Handout Strafverteidigertag 2018: Unterschied zwischen den Versionen

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===Schwarzfahren (§ 265a StGB)===
===Schwarzfahren (§ 265a StGB)===
'''Kritik''': (1) Systemwidrigkeit: Strafrecht darf nicht als Büttel von Partikularinteressen missbraucht werden. Der (grüne) Justizminister von Thüringen, Dieter Lausinger, hält es für "ein Unding", dass Strafjustiz und Strafvollzug "den Preis für die Rationalisierung des öffentlichen Personenverkehrs zahlen müssen und zivilrechtliche Ansprüche der Verkehrsunternehmen mit den Mitteln des Strafrechts gesichert werden sollen. Hier überschreitet das Strafrecht seine Aufgabe, ''ultima ratio'' staatlichen Eingreifens zu sein!" (DRiZ). (2) Unwirtschaftlich: "Mehr als jede zehnte Verurteilung in NRW betrifft Schwarzfahrer. In Zeiten, indenen die Justiz ohne hin überlastet ist und das Personal fehlt, um echte Kriminelle zu verfolgen, sind das immense Ressourcen" (NRW-Justizminister Biesenbach, CDU, 2017). In Berlin sind statistisch 20 Richter und Staatsanwälte ganzjährig nur mit der Verfolgung von Schwarzfahrern beschäftigt. Hinzu kommen die Kosten für die Vollstreckung: Mehr als 1200 Gefangene waren im Herbst allein in NRW wegen einer [[Ersatzfreiheitsstrafe]] in Haft - der Großteil von ihnen wegen Schwarzfahrens. Kosten pro Tag über 100 € pro Person stehen außer Verhältnis zu dem angerichteten Schaden. Bei 30 oder 60 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe investiert man mindestens 3.000 bis 6.000 Euro, um diesen Menschen einzusperren. EFSler verursachen zudem rund ein Drittel des Gesamtaufwands für Aufnahme- und Entlassungsprozeduren in den Gefängnissen. All das, weil sich die Verkehrunternehmen die Kosten für Zugangskontrollen sparen wollen. Die Verkehrsbetriebe haben jederzeit die Möglichkeit, ihre Zugangskontrollen zu verbessern. Dafür könne man ihm viele Monate ein Sozialticket zahlen. Oder man könnte das für die vielen Tausend Hafttage eingesparten Gelder den öffentlichen Verkehrsbetrieben zukommen lassen (criminal justice replacement). (3) Unverhältnismäßig: warum ist das Überfahren einer roten Ampel ledigliche eine OWi, das 'Erschleichen von Leistungen' aber Straftat? Wer mit dem Auto bei Rot über eine Ampel fährt, bekommt von der zuständigen Behörde ein Bußgeld auferlegt. Bei Straftaten wird hingegen die ganze Maschinerie des Strafprozesses angeworfen. Resultat:
'''Kritik''': (1) Systemwidrigkeit: Strafrecht darf nicht als Büttel von Partikularinteressen missbraucht werden. Der (grüne) Justizminister von Thüringen, Dieter Lausinger, hält es für "ein Unding", dass Strafjustiz und Strafvollzug "den Preis für die Rationalisierung des öffentlichen Personenverkehrs zahlen müssen und zivilrechtliche Ansprüche der Verkehrsunternehmen mit den Mitteln des Strafrechts gesichert werden sollen. Hier überschreitet das Strafrecht seine Aufgabe, ''ultima ratio'' staatlichen Eingreifens zu sein!" (DRiZ). (2) Unwirtschaftlich: "Mehr als jede zehnte Verurteilung in NRW betrifft Schwarzfahrer. In Zeiten, indenen die Justiz ohne hin überlastet ist und das Personal fehlt, um echte Kriminelle zu verfolgen, sind das immense Ressourcen" (NRW-Justizminister Biesenbach, CDU, 2017). In Berlin sind statistisch 20 Richter und Staatsanwälte ganzjährig nur mit der Verfolgung von Schwarzfahrern beschäftigt. Hinzu kommen die Kosten für die Vollstreckung: Mehr als 1200 Gefangene waren im Herbst allein in NRW wegen einer [[Ersatzfreiheitsstrafe]] in Haft - der Großteil von ihnen wegen Schwarzfahrens. Kosten pro Tag über 100 € pro Person stehen außer Verhältnis zu dem angerichteten Schaden. Bei 30 oder 60 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe investiert man mindestens 3.000 bis 6.000 Euro, um diesen Menschen einzusperren. EFSler verursachen zudem rund ein Drittel des Gesamtaufwands für Aufnahme- und Entlassungsprozeduren in den Gefängnissen. All das, weil sich die Verkehrunternehmen die Kosten für Zugangskontrollen sparen wollen. Die Verkehrsbetriebe haben jederzeit die Möglichkeit, ihre Zugangskontrollen zu verbessern. Dafür könne man ihm viele Monate ein Sozialticket zahlen. Oder man könnte das für die vielen Tausend Hafttage eingesparten Gelder den öffentlichen Verkehrsbetrieben zukommen lassen (criminal justice replacement). (3) Unverhältnismäßig: warum ist das Überfahren einer roten Ampel ledigliche eine OWi, das 'Erschleichen von Leistungen' aber Straftat? Wer mit dem Auto bei Rot über eine Ampel fährt, bekommt von der zuständigen Behörde ein Bußgeld auferlegt. Bei Straftaten wird hingegen die ganze Maschinerie des Strafprozesses angeworfen. (4) Die vielen prozessualen Milderungsmöglichkeiten genügen nicht. Antragsdelikt; Strafantrag wird von Verkehrsbetrieben nur bei Wiederholungstätern gestellt. Das sind aber allein in HH pro Jahr zwischen 10.000 und 18.000. Die StA belässt es beim ersten Verfahren idR bei einer Verwarnung. Dann kommt die Einstellung gegen Auflage, dann eine Geldstrafe von vielleicht 20 Tagessätzen, beim nächsten Mal 40. Hat jemand kein Geld, kann er weder die Strafe bezahlen noch eine Fahrkarte kaufen. Im Hartz-IV-Regelsatz sind 18,41 Euro für Fahrkarten vorgesehen. Eine Monatskarte für drei Tarifzonen ohne zeitliche Beschränkung kostet einen Hilfeempfänger, der einen Zuschuss von monatlich 18,41 Euro erhält, immer noch 38,70, die er selbst aufbringen muss. Wer trotzdem auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist, landet schnell in einer Abwärtsspirale. Wird die Geldstrafe nämlich nicht bezahlt, kommt die EFS - pro Jahr in Deutschland wohl um die 10 000 mal.  Muss ein Schwarfahrer ins Gefängnis, sind am Ende nicht selten auch Arbeitsplatz und Wohnung weg. Am Ende summieren sich zu den Kosten für die Rechtsverfolgung auch noch die sozialen Folgekosten. '''Alternative''': Viele Richter (z.B. Buermeyer, Berlin) würden [https://www.kanzlei-hoenig.de/2016/ersatzlos-streichen-265a-stgb/ § 265 ersatzlos streichen]. Sanktionierung als OWi ausreichend und angemessen. Keine höhere kriminelle Energie als Falschparker.  '''Antikritik:''' Entkriminalisierung ist das falsche Signal. Schwarzfahrer richten bundesweit pro Jahr einen Schaden von 250 Mio. bei den Verkehrsbetrieben an. (In Hamburg: 20 Millionen. S-Bahn-Bußgelder: verhängt werden 4 Mio. €, bezahlt werden 2 Mio.; durch die Inhaftierung von Schwarzfahrern entstehen der Hansestadt Kosten in Höhe von geschätzten 4,64 Mio. Zahlungsunfähige Schwarzfahrer sitzen im Schnitt zwei Monate Ersatzfreiheitsstrafe ab. Ein Hafttag kostet in HH laut Justizbehörde 2017: 149 €]. BayJuMi Winfried Bausback (CSU): Wiederholungen sind keine Bagatellen. BMJ: Kein Änderungsbedarf. Entkriminalisierung von Bagatelldelikten "im Hinblick auf die '''Wertbildungsfunktion''' des Strafrechts und den Schutz fremden Vermögens nicht angezeigt".
'''Alternative''': Viele Richter (z.B. Buermeyer, Berlin) würden [https://www.kanzlei-hoenig.de/2016/ersatzlos-streichen-265a-stgb/ § 265 ersatzlos streichen]. Sanktionierung als OWi ausreichend und angemessen. Keine höhere kriminelle Energie als Falschparker.
 
 
'''Antikritik:''' Der mit dem Schwarzfahren verbundene Schaden in Form von Fahrgeldmindereinnahmen wird bundesweit mit 250 Millionen Euro beziffert. (In Hamburg: 20 Millionen. S-Bahn-Bußgelder: verhängt werden 4 Mio. €, bezahlt werden 2 Mio.; durch die Inhaftierung von Schwarzfahrern entstehen der Hansestadt Kosten in Höhe von geschätzten 4,64 Mio. Zahlungsunfähige Schwarzfahrer sitzen im Schnitt zwei Monate Ersatzfreiheitsstrafe ab. Ein Hafttag kostet in HH laut Justizbehörde 2017: 149 €]. BayJuMi Winfried Bausback (CSU): Wiederholungen sind keine Bagatellen. BMJ: Kein Änderungsbedarf. Entkriminalisierung von Bagatelldelikten "im Hinblick auf die '''Wertbildungsfunktion''' des Strafrechts und den Schutz fremden Vermögens nicht angezeigt".
 
 
Die vielen prozessualen Milderungsmöglichkeiten genügen offenbar nicht. Antragsdelikt; Strafantrag wird von Verkehrsbetrieben nur bei Wiederholungstätern gestellt. Das sind aber allein in HH pro Jahr zwischen 10.000 und 18.000. Die StA belässt es beim ersten Verfahren idR bei einer Verwarnung. Dann kommt die Einstellung gegen Auflage, dann eine Geldstrafe von vielleicht 20 Tagessätzen, beim nächsten Mal 40. Hat jemand kein Geld, kann er weder die Strafe bezahlen noch eine Fahrkarte kaufen. Im Hartz-IV-Regelsatz sind 18,41 Euro für Fahrkarten vorgesehen. Eine Monatskarte für drei Tarifzonen ohne zeitliche Beschränkung kostet einen Hilfeempfänger, der einen Zuschuss von monatlich 18,41 Euro erhält, immer noch 38,70, die er selbst aufbringen muss. Wer trotzdem auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist, landet schnell in einer Abwärtsspirale. Wird die Geldstrafe nämlich nicht bezahlt, kommt die EFS - pro Jahr in Deutschland wohl um die 10 000 mal.  Muss ein Schwarfahrer ins Gefängnis, sind am Ende nicht selten auch Arbeitsplatz und Wohnung weg. Am Ende summieren sich zu den Kosten für die Rechtsverfolgung auch noch die sozialen Folgekosten.
 
 
 
*Theorie 2: Die Befürworter einer Entkriminalisierung betrachten die Angelegenheit unter dem Gesichtspunkt materieller, bzw. instrumenteller Zweckmäßigkeit und kommen zu einem negativen Saldo: mehr Schaden als Nutzen. Die Gegner interessieren sich aber gar nicht für die Kosten und auch nicht für die soziale Abwärtsspirale durch personale Kriminalisierungen - und sie haben einen für sie einleuchtenden Grund, nämlich den offenbar exorbitant hohen ideologischen Nutzen einer expressiven Bestätigung wichtiger Werte. Der Schaden, den sie von der Entkriminalisierungs-Botschaft befürchten, ist in Geld gar nicht zu bemessen, weil er in der Untergrabung des Wertefundaments der gesamten Gesellschaft besteht. Ist das empirisch zu überprüfen? Nein. Lassen sich die Befürchtungen hieb- und stichfest widerlegen? Nein. Es stehen sich also eine kühle Kosten-Nutzen-Rationalität der Modernisierer und eine konservative Furcht vor Werte-Verlust gegenüber. Für letztere ist der Saldo auch trotz erheblicher Kriminalisierungs-Kosten immer noch positiv. Von "Gerümpel" würden sie bei diesen Paragraphen nicht sprechen wollen.
 
Die Konfliktlinie scheint zwischen konservativer Symbolischer Gesetzgebung und moderner instrumenteller Rationalität zu verlaufen. Aber so sicher ist das auch nicht. Auch fortschrittliche Kräfte sind für symbolische Gesetzgebung aufgeschlossen, wenn es ihren sozialen Status unterstreicht/demonstriert/aufwertet (atypische Moralunternehmer).


=== Ladendiebstahl (AE-GLD) ===
=== Ladendiebstahl (AE-GLD) ===
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'''Fazit''':  
'''Fazit''':  


*Theorie 1: Hohe Einstellungsquoten zeigen oft, dass Strafgesetze nicht bestimmt genug sind, vielfach auf nicht strafwürdige Bagatellen stoßen und deshalb von der Praxis notdürftig abgemildert werden. In solchen Fällen wäre es aus rechtsstaatlichen Gründen besser, eine materiellrechtliche Regelung zu finden, die den großen Graubereich entkriminalisiert und, wenn nötig, zur Ordnungswidrigkeit herabstuft.
*Hohe Einstellungsquoten zeigen oft, dass Strafgesetze nicht bestimmt genug sind, vielfach auf nicht strafwürdige Bagatellen stoßen und deshalb von der Praxis notdürftig abgemildert werden. In solchen Fällen wäre es aus rechtsstaatlichen Gründen besser, eine materiellrechtliche Regelung zu finden, die den großen Graubereich entkriminalisiert und, wenn nötig, zur Ordnungswidrigkeit herabstuft.
 
*Die Befürworter einer Entkriminalisierung betrachten die Angelegenheit unter dem Gesichtspunkt materieller, bzw. instrumenteller Zweckmäßigkeit und kommen zu einem negativen Saldo: mehr Schaden als Nutzen. Die Gegner interessieren sich aber gar nicht für die Kosten und auch nicht für die soziale Abwärtsspirale durch personale Kriminalisierungen - und sie haben einen für sie einleuchtenden Grund, nämlich den offenbar exorbitant hohen ideologischen Nutzen einer expressiven Bestätigung wichtiger Werte. Der Schaden, den sie von der Entkriminalisierungs-Botschaft befürchten, ist in Geld gar nicht zu bemessen, weil er in der Untergrabung des Wertefundaments der gesamten Gesellschaft besteht. Ist das empirisch zu überprüfen? Nein. Lassen sich die Befürchtungen hieb- und stichfest widerlegen? Nein. Es stehen sich also eine kühle Kosten-Nutzen-Rationalität der Modernisierer und eine konservative Furcht vor Werte-Verlust gegenüber. Für letztere ist der Saldo auch trotz erheblicher Kriminalisierungs-Kosten immer noch positiv.
 
Die Konfliktlinie scheint zwischen konservativer Symbolischer Gesetzgebung und moderner instrumenteller Rationalität zu verlaufen. Aber so sicher ist das auch nicht. Auch fortschrittliche Kräfte sind für symbolische Gesetzgebung aufgeschlossen, wenn es ihren sozialen Status unterstreicht/demonstriert/aufwertet (atypische Moralunternehmer).
'''Immer noch wert, umgesetzt zu werden'''
'''Immer noch wert, umgesetzt zu werden'''
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