Kontrollierter Heroinkonsum: Unterschied zwischen den Versionen

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Nicht behandelt werden deshalb Fragen nach den Risiken des Heroinkonsums bei Minderjährigen sowie bei Erwachsenen mit psychischen oder physischen Vorerkrankungen.  
Nicht behandelt werden deshalb Fragen nach den Risiken des Heroinkonsums bei Minderjährigen sowie bei Erwachsenen mit psychischen oder physischen Vorerkrankungen.  
Ad 1:
===Ad 1===
Die wichtigste wissenschaftliche Quelle zu der Frage, ob Heroingebrauch auch in bürgerlichen Gesellschaftskreisen eine nicht nur marginale Erscheinung darstellt, ist das Forschungsprojekt der Universität Frankfurt über den Umgang mit illegalen Drogen im 'bürgerlichen' Milieu (vgl. Kemmesies 2000; Kemmesies 2004).  
Die wichtigste wissenschaftliche Quelle zu der Frage, ob Heroingebrauch auch in bürgerlichen Gesellschaftskreisen eine nicht nur marginale Erscheinung darstellt, ist das Forschungsprojekt der Universität Frankfurt über den Umgang mit illegalen Drogen im 'bürgerlichen' Milieu (vgl. Kemmesies 2000; Kemmesies 2004).  
Demnach ist der gegenwärtige Stand des Wissens, dass  
Demnach ist der gegenwärtige Stand des Wissens, dass  
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• die Konsumenten sich in diesem Milieu überwiegend als gesund empfanden und mit ihrer aktuellen Situation zufrieden sind, den Konsum aber trotzdem nicht aufgeben, weil sie ihn als Mittel der Alltagskompensation und der Verbesserung ihrer allgemeinen psychischen Verfassung ansehen.
• die Konsumenten sich in diesem Milieu überwiegend als gesund empfanden und mit ihrer aktuellen Situation zufrieden sind, den Konsum aber trotzdem nicht aufgeben, weil sie ihn als Mittel der Alltagskompensation und der Verbesserung ihrer allgemeinen psychischen Verfassung ansehen.
Ad 2:
===Ad 2===
Die Ergebnisse der Forschung  (siehe Ad 1) lassen keinen begründeten Zweifel daran, dass es möglich ist, bei bewusstem und kontrolliertem Konsum von Heroin ein in der Gesellschaft verankertes Leben zu führen.
Die Ergebnisse der Forschung  (siehe Ad 1) lassen keinen begründeten Zweifel daran, dass es möglich ist, bei bewusstem und kontrolliertem Konsum von Heroin ein in der Gesellschaft verankertes Leben zu führen.
Erstmals wurde man auf dieses Phänomen des kontrollierten Konsums von Heroin in den 1970er Jahren aufmerksam (Zinberg/Jacobson 1976). Seither wurde es wiederholt bestätigt (Harding u.a. 1980, Harding 1981, Zinberg 1984, Haves/Schneider 1992, Legnaro/Schmieder 2005, Schneider 1988, 1993, Strieder 2001).   
Erstmals wurde man auf dieses Phänomen des kontrollierten Konsums von Heroin in den 1970er Jahren aufmerksam (Zinberg/Jacobson 1976). Seither wurde es wiederholt bestätigt (Harding u.a. 1980, Harding 1981, Zinberg 1984, Haves/Schneider 1992, Legnaro/Schmieder 2005, Schneider 1988, 1993, Strieder 2001).   
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• zwar zwischenzeitlich eine Sucht zu entwickeln, dann aber wieder zu einem kontrollierten Konsum ohne körperliche Abhängigkeit zurückzufinden (vom süchtigen zum kontrollierten Konsum im engeren Sinne).   
• zwar zwischenzeitlich eine Sucht zu entwickeln, dann aber wieder zu einem kontrollierten Konsum ohne körperliche Abhängigkeit zurückzufinden (vom süchtigen zum kontrollierten Konsum im engeren Sinne).   


Ad 3:
===Ad 3===
Bei sozial integriertem Konsum  
Bei sozial integriertem Konsum  
(a) behält das Heroin sein körperliches Abhängigkeitspotential   
(a) behält das Heroin sein körperliches Abhängigkeitspotential   
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Ad 4:
===Ad 4===


Die wesentlichen körperlichen Gefahren des Heroins bestehen in
Die wesentlichen körperlichen Gefahren des Heroins bestehen in
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Demgegenüber ist der anomische Konsum durch eine weitgehend regellose Einnahme zu beliebigen Zeiten in unkontrollierten Mengen und unter Vernachlässigung aller anderen Ziele und Verpflichtungen im sozialen Leben gekennzeichnet. Er kann Folge von Lebenskrisen oder von psychischen Krankheiten sein - ebenso wie er derartige problematische Lagen seinerseits verstärken kann. Selbstverständlich geht der anomische Konsum mit höherer sozialer Sichtbarkeit und einem erhöhten Risiko einher, von Instanzen der formellen Sozialkontrolle bemerkt und ggf. negativ sanktioniert zu werden - mit allen potentiell positiven wie auch potentiell negativen Folgen für das Leben der Betroffenen (z.B. Überdosierung nach Entlassung aus U-Haft, Strafhaft, abstinenzorientierter Langzeit-Drogentherapie).  
Demgegenüber ist der anomische Konsum durch eine weitgehend regellose Einnahme zu beliebigen Zeiten in unkontrollierten Mengen und unter Vernachlässigung aller anderen Ziele und Verpflichtungen im sozialen Leben gekennzeichnet. Er kann Folge von Lebenskrisen oder von psychischen Krankheiten sein - ebenso wie er derartige problematische Lagen seinerseits verstärken kann. Selbstverständlich geht der anomische Konsum mit höherer sozialer Sichtbarkeit und einem erhöhten Risiko einher, von Instanzen der formellen Sozialkontrolle bemerkt und ggf. negativ sanktioniert zu werden - mit allen potentiell positiven wie auch potentiell negativen Folgen für das Leben der Betroffenen (z.B. Überdosierung nach Entlassung aus U-Haft, Strafhaft, abstinenzorientierter Langzeit-Drogentherapie).  


===Ad 5===
 
Ad 5:


Die Ansicht, dass unbekannte Streckmittel die eigentliche Gefahrenquelle des Schwarzmarkt-Heroin darstellten, trifft eher nicht zu.
Die Ansicht, dass unbekannte Streckmittel die eigentliche Gefahrenquelle des Schwarzmarkt-Heroin darstellten, trifft eher nicht zu.
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Ad 6:
===Ad 6===
Die dem Verfasser bekannte Aktenlage lässt im konkreten Fall keine Konstellation erkennen, bei der von einer Gesundheitsschädigung durch den Konsum und/oder die Abgabe von Heroin im Bekanntenkreis der Angeklagten auszugehen wäre:  
Die dem Verfasser bekannte Aktenlage lässt im konkreten Fall keine Konstellation erkennen, bei der von einer Gesundheitsschädigung durch den Konsum und/oder die Abgabe von Heroin im Bekanntenkreis der Angeklagten auszugehen wäre:  
• das bei der Angeklagten gefundene Heroin wies einen üblichen Wirkstoffgehalt und die toxikologisch unschädlichen Streckmittel Koffein und Paracetamol auf. Risiken aus einem ungewöhnlich hohen Wirkstoffgehalt (= unabsichtliche Überdosierung) oder durch toxische Beimengungen können nach Aktenlage ausgeschlossen werden (siehe Ad 5)
• das bei der Angeklagten gefundene Heroin wies einen üblichen Wirkstoffgehalt und die toxikologisch unschädlichen Streckmittel Koffein und Paracetamol auf. Risiken aus einem ungewöhnlich hohen Wirkstoffgehalt (= unabsichtliche Überdosierung) oder durch toxische Beimengungen können nach Aktenlage ausgeschlossen werden (siehe Ad 5)
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Literatur
=== Social supply and minimally commercial supply ===
 
Wissenschaftliche Studien der letzten Zeit zeigen, dass ein wesentlicher Teil des Endverbrauchermarkts für illegale Drogen nicht den gewöhnlichen Prinzipien von Profiterzielung bzw. -maximierung folgt. Das betrifft auch einen nicht unerheblichen Teil der entgeltlichen Weitergabe, die als social supply, bzw. als minimally commercial supply mit geringen Risikoaufschlägen, bzw. geringen Profiten zwecks Eigenbedarfsdeckung stattfindet:
(104) „Diese Praktiken sind offenbar wesentlich durch die Bedingungen der Drogenprohibition bedingt: Angesichts der grundsätzlich eingeschränkten Verfügbarkeit der Substanzen existiert eine hohe Bereitschaft von Konsumierenden, sich gegenseitig ‚auszuhelfen‘, sei es durch Gratiskonsum, Schenkungen, ‚Sammelbestellungen‘ oder Kleinsthandel.
Rechtlich gesehen handelt es sich bei derartigen Aktivitäten, sofern dabei Geld gegen Drogen ausgetauscht wird, ausnahmslos um  Handel mit Btm, der ohne weiteres
(105)  als strafverschärfender, gewerbsmäßiger Handel‘ (BtMG, 2013) ausgelegt werden kann, da die Definitionen hierfür recht weit gegriffen sind (...). Insbesondere die ‚geringe Menge‘, bei der Verfahren folgenlos eingestellt werden können, wird dabei bereits bei ‚Sammelbestellungen‘ für nur wenige Personen leicht überschritten. ... Stellt man das Mindeststrafmaß für ‚nicht geringe Mengen‘ (das z.B. auch bei einem Social Supplier, der mehrere regelmäßige … versorgen würde, relativ leicht erreicht würde) beispielsweise dem für gefährliche Körperverletzung gegenüber (sechs Monate, in minder schweren Fällen drei Monate …) so entsteht angesichts der oben beschriebenen Modalitäten der Handelsaktivität der Eindruck einer gewissen Unverhältnismäßigkeit. Es ist schlichtweg kein Grund dafür denkbar, weshalb ein niemanden schädigendes Drogendelikt, durch das sich auch niemand nennenswert finanziell bereichert, härter bestraft werden sollte als ein schweres Gewaltdelikt. Die Kriminalisierung insbesondere junger Drogenkonsumierender sendet ohnehin bereits bedenkliche Signale aus, die nicht gerade das Vertrauen in den Rechtsstaat fördern, insbesondere angesichts der Willkürlichkeit, in der das BtMG von unterschiedlichen Richter/inne/n in unterschiedlichen Regionen angewendet wird (und praktisch nach dem Zufallsprinzip schwere Beschädigungen von Lebensläufen ansonsten gesetzeskonformer junger Menschen zur Folge hat). Das gilt in verschärftem Maße auch für das Ausmaß der Bestrafung von nicht-profitorientiertem Drogenhandel, das daher dringend zu überdenken ist.“
 
 
*Aus: Werse, B. (2014): Wie kriminell sind 'Social Supplier' - Ergebnisse zum Drogenkleinsthandel aus zwei empirischen Studien. Rausch? Wiener Zeitschrift für Suchttherapie, 3 (2): 98-106 (104-105).
 
*Siehe auch: Coomber, R. & Moyle, L. (2014) Beyond drug dealing: Developing and extending the concept of ‚social supply‘ of illicit drugs to ‚minimally commercial supply‘. Drugs: Education, Prevention, and Policy 21 (2) 157-164.
 
==Literatur==
Brecher, EM and the Editors of Consumer Reports Magazine  (1972) The Consumers Union Report on Licit and Illicit Drugs, Chapter 5: Some Eminent Narcotic Addicts. Boston: Little, Brown & Co. (101-114)
Brecher, EM and the Editors of Consumer Reports Magazine  (1972) The Consumers Union Report on Licit and Illicit Drugs, Chapter 5: Some Eminent Narcotic Addicts. Boston: Little, Brown & Co. (101-114)
Zhou YL (2012) Principles of pain management. In: Daroff RB, Fenichel GM, Jankovic J, Mazziotta JC, eds. Bradley’s Neurology in Clinical Practice. 6th ed. Philadelphia, Pa: Elsevier Saunders
Zhou YL (2012) Principles of pain management. In: Daroff RB, Fenichel GM, Jankovic J, Mazziotta JC, eds. Bradley’s Neurology in Clinical Practice. 6th ed. Philadelphia, Pa: Elsevier Saunders
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Zinberg, NE (1984) Drug, set, setting. The basis for controlled intoxocant use. London
Zinberg, NE (1984) Drug, set, setting. The basis for controlled intoxocant use. London
Zinberg, NE, Jacobson, RC (1976) The natural History of „Chipping“. In: A J Psychiatry Vol. 133, 37-40.
Zinberg, NE, Jacobson, RC (1976) The natural History of „Chipping“. In: A J Psychiatry Vol. 133, 37-40.
 
[[Kategorie:Drogen und Rauschmittel]]
 
[[Kategorie:Drogenpolitik (Deutschland)]]
 
[[Kategorie:Heroin]]
 
[[Kategorie:Kontrollierter Konsum]]
 
Hamburg,  29. Januar 2015                                                                              Sebastian Scheerer