Kriminalität

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Einleitung

Kriminalität (abgeleitet von lat. crimen = Verbrechen) meint Verbrechen als soziale Erscheinung. Sie ist die Summe der strafrechtlich missbilligten Handlungen. Es handelt sich also um die mit einem besonderen Unwerturteil belegten Rechtsbrüche (Kaiser, 1996).

Die Erfassung eines möglichst realitätsnahen Bildes von der Verbrechenswirklichkeit bereitet insoweit Schwierigkeiten, als es „die“ Kriminalität als einen naturalistisch gegebenen und zu messenden Sachverhalt überhaupt nicht gibt. Die Eigenschaft „kriminell“ wohnt einem Verhalten nämlich keineswegs a priori inne, sondern wird ihm auf der normativen Grundlage vorgängiger gesellschaftlicher Festlegungen (formeller Verbrechensbegriff) im Wege mehrstufiger Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse zugeschrieben. Ob ein deskriptiv feststellbarer Sachverhalt wie die Tötung eines Menschen durch einen anderen als fahrlässige Tötung, Mord oder Totschlag oder doch nur als unverschuldeter Unfall zu deuten ist, lässt sich immer erst durch einen zusätzlichen askriptiven, auf die Normen des Strafrechts bezogenen Wertungsschritt beantworten. Wie von den Vertretern der Etikettierungsansätze zutreffend dargelegt, ist Verbrechen somit kein klar fassbarer ontologischer Befund im Sinne eines Realphänomens, sondern ein durch Interpretation der sozialen Wirklichkeit gewonnenes Konstrukt. Die für die soziale Konstruktion von Kriminalität maßgeblichen Wahrnehmungs- und Definitionsprozesse sind sehr komplex und können individuell und institutionell zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. So ist die Perspektive des Täters typischerweise eine andere als die des Opfers. Die Beobachtungen und Interpretationen der Tatbeteiligten können wiederum von der Bedeutung divergieren, die ein Dritter einem bestimmten Vorgang beimisst. Schließlich können die von den Instanzen informeller Sozialkontrolle vorgenommenen Parallelwertungen in der Laiensphäre erheblich von denjenigen juristischen Einschätzungen abweichen, die von den formellen Kontrollinstanzen wie Polizei und Strafjustiz getroffen werden. In Abhängigkeit der jeweiligen Perspektive treten somit sehr verschiedene Realitätskonstruktionen nebeneinander. Um ein möglichst vollständiges und breit gefächertes Bild von Kriminalität als gesellschaftliches Massenphänomen entwerfen zu können, müssen diese unterschiedlichen Konstitutionsebenen zusammengeführt werden. Mit den Kriminalitätsstatistiken allein ist dies nicht zu leisten. Die aus ihnen ablesbare Kriminalitätsentwicklung ist sehr selektiv und verzerrt, denn sie messen nur das, was den Strafverfolgungsbehörden offiziell bekannt geworden ist, das sog. Hellfeld. Von der Menge der tatsächlich begangenen strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen ist dies nur ein nach Fall- und Tätergruppen vorselektierter Ausschnitt, denn längst nicht alle kriminalisierbaren Sachverhalte werden von den Opfern, den Tatzeugen oder anderen auch faktisch wahrgenommen, als Straftat bewertet und den Behörden angezeigt. Um sich der realen Verbrechenswirklichkeit anzunähern und das Kriminalitätslagebild zu optimieren, ist es daher notwendig, ergänzend zu den kriminalstatistischen Informationen über das Hellfeld auch Daten über diejenigen Taten zu gewinnen, die den Blicken der Strafverfolgungsbehörden entzogen sind und insoweit gewissermaßen im Dunkeln verbleiben. Dieser Aufgabe widmet sich die sog. Dunkelfeldforschung. (Göppinger, 2008)


Klassifikationen

Angesichts der schier unendlichen Nuancierungsmöglichkeiten ist keine vollständige, sondern nur eine typisierende Darstellung angezeigt (Kunz).

Göppinger lässt sich zur „Formalität“ einer Kriminalitätsphänomenologie aus, d.h. für die Beschreibung der Erscheinungsformen von Kriminalität als Massenphänomen wird „die“ Kriminalität nicht nur in der Kriminologie, sondern auch in der polizeilichen Praxis und in der kriminalpolitischen Diskussion nach verschiedenen formalen Gesichtspunkten klassifiziert. Dabei werden unter anderem Kriterien verwendet wie Alter und Geschlecht (zum Beispiel Jugendkriminalität, Alterskriminalität, Frauenkriminalität), soziale Stellung und ethnische Herkunft (zum Beispiel Kriminalität der Mächtigen oder Ausländerkriminalität), Deliktsgruppen (zum Beispiel Gewaltkriminalität, Rauschgiftkriminalität, Sexualkriminalität oder Verkehrskriminalität) oder Begehungsmodalitäten (zum Beispiel Organisiertes Verbrechen oder jugendliche Banden).

Schneider meint, es ist das Wesen der psycho- und soziodynamischen, realistischen Definition des Verbrechens, dass sie die Reaktion auf Kriminalität berücksichtigt, dass sie sich an der kriminellen Wirklichkeit orientiert und dass sie die Kriminalität nicht nur als Endprodukt beurteilt, sondern sich ihre prozeßhafte Entwicklung, ihr Werden angelegen sein lässt. Der psycho- und soziodynamischen, realistischen Definition kommt es nicht so sehr wie der strafgesetzlichen Definition auf eine statische, formale Begriffsbestimmung an, sondern darauf, dass Kriminalität im engeren Sinne als Resultat eines konkreten informellen oder formellen Benennungsprozesses verstanden wird. Um einer realitätsnahen, prozeßhaften Entwicklung Rechnung zu tragen, ist eine solche Differenzierung des Kriminalitätsbegriffs notwendig. Denn einerseits will man die volle Variationsbreite der Kriminalität erfassen, andererseits ihr Bedeutungsfeld so eingrenzen, dass der Kriminalitätsbegriff praktisch und theoretisch gehandhabt werden kann. Die Differenzierung des Kriminalitätsbegriffs ist ferner erforderlich, weil die Kriminalität durch die Art der Reaktion ihre Qualität ändert. Es müssen also Schnitte in die sozialen und individuellen Kriminalisierungsprozesse gelegt werden.

Eisenberg stellt die registrierte der vermuteten tatsächlichen Kriminalität gegenüber. Untersuchungen über Entstehungszusammenhänge von Kriminalität sind nahezu ausschließlich auf diejenigen Stufen strafrechtlicher Beurteilung beschränkt, deren Ergebnisse zur Aufnahme in amtliche Statistiken geführt haben. Dabei ist die diesbezügliche kriminologische Forschung dem prinzipiellen Einwand ausgesetzt, die einschlägigen Statistiken als ihre zentralen Datenquellen seien allein zum Nachweis behördlicher Tätigkeit oder des Geschäftsanfalls geeignet und spiegelten lediglich Struktur und Intensität informeller und formeller Strafverfolgung wider. Hingegen seien sie keine geeigneten Instrumente zur Erfassung vermuteter tatsächlicher Kriminalität, da es ihnen insoweit an den Voraussetzungen gültiger (valider) und zuverlässiger (reliabler) Messung fehle.

Kaiser erstellt Konzepte zur Erklärung der Kriminalität als Sozialerscheinung. Eine solche Beurteilung gilt sowohl für die Deutung der Kriminalität in einem bestimmten Zeitpunkt (Querschnittanalyse) als auch für jene der Kriminalitätsentwicklung (Längsschnittsanalyse). Dies schließt freilich nicht aus, dass Theoriebruchstücke oder formelhaft verkürzte Erklärungsansätze an die Stelle von sonst genauer ausgearbeiteten Theorien treten. Vor allem trifft dies für die Anomietheorie zu, die trotz aller Schwächen neben der Kulturkonflikttheorie noch immer reiches Erklärungspotential enthält und Chiffren zur Entschlüsselung der zeitgenössischen Kriminalität liefert.

Sozialpsychologische Kriminalitätstheorien sind soziale Lerntheorien, Kontrolltheorien und die Interaktionstheorie welche gemeinsam davon ausgehen, dass Sozialabweichung, Delinquenz und Kriminalität in Sozialprozessen entstehen. Die Interaktionstheorie studiert nicht so sehr Verhalten und Menschen, die als kriminell definiert und ihr Verhalten als kriminell eingestuft werden. Es kommt ihr auf die Bedeutung an, die der Mensch seinem eigenen Verhalten zumisst und die andere menschlichem Verhalten geben. Immer steht die Interaktion, die wechselseitige Beeinflussung zwischen Person, Verhalten und Umwelt im Mittelpunkt sozialpsychologischen Denkens. Die Interaktion ist die Brücke zwischen Person und Gesellschaft. Menschliche Verhaltensweisen werden erlernt und sind deshalb von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. (Schneider)

Der Begriff der Kriminalität wird aber auch mit sehr unterschiedlichen Zielrichtungen und Bedeutungsinhalten gebraucht. Hess und Scheerer (1997) unterscheiden z.B. vier solcher Bedeutungen im sozialen Leben:

  1. Strafrechtlich definierte bzw. theoretische Kriminalität: Hierbei handelt es sich um Kriminalität als Summe der mit Strafe bedrohten Handlungen.
  2. Moralunternehmerisch definierte Kriminalität: Damit ist gemeint, was nach Ansicht des jeweiligen Sprechers sehr anstößig ist – im Sinne eines empörten Ausrufs: „Das ist ja kriminell!“ – oder was nach anderen Kriterien und im Gegensatz zum positiven Recht „wirkliche Kriminalität“ sein soll oder aufgrund von Ableitungen aus überpositivem Recht bereits ist.
  3. Informell definierte Kriminalität: Hier wäre die Masse jener Handlungen zu registrieren, die unter die Kategorien der theoretischen Kriminalität subsumiert werden könnten, allerdings nur von den Tätern selber, von Opfern, Beobachtern, Kriminologen etc., so Michel Foucaults illégallismes.
  4. Formell definierte Kriminalität: Die tatsächlich von den Kontrollinstanzen verarbeitet und in die Kriminalstatistik eingegangene Menge von Handlungen werden so tituliert.

Da die Erscheinungsformen der Kriminalität mannigfaltig sind und die Einteilung von Verhaltensweisen nach dem strafrechtlich vorgegebenen Begriffen oft zu eng und zu wenig aussagekräftig sind, versucht die Wissenschaft seit langem, umfassendere Strukturen zu erkennen. So beschreibt Günther Kaiser (1993) die Kriminalität

  • in Form des Verbrechens als Sozialerscheinung und beschreibt die strafrechtlich missbilligten Handlungen nach Raum (national, regional, lokal) und Zeit sowie Umfang (Zahl der Delikte) und Struktur (Art und Schwere der Delikte);
  • nach reinen Angriffs- und Gewinndelikten;
  • oder differenzierter nach Eigentums-, Gewalt-, Drogen-, Sexual-, Umwelt-, Wirtschafts- und Straßenverkehrsdelikten;

Diese an der strafrechtlichen Legalordnung orientierte Deliktsgruppierung befriedigt jedoch nicht stets. Deshalb gehen andere Einteilungsversuche dahin, nach zwischenmenschlicher, politischer und kollektiver Gewalt zu differenzieren: • Oberwelt-, Alltags-, Gewalt-, organisierter, politischer, berufsmäßiger und die öffentliche Ordnung verletzender Kriminalität; • Eine stärker kriminalsoziologisch orientierte Verbrechenstypologie will nach den situationsspezifischen Rollenverhalten der Neuerung, der Auflehnung und des Rückzugs differenzieren; • Andere Ansätze zur Typologisierung versuchen, Tätermerkmale einzubeziehen und überdies Aspekte der Strafrechtssystematik sowie der Sozialkontrolle zu integrieren.

Kunz (2008) sieht Kriminalität als einen Begriff, der zur Vergewisserung der Grenze zwischen öffentlicher Toleranz und förmlich sanktionierter Missbilligung dient. Diese verschiebt sich im sozialen Wandel und ist für jede geschichtlich-gesellschaftliche Situation neu zu fixieren. Insofern sei Kriminalität ein gesellschaftstheoretischer Begriff, dessen Konturen als Metaphern eines bestimmten Gesellschaftsbildes zu verstehen seien. In dieser theoretischen Bedeutung bleibt Kriminalität eine latente, nicht direkt beobachtbare Größe, die sich von der Gesamtzahl der in einem bestimmten Raum-Zeit-Gebiet festgestellten strafrechtlichen Gesetzesverstöße unterscheidet.

Eine Besonderheit gilt für den Kriminalitäts-Begriff des Labeling Approach. Danach ist "kriminell" eine zugeschriebene Eigenschaft und Kriminalität daher ein "negatives Gut" (Fritz Sack), dessen Verteilung sich unter umgekehrtem Vorzeichen nach denselben Kriterien richtet wie die gesellschaftliche Verteilung positiver Güter. Die mögliche Verknüpfung der Theorie der Kriminalität als eines negativen Guts mit der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie der "Ungüter" (H.G. Fuchs u.a., Hg., Güter und Ungüter. Berlin: Duncker und Humblot 1991) steht bislang noch aus.

Über die Zusammenhänge zwischen Kriminalität und anderen Elementen der materiellen Realität ließ sich lange Zeit erstaunlich wenig (gesichertes) Wissen beibringen. Henner Hess und Sebastian Scheerer wagten sich dann 1997 erstmals, eine konstruktivistische Kriminalitätstherorie zu skizzieren: Die zentrale Aufgabe der allgemeinen Kriminalitätstherorie bestand darin, einen Weg zu finden, auf dem sich die übliche Trennung makro- und mikroperspektivischer Devianztheorien überwinden ließ. Denn bisher beschränkten sich Kriminalitätstherorien bei ihren Erklärungsversuchen entweder auf das Handeln von Individuen oder aber auf die Erklärung unterschiedlicher Kriminalitätsraten und anderer Phänomene auf der Makro-Ebene. Eine allgemeine Kriminalitätstherorie sollte aber Antworten auf beide Arten von Fragen erlauben. Sie sollte Makro-Phänomene zwar von individuellen Handlungen analytisch trennen, aber beides im Zusammenhang sehen und eins ins andere übersetzen. Zu diesem Zweck schien ihnen ein Modell besonders geeignet, das das Mehrebenen-Problem in drei Schritten bewältigt. Im ersten Schritt geht es um die Widersprüche in der gesellschaftlichen Struktur, die zur Entstehung von bestimmten Risiken und zu deren Kategorisierung als "Kriminalität" führen. Im zweiten Schritt geht es um die Transformation dieser gesellschaftlichen Bedingungen in soziales Handeln und um Kriminalität als Handlung und situatives Ereignis. Im dritten Schritt geht es um die Frage, welche neuen überindividuellen Phänomene aus dem Handeln und Zusammenhandeln einer Vielzahl individueller Akteure entstehen und wie - geleitet durch bestimmte Transformationsregeln - die Vielzahl krimineller Ereignisse in neue Makro-Phänomene übersetzt wird. Diese Skizze einer konstruktiven Kriminalitätstheorie von Henner Hess und Sebastian Scheerer im Kriminologischen Journal 2/97 abgedruckt, diente der Kriminologie als Theoriediskussion über die zentrale Frage - Was ist Kriminalität?

Geschichte des Begriffs

In der Vergangenheit wurde der Begriff zwar von vornherein in Verbindung mit der Kriminalstatistik benutzt, hatte aber variierende Bedeutungen. Der erste von Flörchinger nachgewiesene eigenständige Lexikoneintrag von Kriminalität stammt aus dem Criminallexikon von Jagemann und Brauer (1854), beinhaltet aber nur einen Verweis: "Criminalität. S. Criminalstatistik. Wichtiger ist vielleicht die erste inhaltliche Bestimmung von 1895 in Meyers Kleinem Konversationslexikon: "Kriminalität, lat., das Verhalten eines Volkes oder einer Bevölkerungsgruppe zum Strafgesetz, ein Hauptzweig der Moralstatistik". Der Brockhaus versteckt Kriminalität zunächst (1888) unter dem Stichwort "Kriminalstatistik" und erläutert: "Zunächst kommt es darauf an, den Prozentsatz der verurteilten Verbrecher von der Gesamtbevölkerung (die sog. Kriminalität eines Landes oder nach Quételet in nicht zufälliger Weise als Maßstab für den 'verbrecherischen Hang der Bevölkerung' bezeichnet) statistisch festzustellen, wobei dann wiederum zwischen den einzelnen Landesteilen unterschieden, auch der statistische Vergleich mit anderen Staaten gezogen wird." Erst 1902 (Konvers. -L., 14. Aufl., 10. Bd., S. 735-738) wertet er Kriminalität zum eigenständigen Stichwort auf: "Kriminalität (neulat.), sowohl das Verhalten eines Volkes oder einer Volksklasse wie auch das Verhalten eines Einzelnen in strafrechtlicher Beziehung."

Die Endung "-ität" verweist auf einen Kollektivsingular (wie "Admiralität", "Generalität"). Nicht alle Kollektivsingular-Formen benötigen allerdings ein "-ität": man denke an "die Familie", "die Schulklasse", "das Vieh", "das Volk" ... . Der Begriff bezieht sich also im Gegensatz zu "Verbrechen" auf eine Menge von Straftaten, die als Gesamtheit gesehen ("gemessen") wird. Er setzt eine Perspektive voraus, aus der man diese Gesamtheit erfassen, beschreiben und letztlich auch beeinflussen kann ("Kriminalstatistik; Kriminalpolitik, Kriminalitätsbekämpfung") - und "konnte" daher erst im Umfeld eines entwickelten bürokratischen Apparats entstehen. Insofern setzt Kriminalität eine bestimmte Entwicklungsstufe des modernen Staates und die Vorstellung von der planmäßigen Gestaltbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse voraus. Das Wort ist ein Kollektivsingular. Das unterscheidet Kriminalität von "Verbrechen". Verbrechen ist konkret, individuell, in jedem Fall verschieden; so wie jeder Verbrecher ein Fall für sich ist. Kriminalität hingegen ist ein Sammelbegriff, der vom Einzelfall, vom speziellen Motiv und von der Eigenart einer jeden Tat gerade abstrahiert. Nur so kann man davon sprechen, dass die Kriminalität "steigt" oder "fällt". Eine Analyse der Entstehung des Kriminalitäts-Begriffs müßte schrittweise diese Neutralisierungsleistungen verfolgen, durch die sich die abstrakte, gegenüber der Lebenswelt indifferent gewordene, dem System verfügbar gemachte "Kriminalität" konstituiert. Was "von unten", aus der Lebenswelt heraus, als Verbrechen erscheint, erscheint "von oben" betrachtet, aus der abstrahierenden Perspektive der Herrschaft heraus, als gleichförmige Anhäufung von Gesetzwidrigkeiten. Zu untersuchen wäre, inwieweit die von Karl Marx stammende Kategorie der "Realabstraktion" (bezogen auf den Begriff der Arbeit) sich auch in Bezug auf die Kriminalität fruchtbar machen lassen. These: die zunehmende Sammlung großer Mengen von Akten über Verbrechen, die sich auf immer größere Mengen von Menschen und immer größere Territorien bezog, ließ die Besonderheiten des Einzelfalls hinter der groben Kategorisierung verschwinden. Der Begriff der Kriminalität entspricht insofern einem realgeschichtlichen Prozess der wachsenden quantitativen Bearbeitung von Rechtsverletzungen (und den ihnen zugrunde liegenden sozialen Beziehungen) und der zunehmenden Abstraktion von den Besonderheiten der jeweiligen Einzelfälle. Zwischen den Quantifizierung und Abstraktion der Herrschaftsbeziehungen in der realen Gesellschaft und der quantitativen Behandlung sozialer Sachverhalte in der Alltagssprache und den Wissenschaften bestand also ein Zusammenhang. Nicht nur, weil das stärker quantitative Regieren den Staatsdienern das Denken und die Aktenführung in immer stärker quantitativen Kategorien nahelegte, sondern auch deshalb, weil die nunmehr im realen Herrschaftsprozess gegebenen Realabstraktionen (im Sinn von Realquantifizierungen) mit dem Mittel der Zahl angemessen dargestellt werden konnten, drängte sich die Entwicklung eines dieser Realität entsprechenden Kollektivsingulars für deren wissenschaftliche Analyse an. Insofern ist die Entstehung des Begriffs der Kriminalität ein Ausdruck des Umstands, "dass wichtige Merkmale der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft dem Gedanken einer quantitativen Betrachtung sozialer Verhältnisse entgegenkamen" (Kern 1982, S. 35).


Kriminologische Relevanz

Kriminologie bedeutet wörtlich Lehre von der Kriminalität (Kunz 2008: 1). Ohne den Begriff der Kriminalität gäbe es wohl keine Kriminologie. Wie David Garland schon 1985 sagte: "The discovery of criminality, then, is the discovery of criminology itself." Das ist die zentrale kriminologische Relevanz dieses Begriffs. Nach Kunz (2008) ist für eine sozialwissenschaftlich orientierte Kriminologie die Kriminalität als gesellschaftstheoretische Kategorie, nicht als Summe kriminell definierten Verhaltens von Interesse. Die Kriminologie als anwendungsbezogene Bedarfsforschung benötigt die Werkzeuge, respektive Module der Kriminalitätstheorien. Denken wir nur an die biologischen Theorien (Evolutionstheorie, Neuronale Hirnforschung), die biosozialen Theorien (Chromosomen-Studien, Zwillingsforschung), die Kontrolltheorien (Bindungstheorien), Persönlichkeitstheorien (Psychoanalyse), an die Sozialstrukturellen Konzepte (Anomietheorien, Entwicklungsbezogene Kriminologie, an die multifaktoriellen Kriminalitätstheorien, Neutralisationstechniken, Sozialisationstheorien, Subkulturtheorie) und die vielen anderen.

Die Kriminologie ist aufgefordert, Kriminologie mit Ertrag für die Praxis zu betreiben. Es ist die kriminelle Finanzierung im Zusammenhang mit exponierten Wirtschafts- und politischen Vorhaben zu hinterfragen (Liebl 2004). Oder anders ausgedrückt, die Kriminalität dient in der Kriminologie durch das wissenschaftliche Begleiten der Fallzahlen, der Modi Operandi, der Dunkelfeldforschung und vieler weiterer Module zur empirisch gesicherten Erkenntniserlangung. Da sich die Phänomenbereiche der Kriminalität ständig wandeln, werden die Anforderungen an die Kriminologie stets differenzierter. Liebl (2004) iniitierte als Spezialgebiet der Kriminologie, sich stärker mit Wirtschaftskriminologie zu befassen.

Literatur

  • Eisenberg, Ulrich, Kriminologie, 6. Auflage, C.H. Beck, München, 2005
  • Flörchinger, Susana, Der Begriff Kriminalität. Eine Entstehungsgeschichte. Dissertation (Dr. phil.) FB 05, Universität Hamburg Juni 2004
  • Göppinger, Kriminologie, 6. Auflage, C.H. Beck, München, 2008
  • Hess, Henner, Scheerer, Sebastian, Was ist Kriminalität? Kriminologisches Journal, 29. Jg., 2/97, Juventa Verlag, Weinheim
  • Kaiser, Günther, Kriminologie, 3. Auflage, C.F. Müller, Heidelberg, 1996
  • Kaiser, Günther, Stichwort "Kriminalität" in: Kaiser, Kerner, Sack, Schellhoss, Hg., Kleines Krim. Wörterbuch. 3. Aufl. Heidelberg 1993, S. 238-246.
  • Kern, Horst, Empirische Sozialforschung. Ursprünge, Ansätze, Entwicklungslinien. München: C.H. Beck 1982
  • Kunz, Karl-Ludwig, Kriminologie. 5. Auflage. Bern: Haupt Verlag 2008
  • Kunz, Karl-Ludwig, Die wissenschaftliche Zugänglichkeit von Kriminalität. Wiesbaden: VS-Verlag 2008
  • Liebl, Karlhans, in: "Rothenburger Beiträge", Polizeiwissenschaftliche Schriftenreihe der Fachhochschule für Polizei Sachsen, Band 21, Rothenburg/Oberlausitz 2004
  • Schneider, Hans Joachim, Kriminologie, Walter de Gruyter, Berlin, 1987
  • Schwind, Hans-Dieter, Kriminologie. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen. 14. völlig neubearbeitete und erw. Aufl. Heidelberg: Kriminalistik Verlag 2004

Links

  • Law Commission of Canada (2003) What is a Crime? Challenges and Alternatives. Ottawa. www.lcc.gc.ca