Korruption, Gewalt und die Welt der Polizisten. Deutschland, Chile, Bolivien und Venezuela im Vergleich

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Korruption, Gewalt und die Welt der Polizisten - Deutschland, Chile, Bolivien und Venezuela im Vergleich ist der Titel eines Buches von Carola Schmid aus dem Jahre 2007. Dieser Beitrag behandelt ausschließlich den Aspekt der Polizei-Gewalt (d.h. Tötungen, Folter und andere körperliche Gewalteinwirkungen; vgl. Schmid, S. 339). Zur Korruption siehe: Korrupte Polizei in Lateinamerika).

In der Polizei sieht die Autorin eine „bedeutende Akteurin des Rechtsstaates" - „aus der Perspektive der Bevölkerung vielleicht sogar die bedeutendste, weil sie den Staat am nachdrücklichsten zu spüren bekommt, wenn sie mit der Polizei zu tun hat“ (Schmid 2007: 7).

Ihre Forschungsfragen lauten:

  • Gibt es überhaupt ‚die‘ korrupte und brutale lateinamerikanische Polizei?
  • Ist die lateinamerikanische Polizei in allen Ländern gleich?
  • Wo nimmt die Bindung der Polizisten an rechtliche Normen zu, wo gar ab?
  • Was treibt Polizisten zu ihrem Handeln?

Gegenstand der Untersuchung ist die Schutzpolizei. Die Autorin begründet diese Wahl damit, dass sie für „einen großen Teil der Menschenrechtsverletzungen und Tötungen verantwortlich" sei (S. 67). Es wurden die Polizisten der Hauptstädte befragt, da sich Probleme durch steigenden Kriminalitätsdruck sowie zunehmende Verstädterung und Verarmung hier ansammeln. Dabei stehen die Bürger des Landes meist im direkten Kontakt zur Schutzpolizei und sie repräsentiert die Polizei am stärksten (vgl. S. 63 f.).


Methode

  • Literaturstudium (Veröffentlichungen von Menschenrechtsorganisationen, Presseberichte)
  • Ethnographie, teilnehmende Beobachtung
  • Befragung von Polizisten der drei südamerikanischen Staaten in offenen Interviews und mit Fragebögen

Probleme beim Feldzugang bestanden in der Notwendigkeit zu vermeiden, mit Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen verwechselt zu werden - und damit umzugehen, dass der Zugang an die Möglichkeit gekoppelt wurde, auch der Perspektive der Polizeiführung Rechnung zu tragen. Die Polizeiführung wählte die teilnehmenden Polizeireviere aus und wirkte an der Erstellung des Fragenkatalogs mit. Die Befragten selbst tendierten einerseits zu Verschwiegenheit, andererseits zu sozial erwünschten Antworten (auch aus Sorge vor Verletzung der Anonymität der Antworten durch die Polizeiführung; S. 74, 87).

Problematisch bei der Erforschung der lateinamerikanischen Polizei ist die nicht klar definierbare Trennlinie zwischen „Normalität und Devianz“. Gesetzesverletzungen wie z.B. die Verabreichung von Elektroschocks durch die Polizei, werden als alltäglich und damit nicht als Devianz wahrgenommen. Die oft unwissende Bevölkerung sieht derlei Phänomene dann gar nicht als als unrechtmäßige Gewalthandlung der Polizisten an (S. 8, 337).

Ergebnisse

Das höchste Gewaltniveau findet sich laut Schmid (S. 340) in Venezuela, gefolgt von Bolivien, Chile und der (gleichsam als Hintergrundfolie dienenden) Bundesrepublik Deutschland.

Venezuela

Hier ist das Todesrisiko für Polizisten selbst am höchsten. Die Gewalt durchdringt Polizei und Gesellschaft. Die Polizei tötet häufiger als in den anderen Staaten. Seit 1992 pro Jahr mindestens 101 Fälle (28-50% davon Exekutionen). Tötungen sind häufig auch Folge von Folter. Laut PROVEA (Programa Venezolana de Educación – Acción de Derechos Humanos) entspicht die Hälfte aller Tötungen extralegalen Hinrichtungen. Ein weiteres Problem ist das „Verschwindenlassen“ von Personen (Amnesty International, 2000). Säuberungen von Stadtvierteln dienen der Demonstration staatlicher Macht (S. 50 f.; 339, 370).

PROVEA berichtet von körperlicher staatlicher Gewalt in Gewahrsam und bei Verhaftung (bspw. Einsatz des Vagabundengesetzes; seit 1997 aufgehoben) bei Großrazzien (S. 46)). Dabei schlagen, misshandeln, foltern Polizisten Verdächtige, verabreichen ihnen Elektroschocks oder führen Scheinhinrichtungen durch (Amnesty International 2000). Polizisten in Venezuela sind in der Unterschicht verankert und ihr brutales Vorgehen wird von Teilen der Bevölkerung (Mittel- und Oberschicht ) toleriert und gilt als Normalität (S. 369, 63). In Caracas ist die Gewalt durch die Polizei sozial erwünscht, da so gegen die Grundkriminalität vorgegangen wird und sich die Menschen z.B. für die Erschießung von Gangmitgliedern dankbar zeigen (S. 216).

Venezolanische Polizisten sprechen in den Interviews sehr frei über Auseinandersetzungen mit Verdächtigen und ihr eigenes gewalttätiges Vorgehen. Ursächlich für die Offenheit sind ihre eigenes Unwissen über die Rechtswidrigkeit des Vorgehens als auch die Normalitätsvorstellungen ihrer Umgebung (S. 223, 243). Illustrieren kann das die Aussage eines Polizisten zum richtigen Umgang mit Polizistenmördern: „Wenn sie uns umbringen, bringen sie uns um, sonst bringen wir sie um. Es gibt überhaupt keine Norm, die die Tat eines Polizisten kontrolliert, wenn sein Leben in Gefahr ist.“ (S. 253. V 7)

Bolivien

Die Gewalt nimmt mit dem Anstieg der Drogenkriminalität zu, vor allem in Kokain-Anbauregionen (bei El Chapare). Todesopfer sind meist Demonstranten, die willkürlichen Schüssen oder Schlägen ausgesetzt sind, sowie Kinder, die durch exzessiven Tränengaseinsatz in geschlossenen Räumen ersticken. Extralegale Exekutionen und Folter sind eher selten. Fälle von „Verschwindenlassen“ werden nicht berichtet (S. 56).

Die Antisoziale Haltung der Polizei zeigt sich durch Fälle, wie:

„Jugendlicher aus der sozial schwachen Schicht […] sah sich in eine Schlägerei verwickelt […]. Zwei Beamte brachten ihn in ein Wäldchen […], sie prügelten ihn lange und brutal durch, was zu Knochenbrüchen und zahlreichen Blutergüssen führte, zogen ihn aus, überschütteten ihn mit Benzin und versuchten ihn lebendig anzuzünden.“

Der Polizeichef äußerte sich dazu wie folgt, „dass es eine alltägliche Praxis sei, Betrunkene und Antisoziale an abgelegene Plätze zu bringen, um auf diese Weise eine ‚soziale Säuberung‘ zu erreichen […]“. Er stritt den Einsatz physischer Gewalt ab.

Der Polizeichef des Departments […] erklärte, dass der Versuch einen Menschen lebendig zu verbrennen […] eine ‚vereinzelte kleine Sache‘ innerhalb eines Einsatzes der Säuberung sei. […] Die Verbrennungen habe sich die Person selbst zugefügt“ (Mansilla, 1999, S. 40 ff.)

Chile

Pro Jahr sterben zwischen fünf und zwanzig Menschen (abnehmende Tendenz). Zu 80% gehen die von der Polizei verursachten Todesfälle auf Schusswaffengebrauch zurück; zu 20% auf Ersticken, Untertauchen, Schläge und anderes. Im Polizeigewahrsam und in der Haft kommt es aber zu Schlägen, Folter, Elektroschocks, Essen- und Schlafentzug. Laut der Menschenrechtsgruppe CODEPU (Comité de Defensa de los Derechos del Pueblo) gibt es keine massenhaften Willkürverhaftungen. Die Autorin sieht im Einsatz der Foltertechniken gegenüber gewöhnlichen ebenso wie politischen (34%) Straftätern eine Nachwirkung des Militärregimes (S. 61).

Übergriffe auf politische Häftlinge:

„(…) im Zuge der Verlegung von 56 Häftlingen (…)" wurden „politische Gefangene von Wärtern misshandelt. Dem Vernehmen nach wurden die Insassen zu Boden gestoßen und anschließend mit Faustschlägen traktiert, mit Gewehrkolben geschlagen sowie mit Wasser begossen und mit Tränengas besprüht. Mindestens zwei Gefangene sollen mit Elektroschlagstöcken gefoltert, einige andere mit dem Kopf unter Wasser getaucht worden sein" (Amnesty International 2000, US Department of State 2000).

Deutschland

In deutschen Kriminalstatistiken werden seit 1976 Daten zum Schusswaffengebrauch geführt, welche die Autorin als Anhaltspunkt für Gewalthandlungen annimmt (S. 37).

Meist werden in Deutschland Schüsse aus Notwehr abgefeuert. Von 1976 bis 1997 starben circa zwölf Menschen durch Schüsse der Polizisten (S.339). In verschiedenen Studien zu europäischen, nord- und südamerikanischen Ländern (vgl. Busch, u.a. 1985) zeigt sich, dass die deutsche Polizei „[…] nicht schießwütig ist“ (S. 42 ff.).


Diskussion

  • Opfer: intellektuelle Oppositionelle, untere Schichten (ohne Besitz von Mitteln zur Informierung der Öffentlichkeit über ihre Verhältnisse (vgl. S. 63))
  • Venezuela/Bolivien: Drohungen gegen Menschenrechtsorganisationen; willkürliche Verhaftungen; Gewalt gegen Unterprivilegierte, Menschen mit geringem Machtpotential, Studenten und Rekruten (vgl. S. 53; Amnesty International, 2000)
  • Venezuela

-> keine Verbesserung der Situation in den letzten Jahren

-> durch „Schwäche" des Staates keine Kontrolle der Polizei möglich

-> Berufsauffassung/Autonomie der Polizisten stehen Staat entgegen (keine mündliche Rechtstreue (vgl. S. 386)


  • Bolivien: mehr Tötungen als körperliche Gewalt und Folter (vgl. S. 340)
  • Chile: mehr körperliche Gewalt und Folter als Tötungen, aber Entspannung der Lage (vgl. S. 340, 58; Amnesty International, 2000)

-> Vergleich Bolivien/Chile: ähnliche Gewaltniveaus müssen nicht den Einstellungen der Polizisten entsprechen (vgl. S. 371).

  • Das staatliche Gewaltmonopol existiert in der BRD und Chile, nicht jedoch in Venezuela und Bolivien (vgl. S. 376).

Literatur

  • Ambos, K., Gómez Colomer, J.-L., & Vogler, R. (. (2003). La Policía en los Estados de Derecho Latinoamericanos. Medellín: Ediciones Jurídicas Gusta vo Ibánez C. Ltd.
  • Amnesty International. (2000). Jahresbericht Amnesty International. Frankfurt/Main: Fischer.
  • Busch, H. u. (1990). Die Polizei in der Bundesrepublik. Frankfurt/Main: Campus.
  • Malarino, E. (2003). "Un resumen comparativo". In K. Ambos, J.-L. Gómez Colomer, & R. (. Vogler, La Policía en los Estados de Derecho Latinoamericanos (S. 577-627). Medellín: Ediciones Jurídicas Gusta vo Ibánez C. Ltd.
  • Mansilla, H. C. (1999). La Policía boliviana entre los códigos informales y los intentos de modernización.
  • Schmid, C. (2007). Korruption, Gewalt und die Welt der Polizisten Deutschland, Chile, Bolivien und Venezuela im Vergleich. Frankfurt am Main: Vervuert.

Weblinks