologie von [[Kriminalität]].
 
 
==Etymologie==
 
Zur Etymologie s.a. [[Kriminalität]].


''Furcht'' geht auf das gotische faúrhtei (vgl. engl. fright) zurück. Vom althochdeutschen for[a]hta (8.Jhd.) über das mittelhochdeutsche vorht[e] erschien der Begriff mit dem heute üblichen u-Vokal erstmals im 14.Jhd. Ab dem 16.Jhd. war diese Schreibweise verbreitet, obgleich sich ''Forcht'' noch bis ins 18.Jhd. hielt. Die genaue Herkunft und außergermanische Beziehungen sind nicht gesichert.
''Furcht'' geht auf das gotische faúrhtei (vgl. engl. fright) zurück. Vom althochdeutschen for[a]hta (8.Jhd.) über das mittelhochdeutsche vorht[e] erschien der Begriff mit dem heute üblichen u-Vokal erstmals im 14.Jhd. Ab dem 16.Jhd. war diese Schreibweise verbreitet, obgleich sich ''Forcht'' noch bis ins 18.Jhd. hielt. Die genaue Herkunft und außergermanische Beziehungen sind nicht gesichert.
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2. Definitionen
==Definitionen==
Unter einer kriminellen Handlung versteht man eine Verhaltensweise, die zu einer bestimmten Zeit durch entsprechende Gesetze als strafbar definiert ist. Entsprechend ist ''Kriminalität'' die Summe aller als kriminell definierten Handlungen, die in einem begrenzten Zeitraum auf einem bestimmten Gebiet begangen werden.  
Unter einer kriminellen Handlung versteht man eine Verhaltensweise, die zu einer bestimmten Zeit durch entsprechende Gesetze als strafbar definiert ist. Entsprechend ist ''Kriminalität'' die Summe aller als kriminell definierten Handlungen, die in einem begrenzten Zeitraum auf einem bestimmten Gebiet begangen werden.  
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3. Theoretische Erklärungsansätze
==Theoretische Erklärungsansätze==


Kriminalitätsfurcht wurde erstmals 1965 in den USA (fear of crime) und Deutschland im Rahmen von Opferbefragungen durch die Frage danach erhoben, ob man sich fürchte, nachts im eigenen Stadtteil allein unterwegs zu sein. In den siebziger Jahren folgten vergleichbare Untersuchungen in europäischen Ländern, in Japan und in Australien.
Kriminalitätsfurcht wurde erstmals 1965 in den USA (fear of crime) und Deutschland im Rahmen von Opferbefragungen durch die Frage danach erhoben, ob man sich fürchte, nachts im eigenen Stadtteil allein unterwegs zu sein. In den siebziger Jahren folgten vergleichbare Untersuchungen in europäischen Ländern, in Japan und in Australien.
Man stellte fest, daß die tatsächliche Kriminalitätsbelastung der Bevölkerung wesentlich höher war, als es die Kriminalstatistiken vermuten ließen. Zudem gab ein relativ großer Prozentsatz der Bevölkerung Furcht vor einer Viktimisierung an. Diese Befunde erweckten Interesse an der Kriminalitätsfurcht und am Opfer, auf das sich die kriminologische Forschung zunächst konzentrierte (Boers 1991: 7ff.).
Man stellte fest, daß die tatsächliche Kriminalitätsbelastung der Bevölkerung wesentlich höher war, als es die [[Polizeiliche Kriminalstatistik]] vermuten ließ. Zudem gab ein relativ großer Prozentsatz der Bevölkerung Furcht vor einer Viktimisierung an. Diese Befunde erweckten Interesse an der Kriminalitätsfurcht und am Opfer, auf das sich die kriminologische Forschung zunächst konzentrierte (Boers 1991: 7ff.).
Es werden drei Ansätze unterschieden, die das Phänomen Kriminalitätsfurcht theoretisch zu erklären versuchten: die Viktimisierungsperspektive, die Soziale-Kontroll-Perspektive und die Soziale-Problem-Perspektive. In jüngerer Zeit unternahm Boers (1991) den Versuch, die in der Vergangenheit gewonnenen Erkenntnisse in einem neuen interaktiven Verständnismodell der Kriminalitätseinstellungen zusammenzufassen.  
Es werden drei Ansätze unterschieden, die das Phänomen Kriminalitätsfurcht theoretisch zu erklären versuchten: die Viktimisierungsperspektive, die Soziale-Kontroll-Perspektive und die Soziale-Problem-Perspektive. In jüngerer Zeit unternahm Boers (1991) den Versuch, die in der Vergangenheit gewonnenen Erkenntnisse in einem neuen interaktiven Verständnismodell der Kriminalitätseinstellungen zusammenzufassen.  




· Viktimisierungsperspektive
===Viktimisierungsperspektive===


Die Viktimisierungsperspektive ist am Individuum orientiert. Sie geht davon aus, dass Opfer einer kriminellen Handlung eher Kriminalitätsfurcht entwickeln werden als Nichtopfer. Dieser Ansatz erbrachte von Beginn an widersprüchliche Ergebnisse und konnte nie wirklich bestätigt werden.  
Die Viktimisierungsperspektive ist am Individuum orientiert. Sie geht davon aus, dass Opfer einer kriminellen Handlung eher Kriminalitätsfurcht entwickeln werden als Nichtopfer. Dieser Ansatz erbrachte von Beginn an widersprüchliche Ergebnisse und konnte nie wirklich bestätigt werden.  
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· Soziale-Kontroll-Perspektive
===Soziale-Kontroll-Perspektive===


Dieser Ansatz orientiert sich am sozialen Gefüge von Nachbarschaften und in Verbindung damit mit dem Verlust von [[informeller Sozialkontrolle]]. Es sind zwei weltanschaulich verschiedene Herangehensweisen zu unterscheiden. Zum einen die eigentliche Soziale-Kontroll-Perspektive von Lewis und Salem, zum anderen der [[Broken Windows]] - Ansatz von Wilson und Kelling.
Dieser Ansatz orientiert sich am sozialen Gefüge von Nachbarschaften und in Verbindung damit mit dem Verlust von [[informelle Sozialkontrolle|informeller Sozialkontrolle]]. Es sind zwei weltanschaulich verschiedene Herangehensweisen zu unterscheiden. Zum einen die eigentliche Soziale-Kontroll-Perspektive von Lewis und Salem, zum anderen der [[Broken Windows]] - Ansatz von Wilson und Kelling.
Die Soziale-Kontroll-Perspektive geht von Kriminalität als einer logischen Folge von sozialem Wandel und dem Verlust informeller sozialer Kontrolle aus. Dies soll zu sozialer Desorganisation, einem Verfall gemeinsamer sozialer Werte und Bindungen führen, die sich als Unfähigkeit äußern, bei Konflikten zu einem Konsens zu kommen. Als Indikatoren hierfür gelten sogenannte [[incivilities]], Verhältnisse und Verhaltensweisen, die den destabilisierten Zustand auf Nachbarschaftsebene (Community) signalisieren. Die subjektive Wahrnehmung der Nachbarschaft bzw. das Ausmaß der Fähigkeit, mit den Gegebenheiten umzugehen, wird dabei für die Entstehung bzw. Nichtentstehung von Kriminalitätsfurcht verantwortlich gemacht. Überprüfungen dieses Ansatzes lieferten widersprüchliche Ergebnisse.  
Die Soziale-Kontroll-Perspektive geht von Kriminalität als einer logischen Folge von sozialem Wandel und dem Verlust informeller sozialer Kontrolle aus. Dies soll zu sozialer Desorganisation, einem Verfall gemeinsamer sozialer Werte und Bindungen führen, die sich als Unfähigkeit äußern, bei Konflikten zu einem Konsens zu kommen. Als Indikatoren hierfür gelten sogenannte [[Incivilities|incivilities]], Verhältnisse und Verhaltensweisen, die den destabilisierten Zustand auf Nachbarschaftsebene (Community) signalisieren. Die subjektive Wahrnehmung der Nachbarschaft bzw. das Ausmaß der Fähigkeit, mit den Gegebenheiten umzugehen, wird dabei für die Entstehung bzw. Nichtentstehung von Kriminalitätsfurcht verantwortlich gemacht. Überprüfungen dieses Ansatzes lieferten widersprüchliche Ergebnisse.  
Eine Modifikation der Soziale-Kontroll-Perspektive sieht als Auslöser von Kriminalitätsfurcht ein multizentrisches Gefüge von sozialer Desorganisation, Kriminalitätsproblemen, Ausprägungen informeller Sozialkontrolle und Art der Nachbarschaft, die bei der (Nicht-)Herausbildung von Kriminalitätsfurcht in wechselseitiger Wirkbeziehung stehen. Eine empirische Überprüfung dieser Annahmen wird in Ermangelung geeigneter Methoden jedoch als schwierig erachtet.
Eine Modifikation der Soziale-Kontroll-Perspektive sieht als Auslöser von Kriminalitätsfurcht ein multizentrisches Gefüge von sozialer Desorganisation, Kriminalitätsproblemen, Ausprägungen informeller Sozialkontrolle und Art der Nachbarschaft, die bei der (Nicht-)Herausbildung von Kriminalitätsfurcht in wechselseitiger Wirkbeziehung stehen. Eine empirische Überprüfung dieser Annahmen wird in Ermangelung geeigneter Methoden jedoch als schwierig erachtet.


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· Soziale-Problem-Perspektive
===Soziale-Problem-Perspektive===


Dieser Ansatz stützt sich auf den symbolischen Interaktionismus von Mead. Er geht von der Annahme aus, dass soziale Probleme nicht objektiv existieren, sondern institutionell durch Zuschreibungsprozesse konstruiert werden. Den [[Massenmedien]] kommt dieser Auffassung zufolge eine zentrale Rolle zu, da sie strukturierte und interpretierte Informationen über Vorkommnisse vermitteln, die außerhalb der täglichen Erfahrungswelt liegen. Hierdurch konstruieren sie die Wirklichkeit "Kriminalität" und sind gleichzeitig Auslöser von Kriminalitätsfurcht.
Dieser Ansatz stützt sich auf den symbolischen Interaktionismus von Mead. Er geht von der Annahme aus, dass soziale Probleme nicht objektiv existieren, sondern institutionell durch Zuschreibungsprozesse konstruiert werden. Den [[Massenmedien]] kommt dieser Auffassung zufolge eine zentrale Rolle zu, da sie strukturierte und interpretierte Informationen über Vorkommnisse vermitteln, die außerhalb der täglichen Erfahrungswelt liegen. Hierdurch konstruieren sie die Wirklichkeit "Kriminalität" und sind gleichzeitig Auslöser von Kriminalitätsfurcht.
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· Interaktives Verständnismodell der Kriminalitätseinstellungen
===Interaktives Verständnismodell der Kriminalitätseinstellungen===


In jüngerer Zeit hat Boers (1991: 207ff.) ein Modell entwickelt, das die widersprüchlichen Befunde zu integrieren versucht. Er trennt die Kriminalitätseinstellungen in eine soziale und eine personale Dimension. Die soziale Dimension beinhaltet überdauernde Einstellungen, Werthaltungen und politische oder soziale Orientierungen, während die personale Dimension Risikoeinschätzung, Einschätzung der Bewältigungsmöglichkeit, Kriminalitätsfurcht und Schutz- und Vermeideverhalten umfasst.  
In jüngerer Zeit hat Boers (1991: 207ff.) ein Modell entwickelt, das die widersprüchlichen Befunde zu integrieren versucht. Er trennt die Kriminalitätseinstellungen in eine soziale und eine personale Dimension. Die soziale Dimension beinhaltet überdauernde Einstellungen, Werthaltungen und politische oder soziale Orientierungen, während die personale Dimension Risikoeinschätzung, Einschätzung der Bewältigungsmöglichkeit, Kriminalitätsfurcht und Schutz- und Vermeideverhalten umfasst.  
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4. Befunde
==Befunde==


Die Frage nach Kriminalitätsfurcht gehört heute zum Standard kriminalitätsbezogener Studien. Darüber hinaus sind jedoch auch Untersuchungen an verschiedenen Bevölkerungsgruppen unter sehr spezifischen Fragestellungen vorgenommen worden. Untersuchte Gruppen waren beispielsweise Jugendliche, alte Menschen oder Ostdeutsche. Häufige Fragestellungen beziehen sich auf Furchtunterschiede in Abhängigkeit von Opfererfahrungen, von gesellschaftlichen Umbrüchen oder von Lebensstilen (Boers 1991; Frevel 1998).  
Die Frage nach Kriminalitätsfurcht gehört heute zum Standard kriminalitätsbezogener Studien. Darüber hinaus sind jedoch auch Untersuchungen an verschiedenen Bevölkerungsgruppen unter sehr spezifischen Fragestellungen vorgenommen worden. Untersuchte Gruppen waren beispielsweise Jugendliche, alte Menschen oder Ostdeutsche. Häufige Fragestellungen beziehen sich auf Furchtunterschiede in Abhängigkeit von Opfererfahrungen, von gesellschaftlichen Umbrüchen oder von Lebensstilen (Boers 1991; Frevel 1998).  
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5. Zusammenhänge mit anderen Begriffen
==Zusammenhänge mit anderen Begriffen==


Kriminalitätsfurcht wurde erstmalig im Rahmen von Opferbefragungen entdeckt. Die Erkenntnis, dass die tatsächliche Kriminalitätsbelastung höher lag als die polizeilich registrierte, legte einen Zusammenhang zwischen Kriminalitätsfurcht und Viktimisierung nahe. Daher war die Forschung in diesem Bereich zunächst ausschließlich im Bereich der [[Viktimologie]] angesiedelt. Kriminalpolitische Konsequenzen waren die Einführung von Programmen wie Neighborhood Watch oder [[Community Crime Prevention]].  
Kriminalitätsfurcht wurde erstmalig im Rahmen von Opferbefragungen entdeckt. Die Erkenntnis, dass die tatsächliche Kriminalitätsbelastung höher lag als die polizeilich registrierte, legte einen Zusammenhang zwischen Kriminalitätsfurcht und Viktimisierung nahe. Daher war die Forschung in diesem Bereich zunächst ausschließlich im Bereich der [[Viktimologie]] angesiedelt. Kriminalpolitische Konsequenzen waren die Einführung von Programmen wie Neighborhood Watch oder [[Community Crime Prevention]].  
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6. Kriminologische Relevanz
==Kriminologische Relevanz==


Bereits 1965 deutete sich ein Auseinanderfallen von Kriminalitätsfurcht und tatsächlicher Kriminalitätsbelastung an. Besonders in Deutschland ließ sich schon früh ein Ausmaß an Kriminalitätsfurcht feststellen, das dem in den USA gleichkam, obwohl die Belastung durch Gewaltkriminalität deutlich geringer war. Die Erkenntnis dieser teilweisen Entkoppelung ließ Kriminalitätsfurcht zu einem eigenständigen sozialen bzw. gesellschaftlichen Problem werden, das zu vielfältigen theoretischen Überlegungen und ausgedehnter Forschungstätigkeit führte. Hieran hat auch die Feststellung nichts geändert, daß Kriminalitätsfurcht nicht nur kontinuierlich ansteigt, sondern durchaus rückläufig sein kann. Die kriminalpolitischen, rechtsstaatlichen und damit auch gesellschaftlichen Konsequenzen, die aus der Existenz solcher Furchtwellen erwachsen, bedürfen kriminologischer Beachtung, Hinterfragung und Kritik.
Bereits 1965 deutete sich ein Auseinanderfallen von Kriminalitätsfurcht und tatsächlicher Kriminalitätsbelastung an. Besonders in Deutschland ließ sich schon früh ein Ausmaß an Kriminalitätsfurcht feststellen, das dem in den USA gleichkam, obwohl die Belastung durch Gewaltkriminalität deutlich geringer war. Die Erkenntnis dieser teilweisen Entkoppelung ließ Kriminalitätsfurcht zu einem eigenständigen sozialen bzw. gesellschaftlichen Problem werden, das zu vielfältigen theoretischen Überlegungen und ausgedehnter Forschungstätigkeit führte. Hieran hat auch die Feststellung nichts geändert, daß Kriminalitätsfurcht nicht nur kontinuierlich ansteigt, sondern durchaus rückläufig sein kann. Die kriminalpolitischen, rechtsstaatlichen und damit auch gesellschaftlichen Konsequenzen, die aus der Existenz solcher Furchtwellen erwachsen, bedürfen kriminologischer Beachtung, Hinterfragung und Kritik.


 
==Literatur zum Thema==
7. Literatur zum Thema


Boers, Klaus (1991): ''Kriminalitätsfurcht. Über den Entstehungszusammenhang und die Folgen eines sozialen Problems''. Pfaffenweiler, Centaurus-Verlagsgesellschaft.
Boers, Klaus (1991): ''Kriminalitätsfurcht. Über den Entstehungszusammenhang und die Folgen eines sozialen Problems''. Pfaffenweiler, Centaurus-Verlagsgesellschaft.
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