Handout Strafverteidigertag 2018: Unterschied zwischen den Versionen

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# Strafbarkeit der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§ 89a von 2015). Klingt schon fast nach Hochverrat. In Wirklichkeit wird hier der "Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung" - so wörtlich selbst der BGH - zu einem eigenen Tatbestand aufgepimpt. Für den BGH ist trotzdem nur der "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" tangiert. '''Kritik''': feindstrafrechtlich vorverlegte Strafbarkeit. Strafbar ist schon, "wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden zu lassen" (Kreuzer), die es ihm ermöglichen, später politisch-militärische Aktionen zu unterstützen. "Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Ohne dass hier eine wirkliche Straftat vorliegt, will man Tatgeschehen künstlich behaupten, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen." '''Alternative''': ordnungsbehördliches Ausreiseverbot. '''Antikritik''': Terroristische Einzeltäter müsssen effektiv gestoppt werden.
# Strafbarkeit der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§ 89a von 2015). Klingt schon fast nach Hochverrat. In Wirklichkeit wird hier der "Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung" - so wörtlich selbst der BGH - zu einem eigenen Tatbestand aufgepimpt. Für den BGH ist trotzdem nur der "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" tangiert. '''Kritik''': feindstrafrechtlich vorverlegte Strafbarkeit. Strafbar ist schon, "wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden zu lassen" (Kreuzer), die es ihm ermöglichen, später politisch-militärische Aktionen zu unterstützen. "Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Ohne dass hier eine wirkliche Straftat vorliegt, will man Tatgeschehen künstlich behaupten, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen." '''Alternative''': ordnungsbehördliches Ausreiseverbot. '''Antikritik''': Terroristische Einzeltäter müsssen effektiv gestoppt werden.
# Kriminalisierung der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 von 2015). '''Kritik''': Sterbeglöckchen für die Selbstbestimmung am Lebensende. Unbestimmtes, moralisierendes Strafrecht, das auch ethisch wertvolle Sterbebegleitung unnötig in ein Dilemma zwischen strafbarer Suizidbeihilfe und strafbarer unterlassener Hilfeleistung stürzt - von der Förderung von Denunziationen seitens enttäuschter Angehöriger und von erniedrigenden polizeilichen Ermittlungen ganz zu schweigen. '''Alternative''': Strafrechtlich zurück auf den status quo ante oder liberalere Gesetzgebung wie in der Schweiz oder Holland und Belgien; problematischen Organisationen kann per Vereins- und Gewerberecht ein Riegel vorgeschoben werden. '''Antikritik''': "Problematisch kann es in Zukunft für die sehr wenigen Ärzte werden, die häufiger an einem ärztlich assistierten Suizid mitwirken. Sollten sie geschäftsmäßig handeln, schützt der Arztberuf sie nicht vor Strafverfolgung nach § 217 StGB. Sollte ein Arzt allerdings aufgrund seiner ärztlichen Spezialisierung als Palliativmediziner mit Suizidbeihilfewünschen zu tun haben und diesen dann aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall auch nachkommen wollen, führt auch das nicht zwingend zur Anwendung der neuen Strafvorschrift" (Tolmein/Radbruch 2017).  
# Kriminalisierung der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 von 2015). '''Kritik''': Sterbeglöckchen für die Selbstbestimmung am Lebensende. Unbestimmtes, moralisierendes Strafrecht, das auch ethisch wertvolle Sterbebegleitung unnötig in ein Dilemma zwischen strafbarer Suizidbeihilfe und strafbarer unterlassener Hilfeleistung stürzt - von der Förderung von Denunziationen seitens enttäuschter Angehöriger und von erniedrigenden polizeilichen Ermittlungen ganz zu schweigen. '''Alternative''': Strafrechtlich zurück auf den status quo ante oder liberalere Gesetzgebung wie in der Schweiz oder Holland und Belgien; problematischen Organisationen kann per Vereins- und Gewerberecht ein Riegel vorgeschoben werden. '''Antikritik''': "Problematisch kann es in Zukunft für die sehr wenigen Ärzte werden, die häufiger an einem ärztlich assistierten Suizid mitwirken. Sollten sie geschäftsmäßig handeln, schützt der Arztberuf sie nicht vor Strafverfolgung nach § 217 StGB. Sollte ein Arzt allerdings aufgrund seiner ärztlichen Spezialisierung als Palliativmediziner mit Suizidbeihilfewünschen zu tun haben und diesen dann aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall auch nachkommen wollen, führt auch das nicht zwingend zur Anwendung der neuen Strafvorschrift" (Tolmein/Radbruch 2017).  
# Gleichstellung sexueller Übergriffe mit Vergewaltigungen im neuen § 177 und Einführung des Tatbestands der sexuellen Belästigung im neuen § 164i (2016). '''Kritik''': nur klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören überhaupt ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht oder in das Gewaltschutzgesetz - und Beziehungsdelikte können auch von Familiengerichten geregelt werden (Frommel). Rückfall in strafrechtsmoralische Prüderie (Tatjana Hörnle). Mit heißer Nadel gestrickt und populistisch. Problematische "Fokussierung auf beweisrechtlich nicht fassbare Gefühlslagen von möglichen Opfern." [https://strafverteidigung-hamburg.com/2767/sexueller-uebergriff/ Jesko Baumhöfener: Vielen Strafrechtlern gehen die Änderungen zu weit]. Das neue geschaffene Massendelikt kann nicht nur Betroffene, sondern auch Nicht-Betroffene zur Anzeige veranlassen und wird andererseits wegen Beweisproblemen vor allem Verfahrenseinstellungen hervorbringen. '''Alternative''': Zurück zum status quo ante (?). '''Antikritik'': die Gesetzgebung markiert immerhin das Ende des einst selbstverständlichen Verfügungsrechts des Mannes über den Körper der Frau.
# Gleichstellung sexueller Übergriffe mit Vergewaltigungen im neuen § 177 und Einführung des Tatbestands der sexuellen Belästigung im neuen § 164i (2016). '''Kritik''': Rückfall ins Moralstrafrecht früherer Zeiten (Tatjana Hörnle). Populistisch und aktionistisch. Jesko Baumhöfener (Hamburg): "Fokussierung auf beweisrechtlich nicht fassbare Gefühlslagen von möglichen Opfern". Kreuzer: das neue geschaffene Massendelikt kann nicht nur Betroffene, sondern auch Nicht-Betroffene zur Anzeige veranlassen und wird andererseits wegen Beweisproblemen vor allem Verfahrenseinstellungen hervorbringen. '''Alternative''': Zurück zum status quo ante (?). '''Antikritik'': symbolischer Schlusspunkt für das einst selbstverständliche Verfügungsrecht des Mannes über den Körper der Frau.
# Aufwertung des Einbruchs in Privatwohnungen zum Verbrechen im neuen § 244 StGB aus dem Jahr 2017 bei gleichzeitiger Streichung der Strafmilderung für minder schwere Fälle. '''Kritik''': erstens im Widerspruch zur Beibehalung minder schwerer Fälle im noch gewichtigeren Tatbestand des bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls, zweitens falsche Vorstellungen des Gesetzgebers über das Phänomen, drittens absehbare Welle justizieller Übermaßstrafen oder Umgehungsstrategien, viertens möglicherweise verfassungswidrig. '''Alternative''': Status quo ante. '''Antikritik''': Kriminelle müssen "in solchen Fällen höhere Strafen zu spüren bekommen - wenn sie denn gefasst werden" (Tagesschau).
# Aufwertung des Einbruchs in Privatwohnungen zum Verbrechen im neuen § 244 StGB aus dem Jahr 2017 bei gleichzeitiger Streichung der Strafmilderung für minder schwere Fälle. '''Kritik''': erstens im Widerspruch zur Beibehalung minder schwerer Fälle im noch gewichtigeren Tatbestand des bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls, zweitens falsche Vorstellungen des Gesetzgebers über das Phänomen, drittens absehbare Welle justizieller Übermaßstrafen oder Umgehungsstrategien, viertens möglicherweise verfassungswidrig. '''Alternative''': Status quo ante. '''Antikritik''': Kriminelle müssen "in solchen Fällen höhere Strafen zu spüren bekommen - wenn sie denn gefasst werden" (Tagesschau).


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