Kontrollierter Heroinkonsum: Unterschied zwischen den Versionen

(Die Seite wurde neu angelegt: „== Gutachterliche Stellungnahme zum kontrollierten Heroinkonsum == Von Sebastian Scheerer: In der Strafsache gegen Ch. Z. vor dem Amtsgericht Hamburg-Altona (…“)
 
Zeile 15: Zeile 15:
Nicht behandelt werden deshalb Fragen nach den Risiken des Heroinkonsums bei Minderjährigen sowie bei Erwachsenen mit psychischen oder physischen Vorerkrankungen.  
Nicht behandelt werden deshalb Fragen nach den Risiken des Heroinkonsums bei Minderjährigen sowie bei Erwachsenen mit psychischen oder physischen Vorerkrankungen.  
Ad 1:
===Ad 1===
Die wichtigste wissenschaftliche Quelle zu der Frage, ob Heroingebrauch auch in bürgerlichen Gesellschaftskreisen eine nicht nur marginale Erscheinung darstellt, ist das Forschungsprojekt der Universität Frankfurt über den Umgang mit illegalen Drogen im 'bürgerlichen' Milieu (vgl. Kemmesies 2000; Kemmesies 2004).  
Die wichtigste wissenschaftliche Quelle zu der Frage, ob Heroingebrauch auch in bürgerlichen Gesellschaftskreisen eine nicht nur marginale Erscheinung darstellt, ist das Forschungsprojekt der Universität Frankfurt über den Umgang mit illegalen Drogen im 'bürgerlichen' Milieu (vgl. Kemmesies 2000; Kemmesies 2004).  
Demnach ist der gegenwärtige Stand des Wissens, dass  
Demnach ist der gegenwärtige Stand des Wissens, dass  
Zeile 26: Zeile 26:
• die Konsumenten sich in diesem Milieu überwiegend als gesund empfanden und mit ihrer aktuellen Situation zufrieden sind, den Konsum aber trotzdem nicht aufgeben, weil sie ihn als Mittel der Alltagskompensation und der Verbesserung ihrer allgemeinen psychischen Verfassung ansehen.
• die Konsumenten sich in diesem Milieu überwiegend als gesund empfanden und mit ihrer aktuellen Situation zufrieden sind, den Konsum aber trotzdem nicht aufgeben, weil sie ihn als Mittel der Alltagskompensation und der Verbesserung ihrer allgemeinen psychischen Verfassung ansehen.
Ad 2:
===Ad 2===
Die Ergebnisse der Forschung  (siehe Ad 1) lassen keinen begründeten Zweifel daran, dass es möglich ist, bei bewusstem und kontrolliertem Konsum von Heroin ein in der Gesellschaft verankertes Leben zu führen.
Die Ergebnisse der Forschung  (siehe Ad 1) lassen keinen begründeten Zweifel daran, dass es möglich ist, bei bewusstem und kontrolliertem Konsum von Heroin ein in der Gesellschaft verankertes Leben zu führen.
Erstmals wurde man auf dieses Phänomen des kontrollierten Konsums von Heroin in den 1970er Jahren aufmerksam (Zinberg/Jacobson 1976). Seither wurde es wiederholt bestätigt (Harding u.a. 1980, Harding 1981, Zinberg 1984, Haves/Schneider 1992, Legnaro/Schmieder 2005, Schneider 1988, 1993, Strieder 2001).   
Erstmals wurde man auf dieses Phänomen des kontrollierten Konsums von Heroin in den 1970er Jahren aufmerksam (Zinberg/Jacobson 1976). Seither wurde es wiederholt bestätigt (Harding u.a. 1980, Harding 1981, Zinberg 1984, Haves/Schneider 1992, Legnaro/Schmieder 2005, Schneider 1988, 1993, Strieder 2001).   
Zeile 34: Zeile 34:
• zwar zwischenzeitlich eine Sucht zu entwickeln, dann aber wieder zu einem kontrollierten Konsum ohne körperliche Abhängigkeit zurückzufinden (vom süchtigen zum kontrollierten Konsum im engeren Sinne).   
• zwar zwischenzeitlich eine Sucht zu entwickeln, dann aber wieder zu einem kontrollierten Konsum ohne körperliche Abhängigkeit zurückzufinden (vom süchtigen zum kontrollierten Konsum im engeren Sinne).   


Ad 3:
===Ad 3===
Bei sozial integriertem Konsum  
Bei sozial integriertem Konsum  
(a) behält das Heroin sein körperliches Abhängigkeitspotential   
(a) behält das Heroin sein körperliches Abhängigkeitspotential   
Zeile 55: Zeile 55:


Ad 4:
===Ad 4===


Die wesentlichen körperlichen Gefahren des Heroins bestehen in
Die wesentlichen körperlichen Gefahren des Heroins bestehen in
Zeile 68: Zeile 68:
Demgegenüber ist der anomische Konsum durch eine weitgehend regellose Einnahme zu beliebigen Zeiten in unkontrollierten Mengen und unter Vernachlässigung aller anderen Ziele und Verpflichtungen im sozialen Leben gekennzeichnet. Er kann Folge von Lebenskrisen oder von psychischen Krankheiten sein - ebenso wie er derartige problematische Lagen seinerseits verstärken kann. Selbstverständlich geht der anomische Konsum mit höherer sozialer Sichtbarkeit und einem erhöhten Risiko einher, von Instanzen der formellen Sozialkontrolle bemerkt und ggf. negativ sanktioniert zu werden - mit allen potentiell positiven wie auch potentiell negativen Folgen für das Leben der Betroffenen (z.B. Überdosierung nach Entlassung aus U-Haft, Strafhaft, abstinenzorientierter Langzeit-Drogentherapie).  
Demgegenüber ist der anomische Konsum durch eine weitgehend regellose Einnahme zu beliebigen Zeiten in unkontrollierten Mengen und unter Vernachlässigung aller anderen Ziele und Verpflichtungen im sozialen Leben gekennzeichnet. Er kann Folge von Lebenskrisen oder von psychischen Krankheiten sein - ebenso wie er derartige problematische Lagen seinerseits verstärken kann. Selbstverständlich geht der anomische Konsum mit höherer sozialer Sichtbarkeit und einem erhöhten Risiko einher, von Instanzen der formellen Sozialkontrolle bemerkt und ggf. negativ sanktioniert zu werden - mit allen potentiell positiven wie auch potentiell negativen Folgen für das Leben der Betroffenen (z.B. Überdosierung nach Entlassung aus U-Haft, Strafhaft, abstinenzorientierter Langzeit-Drogentherapie).  


===Ad 5===
 
Ad 5:


Die Ansicht, dass unbekannte Streckmittel die eigentliche Gefahrenquelle des Schwarzmarkt-Heroin darstellten, trifft eher nicht zu.
Die Ansicht, dass unbekannte Streckmittel die eigentliche Gefahrenquelle des Schwarzmarkt-Heroin darstellten, trifft eher nicht zu.
Zeile 85: Zeile 83:




Ad 6:
===Ad 6===
Die dem Verfasser bekannte Aktenlage lässt im konkreten Fall keine Konstellation erkennen, bei der von einer Gesundheitsschädigung durch den Konsum und/oder die Abgabe von Heroin im Bekanntenkreis der Angeklagten auszugehen wäre:  
Die dem Verfasser bekannte Aktenlage lässt im konkreten Fall keine Konstellation erkennen, bei der von einer Gesundheitsschädigung durch den Konsum und/oder die Abgabe von Heroin im Bekanntenkreis der Angeklagten auszugehen wäre:  
• das bei der Angeklagten gefundene Heroin wies einen üblichen Wirkstoffgehalt und die toxikologisch unschädlichen Streckmittel Koffein und Paracetamol auf. Risiken aus einem ungewöhnlich hohen Wirkstoffgehalt (= unabsichtliche Überdosierung) oder durch toxische Beimengungen können nach Aktenlage ausgeschlossen werden (siehe Ad 5)
• das bei der Angeklagten gefundene Heroin wies einen üblichen Wirkstoffgehalt und die toxikologisch unschädlichen Streckmittel Koffein und Paracetamol auf. Risiken aus einem ungewöhnlich hohen Wirkstoffgehalt (= unabsichtliche Überdosierung) oder durch toxische Beimengungen können nach Aktenlage ausgeschlossen werden (siehe Ad 5)
Zeile 93: Zeile 91:


Literatur
==Literatur==
Brecher, EM and the Editors of Consumer Reports Magazine  (1972) The Consumers Union Report on Licit and Illicit Drugs, Chapter 5: Some Eminent Narcotic Addicts. Boston: Little, Brown & Co. (101-114)
Brecher, EM and the Editors of Consumer Reports Magazine  (1972) The Consumers Union Report on Licit and Illicit Drugs, Chapter 5: Some Eminent Narcotic Addicts. Boston: Little, Brown & Co. (101-114)
Zhou YL (2012) Principles of pain management. In: Daroff RB, Fenichel GM, Jankovic J, Mazziotta JC, eds. Bradley’s Neurology in Clinical Practice. 6th ed. Philadelphia, Pa: Elsevier Saunders
Zhou YL (2012) Principles of pain management. In: Daroff RB, Fenichel GM, Jankovic J, Mazziotta JC, eds. Bradley’s Neurology in Clinical Practice. 6th ed. Philadelphia, Pa: Elsevier Saunders
Zeile 116: Zeile 114:
Zinberg, NE (1984) Drug, set, setting. The basis for controlled intoxocant use. London
Zinberg, NE (1984) Drug, set, setting. The basis for controlled intoxocant use. London
Zinberg, NE, Jacobson, RC (1976) The natural History of „Chipping“. In: A J Psychiatry Vol. 133, 37-40.
Zinberg, NE, Jacobson, RC (1976) The natural History of „Chipping“. In: A J Psychiatry Vol. 133, 37-40.
Hamburg,  29. Januar 2015                                                                              Sebastian Scheerer
31.738

Bearbeitungen