Handout Strafverteidigertag 2018: Unterschied zwischen den Versionen

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==Sexualität, Fortpflanzung, Sterben ==
==Sexualität, Fortpflanzung, Sterben ==
===Inzest (§ 173 StGB) ===
§ 173 stellt den vaginalen Beischlaf zwischen in gerader Linie Verwandten sowie zwischen Voll- und Halbgeschwistern unter Strafe. Jährlich kommt es zu acht bis zwölf Verurteilungen. Die Strafbarkeit von inzestuellen Handlungen ist gesellschaftlich umstritten, wurde aber sowohl vom BVerfG (2008) als auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (2012) gutgeheißen. '''Kritik''': Unverhältnismäßigkeit, Fehlen widerspruchsfreier Begründung (Sondervotum Hassemer). Höherrangigkeit des Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung gegenüber genetisch bedingten Risiken für den aus Inzest möglicherweise resultierenden Nachwuchs. Sozialpädagogik und Familien-,bzw. Vormundschaftsgerichte sind besser und hinreichend. Forderung nach Abschaffung: Grüne Jugend (2008); Grüne und Piratenpartei (jeweils 2012). Beischlaf von beispielsweise Elternteilen und minderjährigen Kindern bliebe davon unberührt (§ 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Jerzy  Montag (Grüne): die strafrechtliche Verfolgung vom Beischlaf unter Verwandten und Geschwistern“ sei ein „Anachronismus“ und moralische Tabus dürften nicht mit dem Strafrecht durchgesetzt werden. 2014 empfahl der Deutsche Ethikrat mehrheitlich, den Geschwisterinzest zu entkriminalisieren und § 173 StGB abzuschaffen. Das Grundrecht der erwachsenen Geschwister auf sexuelle Selbstbestimmung sei stärker zu gewichten als das abstrakte Schutzgut Familie. '''Antikritik''': Mit Beschluss vom 26. Februar 2008 entschied das Bundesverfassungsgericht, § 173 StGB sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Schutz von Ehe und Familie und Schutz der sexuellen Selbstbestimmung gegenüber spezifischen, durch die Nähe in der Familie bedingte oder in der Verwandtschaft wurzelnde Abhängigkeiten, rechtfertige ebenso wie der Schutz vor Erbschäden die Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit. Die CDU/CSU befürchtete "ein falsches Signal"; eine Entkriminalisierung laufe dem Schutz der unbeeinträchtigten Entwicklung von Kindern in ihren Familien zuwider. In fast allen Fällen gehe Inzest mit der Abhängigkeit eines Partners und äußerst schwierigen Familienverhältnissen einher. Justizminister Maas lehnte im September 2014 sowohl eine Abschaffung als auch eine Reform des 173 StGB ab.
Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Winfried Hassemer gab dabei eine abweichende Meinung ab. § 173 StGB verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es liege kein Rechtsgut vor, dessen Verletzung im Inzestfall einen Strafgrund darstellen würde. Im Fall von volljährigen, einvernehmlich handelnden Geschwistern sei nicht klar, wessen Rechte durch den Geschlechtsverkehr eingeschränkt werden sollten. Es handele sich vielmehr um eine opferlose Straftat. Eine Hauptstütze des Inzestverbots seien sogenannte „eugenische Gesichtspunkte“, also die Verhinderung von Erbkrankheiten. Hierbei sei jedoch zum einen nicht klar, wieso das Gesetz auch bei erfolgender Verhütung und sogar bei vorheriger Sterilisation Anwendung findet. Zum anderen verbiete es sich schon von Verfassungs wegen, den Schutz der Gesundheit potentieller Nachkommen zur Grundlage strafgesetzlicher Eingriffe zu machen. Das Strafrecht kenne aus guten Gründen eine Strafbarkeit des Beischlafs selbst dort nicht, wo die Wahrscheinlichkeit behinderten Nachwuchses höher ist und die erwartbaren Behinderungen massiver sind als beim Inzest. Das Inzestverbot diene nicht dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, darauf habe sich noch nicht einmal der Gesetzgeber berufen. § 173 StGB sei auch nicht geeignet, dem Schutz von Ehe und Familie zu dienen: Zu diesem Zweck sei die Vorschrift einerseits zu eng, weil sie nur den Beischlaf, nicht aber andere sexuelle Handlungen unter Strafe stellt und nicht-leibliche Geschwister nicht mit einbezieht, andererseits zu weit, weil sie Verhaltensweisen erfasse, die sich auf das Familienleben nicht (mehr) schädlich auswirken können.
===Homosexualität (§ 175 StGB)===
===Homosexualität (§ 175 StGB)===
§ 175 StGB existierte von 1872 (Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches) bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Bis 1969 bestrafte er auch die „widernatürliche Unzucht mit Tieren“ (ab 1935 nach § 175b ausgelagert). Insgesamt wurden etwa 140.000 Männer nach den verschiedenen Fassungen des § 175 verurteilt. 1935 wurde die Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis angehoben. Außerdem wurde der Tatbestand von beischlafähnlichen auf sämtliche „unzüchtigen“ Handlungen ausgeweitet. Der neu eingefügte § 175a bestimmte für „erschwerte Fälle“ zwischen einem und zehn Jahren Zuchthaus.  
§ 175 StGB existierte von 1872 (Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches) bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Bis 1969 bestrafte er auch die „widernatürliche Unzucht mit Tieren“ (ab 1935 nach § 175b ausgelagert). Insgesamt wurden etwa 140.000 Männer nach den verschiedenen Fassungen des § 175 verurteilt. 1935 wurde die Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis angehoben. Außerdem wurde der Tatbestand von beischlafähnlichen auf sämtliche „unzüchtigen“ Handlungen ausgeweitet. Der neu eingefügte § 175a bestimmte für „erschwerte Fälle“ zwischen einem und zehn Jahren Zuchthaus.  
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