Kriminalität: Unterschied zwischen den Versionen

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Die Endung "-ität" verweist auf einen Kollektivsingular (wie "Admiralität", "Generalität"). Nicht alle Kollektivsingular-Formen benötigen allerdings ein "-ität": man denke an "die Familie", "die Schulklasse", "das Vieh", "das Volk" ... . Der Begriff bezieht sich also im Gegensatz zu "Verbrechen" auf eine Menge von Straftaten, die als Gesamtheit gesehen ("gemessen") wird. Er setzt eine Perspektive voraus, aus der man diese Gesamtheit erfassen, beschreiben und letztlich auch beeinflussen kann ("Kriminalstatistik; Kriminalpolitik, Kriminalitätsbekämpfung") - und "konnte" daher erst im Umfeld eines entwickelten bürokratischen Apparats entstehen. Insofern setzt K. eine bestimmte Entwicklungsstufe des modernen Staates und die Vorstellung von der planmäßigen Gestaltbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse voraus. Das Wort ist ein Kollektivsingular. Das unterscheidet K. von "Verbrechen". Verbrechen ist konkret, individuell, in jedem Fall verschieden; so wie jeder Verbrecher ein Fall für sich ist. K. hingegen ist ein Sammelbegriff, der vom Einzelfall, vom speziellen Motiv und von der Eigenart einer jeden Tat gerade abstrahiert. Nur so kann man davon sprechen, dass die K. "steigt" oder "fällt". Eine Analyse der Entstehung des K.-Begriffs müßte schrittweise diese Neutralisierungsleistungen verfolgen, durch die sich die abstrakte, gegenüber der Lebenswelt indifferent gewordene, dem System verfügbar gemachte "K." konstituiert. Was "von unten", aus der Lebenswelt heraus, als Verbrechen erscheint, erscheint "von oben" betrachtet, aus der abstrahierenden Perspektive der Herrschaft heraus, als gleichförmige Anhäufung von Gesetzwidrigkeiten. Zu untersuchen wäre, inwieweit die von Karl Marx stammende Kategorie der "Realabstraktion" (bezogen auf den Begriff der Arbeit) sich auch in Bezug auf die K. fruchtbar machen lassen. These: die zunehmende Sammlung großer Mengen von Akten über Verbrechen, die sich auf immer größere Mengen von Menschen und immer größere Territorien bezog, ließ die Besonderheiten des Einzelfalls hinter der groben Kategorisierung verschwinden. Der Begriff der K. entspricht insofern einem realgeschichtlichen Prozess der wachsenden quantitativen Bearbeitung von Rechtsverletzungen (und den ihnen zugrunde liegenden sozialen Beziehungen) und der zunehmenden Abstraktion von den Besonderheiten der jeweiligen Einzelfälle. Zwischen den Quantifizierung und Abstraktion der Herrschaftsbeziehungen in der realen Gesellschaft und der quantitativen Behandlung sozialer Sachverhalte in der Alltagssprache und den Wissenschaften bestand also ein Zusammenhang. Nicht nur, weil das stärker quantitative Regieren den Staatsdienern das Denken und die Aktenführung in immer stärker quantitativen Kategorien nahelegte, sondern auch deshalb, weil die nunmehr im realen Herrschaftsprozess gegebenen Realabstraktionen (im Sinn von Realquantifizierungen) mit dem Mittel der Zahl angemessen dargestellt werden konnten, drängte sich die Entwicklung eines dieser Realität entsprechenden Kollektivsingulars für deren wissenschaftliche Analyse an. Insofern ist die Entstehung des Begriffs der K. ein Ausdruck des Umstands, "dass wichtige Merkmale der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft dem Gedanken einer quantitativen Betrachtung sozialer Verhältnisse entgegenkamen" (Kern 1982, S. 35).
Die Endung "-ität" verweist auf einen Kollektivsingular (wie "Admiralität", "Generalität"). Nicht alle Kollektivsingular-Formen benötigen allerdings ein "-ität": man denke an "die Familie", "die Schulklasse", "das Vieh", "das Volk" ... . Der Begriff bezieht sich also im Gegensatz zu "Verbrechen" auf eine Menge von Straftaten, die als Gesamtheit gesehen ("gemessen") wird. Er setzt eine Perspektive voraus, aus der man diese Gesamtheit erfassen, beschreiben und letztlich auch beeinflussen kann ("Kriminalstatistik; Kriminalpolitik, Kriminalitätsbekämpfung") - und "konnte" daher erst im Umfeld eines entwickelten bürokratischen Apparats entstehen. Insofern setzt K. eine bestimmte Entwicklungsstufe des modernen Staates und die Vorstellung von der planmäßigen Gestaltbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse voraus. Das Wort ist ein Kollektivsingular. Das unterscheidet K. von "Verbrechen". Verbrechen ist konkret, individuell, in jedem Fall verschieden; so wie jeder Verbrecher ein Fall für sich ist. K. hingegen ist ein Sammelbegriff, der vom Einzelfall, vom speziellen Motiv und von der Eigenart einer jeden Tat gerade abstrahiert. Nur so kann man davon sprechen, dass die K. "steigt" oder "fällt". Eine Analyse der Entstehung des K.-Begriffs müßte schrittweise diese Neutralisierungsleistungen verfolgen, durch die sich die abstrakte, gegenüber der Lebenswelt indifferent gewordene, dem System verfügbar gemachte "K." konstituiert. Was "von unten", aus der Lebenswelt heraus, als Verbrechen erscheint, erscheint "von oben" betrachtet, aus der abstrahierenden Perspektive der Herrschaft heraus, als gleichförmige Anhäufung von Gesetzwidrigkeiten. Zu untersuchen wäre, inwieweit die von Karl Marx stammende Kategorie der "Realabstraktion" (bezogen auf den Begriff der Arbeit) sich auch in Bezug auf die K. fruchtbar machen lassen. These: die zunehmende Sammlung großer Mengen von Akten über Verbrechen, die sich auf immer größere Mengen von Menschen und immer größere Territorien bezog, ließ die Besonderheiten des Einzelfalls hinter der groben Kategorisierung verschwinden. Der Begriff der K. entspricht insofern einem realgeschichtlichen Prozess der wachsenden quantitativen Bearbeitung von Rechtsverletzungen (und den ihnen zugrunde liegenden sozialen Beziehungen) und der zunehmenden Abstraktion von den Besonderheiten der jeweiligen Einzelfälle. Zwischen den Quantifizierung und Abstraktion der Herrschaftsbeziehungen in der realen Gesellschaft und der quantitativen Behandlung sozialer Sachverhalte in der Alltagssprache und den Wissenschaften bestand also ein Zusammenhang. Nicht nur, weil das stärker quantitative Regieren den Staatsdienern das Denken und die Aktenführung in immer stärker quantitativen Kategorien nahelegte, sondern auch deshalb, weil die nunmehr im realen Herrschaftsprozess gegebenen Realabstraktionen (im Sinn von Realquantifizierungen) mit dem Mittel der Zahl angemessen dargestellt werden konnten, drängte sich die Entwicklung eines dieser Realität entsprechenden Kollektivsingulars für deren wissenschaftliche Analyse an. Insofern ist die Entstehung des Begriffs der K. ein Ausdruck des Umstands, "dass wichtige Merkmale der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft dem Gedanken einer quantitativen Betrachtung sozialer Verhältnisse entgegenkamen" (Kern 1982, S. 35).


Über die Zusammenhänge zwischen K. und anderen Elementen der materiellen Realität ließ sich lange Zeit erstaunlich wenig (gesichertes) Wissen beibringen. Henner Hess und Sebastian Scheerer wagten sich dann 1997 erstmals, eine konstruktivistische Kriminalitätstherorie zu skizzieren: Die zentrale Aufgabe der allgemeinen Kriminalitätstherorie bestand darin, einen Weg zu finden, auf dem sich die übliche Trennung makro- und mikroperspektivischer Devianztheorien überwinden ließ. Denn bisher beschränkten sich Kriminalitätstherorien bei ihren Erklärungsversuchen entweder auf das Handeln von Individuen oder aber auf die Erklärung unterschiedlicher Kriminalitätsraten und anderer Phänomene auf der Makro-Ebene. Eine allgemeine Kriminalitätstherorie sollte aber Antworten auf beide Arten von Fragen erlauben. Sie sollte Makro-Phänomene zwar von individuellen Handlungen analytisch trennen, aber beides im Zusammenhang sehen und eins ins andere übersetzen. Zu diesem Zweck schien ihnen ein Modell besonders geeignet, das das Mehrebenen-Problem in drei Schritten bewältigt. Im ersten Schritt geht es um die Widersprüche in der gesellschaftlichen Struktur, die zur Entstehung von bestimmten Risiken und zu deren Kategorisierung als "K." führen. Im zweiten Schritt geht es um die Transformation dieser gesellschaftlichen Bedingungen in soziales Handeln und um K. als Handlung und situatives Ereignis. Im dritten Schritt geht es um die Frage, welche neuen überindividuellen Phänomene aus dem Handeln und Zusammenhandeln einer Vielzahl individueller Akteure entstehen und wie - geleitet durch bestimmte Transformationsregeln - die Vielzahl krimineller Ereignisse in neue Makro-Phänomene übersetzt wird. Diese Skizze einer konstruktiven Kriminalitätstheorie von Henner Hess und Sebastian Scheerer im Kriminologischen Journal 2/97 abgedruckt, diente der Kriminologie als Theoriediskussion über die zentrale Frage - Was ist Kriminalität?


== Erkenntnisse über Kriminalität ==
== Erkenntnisse über Kriminalität ==
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