Korruption, Gewalt und die Welt der Polizisten. Deutschland, Chile, Bolivien und Venezuela im Vergleich: Unterschied zwischen den Versionen

 
(Eine dazwischenliegende Version desselben Benutzers wird nicht angezeigt)
Zeile 22: Zeile 22:


== Ergebnisse ==
== Ergebnisse ==
Nach Carola Schmid (S. 340) ist das polizeiliche Gewaltniveau am höchsten in Venezuela, gefolgt von Bolivien, Chile und der Bundesrepublik Deutschland.  
Das höchste Gewaltniveau findet sich laut Schmid (S. 340) in Venezuela, gefolgt von Bolivien, Chile und der (gleichsam als Hintergrundfolie dienenden) Bundesrepublik Deutschland.  


=== Venezuela ===
=== Venezuela ===
Die Polizisten sind hier selbst am stärksten den Todesgefahren ausgesetzt. So durchdringt die Gewalt nicht nur die Polizei, sondern auch die Gesellschaft (S. 370).
Hier ist das Todesrisiko für Polizisten selbst am höchsten. Die Gewalt durchdringt Polizei und Gesellschaft. Die Polizei tötet häufiger als in den anderen Staaten. Seit 1992 pro Jahr mindestens 101 Fälle (28-50% davon Exekutionen). Tötungen sind häufig auch Folge von Folter. Laut PROVEA (Programa Venezolana de Educación – Acción de Derechos Humanos) entspicht die Hälfte aller Tötungen extralegalen Hinrichtungen. Ein weiteres Problem ist das „Verschwindenlassen“ von Personen (Amnesty International, 2000). Säuberungen von Stadtvierteln dienen der Demonstration staatlicher Macht (S. 50 f.; 339, 370).
Seit 1992 gab es mindestens 101 Tötungen pro Jahr (28-50% der Tötungen sind Exekutionen (S. 339)) als häufige Folge von Folter. Laut PROVEA (Programa Venezolana de Educación – Acción de Derechos Humanos) entspicht die Hälfte aller Tötungen extralegalen Hinrichtungen. Ein weiteres Problem ist das „Verschwindenlassen“ von Personen (Amnesty International, 2000).
Zudem sollen Säuberungen von Vierteln staatliche Macht demonstrieren (S. 50 f.).


PROVEA berichtet von körperlicher staatlicher Gewalt in Gewahrsam und bei Verhaftung (bspw. Einsatz des Vagabundengesetzes (seit 1997 aufgehoben) bei Großrazzien (S. 46)). Dabei schlagen, misshandeln, foltern Polizisten Verdächtige, verabreichen ihnen Elektroschocks oder führen Scheinhinrichtungen durch (Amnesty International, 2000). Polizisten in Venezuela sind in der Unterschicht verankert und ihr brutales Vorgehen wird von Teilen der Bevölkerung (Mittel- und Oberschicht ) toleriert und gilt so als Normalität (S. 369, 63). In Caracas ist die Gewalt durch die Polizei sozial erwünscht, da so gegen die Grundkriminalität vorgegangen wird und sich die Menschen dankbar für zum Beispiel die Erschießung von Gangmitgliedern zeigen (S. 216).  
PROVEA berichtet von körperlicher staatlicher Gewalt in Gewahrsam und bei Verhaftung (bspw. Einsatz des Vagabundengesetzes; seit 1997 aufgehoben) bei Großrazzien (S. 46)). Dabei schlagen, misshandeln, foltern Polizisten Verdächtige, verabreichen ihnen Elektroschocks oder führen Scheinhinrichtungen durch (Amnesty International 2000). Polizisten in Venezuela sind in der Unterschicht verankert und ihr brutales Vorgehen wird von Teilen der Bevölkerung (Mittel- und Oberschicht ) toleriert und gilt als Normalität (S. 369, 63). In Caracas ist die Gewalt durch die Polizei sozial erwünscht, da so gegen die Grundkriminalität vorgegangen wird und sich die Menschen z.B. für die Erschießung von Gangmitgliedern dankbar zeigen (S. 216).  


Venezolanische Polizisten sprechen in den Interviews sehr frei über Auseinandersetzungen mit Verdächtigen und ihr eigenes gewalttätiges Vorgehen. Ursächlich für die Offenheit ist das Unwissen über Gesetzesbrüche, als auch der soziale Prozess Gewalthandeln als alltäglich und normal anzusehen (S. 223, 243).
Venezolanische Polizisten sprechen in den Interviews sehr frei über Auseinandersetzungen mit Verdächtigen und ihr eigenes gewalttätiges Vorgehen. Ursächlich für die Offenheit sind ihre eigenes Unwissen über die Rechtswidrigkeit des Vorgehens als auch die Normalitätsvorstellungen ihrer Umgebung (S. 223, 243). Illustrieren kann das die Aussage eines Polizisten zum richtigen Umgang mit Polizistenmördern: „Wenn sie uns umbringen, bringen sie uns um, sonst bringen wir sie um. Es gibt überhaupt keine Norm, die die Tat eines Polizisten kontrolliert, wenn sein Leben in Gefahr ist.“ (S. 253. V 7)
Die Einstellung venezolanischer Polizisten zu Polizistenmördern, Auszug aus einem Interview:
„Wenn sie uns umbringen, bringen sie uns um, sonst bringen wir sie um. Es gibt überhaupt keine Norm, die die Tat eines Polizisten kontrolliert, wenn sein Leben in Gefahr ist.“ (S. 253. V 7)


=== Bolivien ===
=== Bolivien ===
Die Gewalt nimmt mit dem Anstieg der Drogenkriminalität zu, vor allem in Kokain-Anbauregionen (bei El Chapare) ist sie sehr hoch. Todesopfer sind meist Demonstranten, die willkürlichen Schüssen oder Schlägen ausgesetzt sind, sowie Kinder, die durch exzessiven Tränengaseinsatz in geschlossenen Räumen daran ersticken. Es gibt nur wenige extralegale Exekutionen, Folter und keine Fälle von „Verschwindenlassen“ (S. 56).  
Die Gewalt nimmt mit dem Anstieg der Drogenkriminalität zu, vor allem in Kokain-Anbauregionen (bei El Chapare). Todesopfer sind meist Demonstranten, die willkürlichen Schüssen oder Schlägen ausgesetzt sind, sowie Kinder, die durch exzessiven Tränengaseinsatz in geschlossenen Räumen ersticken. Extralegale Exekutionen und Folter sind eher selten. Fälle von „Verschwindenlassen“ werden nicht berichtet (S. 56).  


Die Antisoziale Haltung der Polizei zeigt sich durch Fälle, wie:  
Die Antisoziale Haltung der Polizei zeigt sich durch Fälle, wie:  


„Jugendlicher aus der sozial schwachen Schicht […] sah sich in eine Schlägerei verwickelt […]. Zwei Beamte brachten ihn in ein Wäldchen […], sie prügelten ihn lange und brutal durch, was zu Knochenbrüchen und zahlreichen Blutergüssen führte, zogen ihn aus, überschütteten ihn mit Benzin und versuchten ihn lebendig anzuzünden.“
:„Jugendlicher aus der sozial schwachen Schicht […] sah sich in eine Schlägerei verwickelt […]. Zwei Beamte brachten ihn in ein Wäldchen […], sie prügelten ihn lange und brutal durch, was zu Knochenbrüchen und zahlreichen Blutergüssen führte, zogen ihn aus, überschütteten ihn mit Benzin und versuchten ihn lebendig anzuzünden.“
Der Polizeichef äußerte sich dazu wie folgt, ''„dass es eine alltägliche Praxis sei, Betrunkene und Antisoziale an abgelegene Plätze zu bringen, um auf diese Weise eine ‚soziale Säuberung‘ zu erreichen […]''“. Er stritt den Einsatz physischer Gewalt ab.  
Der Polizeichef äußerte sich dazu wie folgt, ''„dass es eine alltägliche Praxis sei, Betrunkene und Antisoziale an abgelegene Plätze zu bringen, um auf diese Weise eine ‚soziale Säuberung‘ zu erreichen […]''“. Er stritt den Einsatz physischer Gewalt ab.
Der Polizeichef des Departments […] erklärte, dass der Versuch einen Menschen lebendig zu verbrennen […] eine ''‚vereinzelte kleine Sache‘'' innerhalb eines Einsatzes der Säuberung sei. […] Die Verbrennungen habe sich die Person selbst zugefügt“ (Mansilla, 1999, S. 40 ff.)
 
:Der Polizeichef des Departments […] erklärte, dass der Versuch einen Menschen lebendig zu verbrennen […] eine ''‚vereinzelte kleine Sache‘'' innerhalb eines Einsatzes der Säuberung sei. […] Die Verbrennungen habe sich die Person selbst zugefügt“ (Mansilla, 1999, S. 40 ff.)


=== Chile ===
=== Chile ===
Pro Jahr sterben zwischen fünf und zwanzig Menschen (Zahlen sinken). Zu 80% gehen die von der Polizei verursachten Todesfälle auf Schusswaffengebrauch zurück; zu 20% auf Ersticken, Untertauchen, Schläge und anderes. Im Polizeigewahrsam und in der Haft kommt es aber zu Schlägen, Folter, Elektroschocks, Essen- und Schlafentzug. Laut der Menschenrechtsgruppe CODEPU (Comité de Defensa de los Derechos del Pueblo) gibt es keine massenhaften Willkürverhaftungen. Die Autorin sieht im Einsatz der Foltertechniken gegenüber gewöhnlichen ebenso wie politischen (34%) Straftätern eine Nachwirkung des Militärregimes (S. 61).
Pro Jahr sterben zwischen fünf und zwanzig Menschen (abnehmende Tendenz). Zu 80% gehen die von der Polizei verursachten Todesfälle auf Schusswaffengebrauch zurück; zu 20% auf Ersticken, Untertauchen, Schläge und anderes. Im Polizeigewahrsam und in der Haft kommt es aber zu Schlägen, Folter, Elektroschocks, Essen- und Schlafentzug. Laut der Menschenrechtsgruppe CODEPU (Comité de Defensa de los Derechos del Pueblo) gibt es keine massenhaften Willkürverhaftungen. Die Autorin sieht im Einsatz der Foltertechniken gegenüber gewöhnlichen ebenso wie politischen (34%) Straftätern eine Nachwirkung des Militärregimes (S. 61).


Übergriffe auf politische Häftlinge:  
Übergriffe auf politische Häftlinge:  
„(…) im Zuge der Verlegung von 56 Häftlingen (…)" wurden „politische Gefangene von Wärtern misshandelt. Dem Vernehmen nach wurden die Insassen zu Boden gestoßen und anschließend mit Faustschlägen traktiert, mit Gewehrkolben geschlagen sowie mit Wasser begossen und mit Tränengas besprüht. Mindestens zwei Gefangene sollen mit Elektroschlagstöcken gefoltert, einige andere mit dem Kopf unter Wasser getaucht worden sein" (Amnesty International 2000, US Department of State 2000).
:„(…) im Zuge der Verlegung von 56 Häftlingen (…)" wurden „politische Gefangene von Wärtern misshandelt. Dem Vernehmen nach wurden die Insassen zu Boden gestoßen und anschließend mit Faustschlägen traktiert, mit Gewehrkolben geschlagen sowie mit Wasser begossen und mit Tränengas besprüht. Mindestens zwei Gefangene sollen mit Elektroschlagstöcken gefoltert, einige andere mit dem Kopf unter Wasser getaucht worden sein" (Amnesty International 2000, US Department of State 2000).


=== Deutschland ===
=== Deutschland ===
Zeile 58: Zeile 55:
== Diskussion ==
== Diskussion ==
* Opfer: intellektuelle Oppositionelle, untere Schichten (ohne Besitz von Mitteln zur Informierung der Öffentlichkeit über ihre Verhältnisse (vgl. S. 63))
* Opfer: intellektuelle Oppositionelle, untere Schichten (ohne Besitz von Mitteln zur Informierung der Öffentlichkeit über ihre Verhältnisse (vgl. S. 63))


* Venezuela/Bolivien: Drohungen gegen Menschenrechtsorganisationen; willkürliche Verhaftungen; Gewalt gegen Unterprivilegierte, Menschen mit geringem Machtpotential, Studenten und Rekruten (vgl. S. 53; Amnesty International, 2000)
* Venezuela/Bolivien: Drohungen gegen Menschenrechtsorganisationen; willkürliche Verhaftungen; Gewalt gegen Unterprivilegierte, Menschen mit geringem Machtpotential, Studenten und Rekruten (vgl. S. 53; Amnesty International, 2000)


* Venezuela
* Venezuela
Zeile 69: Zeile 64:


-> Berufsauffassung/Autonomie der Polizisten stehen Staat entgegen (keine mündliche Rechtstreue (vgl. S. 386)
-> Berufsauffassung/Autonomie der Polizisten stehen Staat entgegen (keine mündliche Rechtstreue (vgl. S. 386)




Zeile 76: Zeile 70:
-> Vergleich Bolivien/Chile: ähnliche Gewaltniveaus müssen nicht den Einstellungen der Polizisten entsprechen (vgl. S. 371).
-> Vergleich Bolivien/Chile: ähnliche Gewaltniveaus müssen nicht den Einstellungen der Polizisten entsprechen (vgl. S. 371).


 
*Das staatliche Gewaltmonopol existiert in der BRD und Chile, nicht jedoch in Venezuela und Bolivien (vgl. S. 376).
Das staatliche Gewaltmonopol existiert in der BRD und Chile, nicht jedoch in Venezuela und Bolivien (vgl. S. 376).
 
Aus den gewonnenen Informationen kann geschlossen werden, dass die Ländermerkmale in Beziehung zur Gewalt durch ihre Polizei stehen, sich also eher länderspezifisch verhalten (vgl. S. 363).


== Literatur ==
== Literatur ==
Zeile 89: Zeile 80:
* Schmid, C. (2007). Korruption, Gewalt und die Welt der Polizisten Deutschland, Chile, Bolivien und Venezuela im Vergleich. Frankfurt am Main: Vervuert.
* Schmid, C. (2007). Korruption, Gewalt und die Welt der Polizisten Deutschland, Chile, Bolivien und Venezuela im Vergleich. Frankfurt am Main: Vervuert.


* http://www.amnesty.de/laenderbericht/venezuela?country=210&topic=227&node_type=ai_annual_report&from_month=0&from_year=&to_month=0&to_year=&submit.x=58&submit.y=6&result_limit=10&form_id=ai_core_search_form
*[http://www.amnesty.de/laenderbericht/venezuela?country=210&topic=227&node_type=ai_annual_report&from_month=0&from_year=&to_month=0&to_year=&submit.x=58&submit.y=6&result_limit=10&form_id=ai_core_search_form Amnesty International. Länderbericht Venezuela]


* http://www.philso.uni-augsburg.de/lehrstuehle/soziologie/sozio3/mitarbeiter/schmid/publikationen/
*[http://www.philso.uni-augsburg.de/lehrstuehle/soziologie/sozio3/mitarbeiter/schmid/publikationen/ Carola Schmid, Universität Augsburg]


*http://www.presse.uni-augsburg.de/unipress/up20025/artikel_15.shtml
*[http://www.presse.uni-augsburg.de/unipress/up20025/artikel_15.shtml Informelle Verhaltensnormen der Polizei in Lateinamerika]


== Weblinks ==
== Weblinks ==
31.738

Bearbeitungen