Kriminalität: Unterschied zwischen den Versionen

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Über die Zusammenhänge zwischen Kriminalität und anderen Elementen der materiellen Realität ließ sich lange Zeit erstaunlich wenig (gesichertes) Wissen beibringen. Henner Hess und Sebastian Scheerer wagten sich dann 1997 erstmals, eine konstruktivistische Kriminalitätstherorie zu skizzieren: Die zentrale Aufgabe der allgemeinen Kriminalitätstherorie bestand darin, einen Weg zu finden, auf dem sich die übliche Trennung makro- und mikroperspektivischer Devianztheorien überwinden ließ. Denn bisher beschränkten sich Kriminalitätstherorien bei ihren Erklärungsversuchen entweder auf das Handeln von Individuen oder aber auf die Erklärung unterschiedlicher Kriminalitätsraten und anderer Phänomene auf der Makro-Ebene. Eine allgemeine Kriminalitätstherorie sollte aber Antworten auf beide Arten von Fragen erlauben. Sie sollte Makro-Phänomene zwar von individuellen Handlungen analytisch trennen, aber beides im Zusammenhang sehen und eins ins andere übersetzen. Zu diesem Zweck schien ihnen ein Modell besonders geeignet, das das Mehrebenen-Problem in drei Schritten bewältigt. Im ersten Schritt geht es um die Widersprüche in der gesellschaftlichen Struktur, die zur Entstehung von bestimmten Risiken und zu deren Kategorisierung als "Kriminalität" führen. Im zweiten Schritt geht es um die Transformation dieser gesellschaftlichen Bedingungen in soziales Handeln und um Kriminalität als Handlung und situatives Ereignis. Im dritten Schritt geht es um die Frage, welche neuen überindividuellen Phänomene aus dem Handeln und Zusammenhandeln einer Vielzahl individueller Akteure entstehen und wie - geleitet durch bestimmte Transformationsregeln - die Vielzahl krimineller Ereignisse in neue Makro-Phänomene übersetzt wird. Diese Skizze einer konstruktiven Kriminalitätstheorie von Henner Hess und Sebastian Scheerer im Kriminologischen Journal 2/97 abgedruckt, diente der Kriminologie als Theoriediskussion über die zentrale Frage - Was ist Kriminalität?
Über die Zusammenhänge zwischen Kriminalität und anderen Elementen der materiellen Realität ließ sich lange Zeit erstaunlich wenig (gesichertes) Wissen beibringen. Henner Hess und Sebastian Scheerer wagten sich dann 1997 erstmals, eine konstruktivistische Kriminalitätstherorie zu skizzieren: Die zentrale Aufgabe der allgemeinen Kriminalitätstherorie bestand darin, einen Weg zu finden, auf dem sich die übliche Trennung makro- und mikroperspektivischer Devianztheorien überwinden ließ. Denn bisher beschränkten sich Kriminalitätstherorien bei ihren Erklärungsversuchen entweder auf das Handeln von Individuen oder aber auf die Erklärung unterschiedlicher Kriminalitätsraten und anderer Phänomene auf der Makro-Ebene. Eine allgemeine Kriminalitätstherorie sollte aber Antworten auf beide Arten von Fragen erlauben. Sie sollte Makro-Phänomene zwar von individuellen Handlungen analytisch trennen, aber beides im Zusammenhang sehen und eins ins andere übersetzen. Zu diesem Zweck schien ihnen ein Modell besonders geeignet, das das Mehrebenen-Problem in drei Schritten bewältigt. Im ersten Schritt geht es um die Widersprüche in der gesellschaftlichen Struktur, die zur Entstehung von bestimmten Risiken und zu deren Kategorisierung als "Kriminalität" führen. Im zweiten Schritt geht es um die Transformation dieser gesellschaftlichen Bedingungen in soziales Handeln und um Kriminalität als Handlung und situatives Ereignis. Im dritten Schritt geht es um die Frage, welche neuen überindividuellen Phänomene aus dem Handeln und Zusammenhandeln einer Vielzahl individueller Akteure entstehen und wie - geleitet durch bestimmte Transformationsregeln - die Vielzahl krimineller Ereignisse in neue Makro-Phänomene übersetzt wird. Diese Skizze einer konstruktiven Kriminalitätstheorie von Henner Hess und Sebastian Scheerer im Kriminologischen Journal 2/97 abgedruckt, diente der Kriminologie als Theoriediskussion über die zentrale Frage - Was ist Kriminalität?


== Geschichte des Begriffs ==
== Geschichte der Kriminalität ==


Die Kriminalitätsgeschichte verweist auf die Notwendigkeit, Kriminalität auf gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse zu beziehen, die im Strafrecht ihren Ausdruck finden. Im England des 18. Jahrhunderts ist der Zusammenhang von Strafrecht und Sozialkontrolle besonders eng (Hay 1975). Die englische Kriminalitätsgeschichte hat mit Energie und Erfolg versucht, für die vormoderne Zeit Kriminalitätsstrukturen in regional abgegrenzten Räumen herauszuarbeiten (Cockburn 1977). Die Überlieferung von Grafschafts-, Kirchen- und Adelsgerichten ist dabei die wichtigste Quelle. Schon für das 17. Jahrhundert belegen Zeitreihenanalysen eine eindeutige Dominanz der Eigentumskriminalität. Vor drei Grafschaftsgerichten (Essex, Hertfordshire, Sussex) standen z.B. in dem Zeitraum 1559-1625 über 70 Prozent der Angeklagten wegen Diebstahl oder Raubes vor Gericht.
Auch die französische Kriminalitätsgeschichte hat sich sehr intensiv mit der vorrevolutionären Zeit befasst (Deyon 1975; Castan 1980). Die Überlieferung erlaubt es, auch schon für das Ancien régime auf breiter Basis den Zusammenhang von Delinquenz, Stafsystem und Strafpraxis anzugehen. Dabei wird ein für die Geschichte der Kriminalität wichtiger Gesichtspunkt herausgestellt. In Frankreich gab es ein breit gefächertes System informeller Strafkontrolle („se faire justice soimême“) mit einer sehr langen Lebensdauer. Es beeinflusste stark die durch Bürokratien registrierte Kriminalität. Erst im 19. Jahrhundert gewannen die Instanzen staatlicher Strafgewalt Gewicht und Durchschlagskraft.
Für den größten deutschen Einzelstaat, Preußen, sind die engen Verflechtungen von Gesellschafts- und Kriminalitätsgeschichte herausgearbeitet worden (Blasius 1976; 1978). Dass um die Mitte des 19. Jahrhunderts Kriminalität zum Massenphänomen wurde, hat eindeutig sozialökonomische Ursachen. Die Geschichte der Kriminalität rückt Armut und Not nachdrücklich ins Zentrum jenes Motivspektrums, das insbesondere hinter Massendelikten steht. Die Grenzlinien zwischen einem vormodernen, agrarische geprägten und einem modernen, städtisch-industriell bestimmten Verbrechertyp sind nicht scharf zu ziehen. Mit Industrialisierung und Urbanisierung, die in Deutschland erst im letzten Viertes des 19. Jahrhunderts voll einsetzten, stellte sich keineswegs ein Deliktschub bei Diebstählen ein; den gab es vielmehr vorher.
Die historische Kriminalitätsforschung beschäftigt sich zwar primär mit Kriminalität als Abbreviatur der sozialen und ökonomischen Entwicklung; doch verstärkt wendet sie auch ihre Aufmerksamkeit der Lebenswirklichkeit jener Schichten zu, die mit Recht in Konflikt gerieten. Nicht um eine falsche Romantisierung des Verbrechens geht es dabei, sondern um den Zusammenhang von Verbrechen und Gesellschaft sowie um die Markierung gesellschaftlicher Warnsignale. Für die moderne Kriminologie ist die Sozialgeschichte der Kriminalität von produktivem Erinnerungswert. (Kaiser 1993)
Geschichte des Begriffs
In der Vergangenheit wurde der Begriff zwar von vornherein in Verbindung mit der Kriminalstatistik benutzt, hatte aber variierende Bedeutungen. Der erste von Flörchinger nachgewiesene eigenständige Lexikoneintrag von Kriminalität stammt aus dem Criminallexikon von Jagemann und Brauer (1854), beinhaltet aber nur einen Verweis: "Criminalität. S. Criminalstatistik. Wichtiger ist vielleicht die erste inhaltliche Bestimmung von 1895 in Meyers Kleinem Konversationslexikon: "Kriminalität, lat., das Verhalten eines Volkes oder einer Bevölkerungsgruppe zum Strafgesetz, ein Hauptzweig der Moralstatistik". Der Brockhaus versteckt Kriminalität zunächst (1888) unter dem Stichwort "Kriminalstatistik" und erläutert: "Zunächst kommt es darauf an, den Prozentsatz der verurteilten Verbrecher von der Gesamtbevölkerung (die sog. Kriminalität eines Landes oder nach Quételet in nicht zufälliger Weise als Maßstab für den 'verbrecherischen Hang der Bevölkerung' bezeichnet) statistisch festzustellen, wobei dann wiederum zwischen den einzelnen Landesteilen unterschieden, auch der statistische Vergleich mit anderen Staaten gezogen wird." Erst 1902 (Konvers. -L., 14. Aufl., 10. Bd., S. 735-738) wertet er Kriminalität zum eigenständigen Stichwort auf: "Kriminalität (neulat.), sowohl das Verhalten eines Volkes oder einer Volksklasse wie auch das Verhalten eines Einzelnen in strafrechtlicher Beziehung."
In der Vergangenheit wurde der Begriff zwar von vornherein in Verbindung mit der Kriminalstatistik benutzt, hatte aber variierende Bedeutungen. Der erste von Flörchinger nachgewiesene eigenständige Lexikoneintrag von Kriminalität stammt aus dem Criminallexikon von Jagemann und Brauer (1854), beinhaltet aber nur einen Verweis: "Criminalität. S. Criminalstatistik. Wichtiger ist vielleicht die erste inhaltliche Bestimmung von 1895 in Meyers Kleinem Konversationslexikon: "Kriminalität, lat., das Verhalten eines Volkes oder einer Bevölkerungsgruppe zum Strafgesetz, ein Hauptzweig der Moralstatistik". Der Brockhaus versteckt Kriminalität zunächst (1888) unter dem Stichwort "Kriminalstatistik" und erläutert: "Zunächst kommt es darauf an, den Prozentsatz der verurteilten Verbrecher von der Gesamtbevölkerung (die sog. Kriminalität eines Landes oder nach Quételet in nicht zufälliger Weise als Maßstab für den 'verbrecherischen Hang der Bevölkerung' bezeichnet) statistisch festzustellen, wobei dann wiederum zwischen den einzelnen Landesteilen unterschieden, auch der statistische Vergleich mit anderen Staaten gezogen wird." Erst 1902 (Konvers. -L., 14. Aufl., 10. Bd., S. 735-738) wertet er Kriminalität zum eigenständigen Stichwort auf: "Kriminalität (neulat.), sowohl das Verhalten eines Volkes oder einer Volksklasse wie auch das Verhalten eines Einzelnen in strafrechtlicher Beziehung."


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