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Im Dezember 2017 forderte der emeritierte Gießener Strafrechtler und Kriminologe Arthur Kreuzer unter der Überschrift "Reformiert endlich das Strafrecht!" in der Wochenzeitschrift "DIE ZEIT" die Rücknahme einer ganzen Reihe von Gesetzen aus der vergangenen Legislaturperiode: | Im Dezember 2017 forderte der emeritierte Gießener Strafrechtler und Kriminologe Arthur Kreuzer unter der Überschrift "Reformiert endlich das Strafrecht!" in der Wochenzeitschrift "DIE ZEIT" die Rücknahme einer ganzen Reihe von Gesetzen aus der vergangenen Legislaturperiode: | ||
# Strafbarmachung des Eigendopings (§ 4 AntiDopG von 2015). | # Strafbarmachung des Eigendopings (§ 4 AntiDopG von 2015). '''Kritik''': nicht geeignet, nicht erforderlich, verfassungsrechtlich problematisch. Soll offenbar die Gesundheit von Personen schützen, die sich aus freien Stücken selbst an der Gesundheit schädigen. '''Alternative''': Verbandsstrafen. | ||
# Erweiterte Strafbarkeit der Beschaffung | # Erweiterte Strafbarkeit der Beschaffung sexuell potentiell anregender Kinderbilder in [https://dejure.org/gesetze/StGB/184b.html § 184b StGB mit Strafe von 3 Monaten bis 5 Jahren Gefängnis. Nach der letzten Erweiterung (2008) um Verbreiten, Erwerb und Besitz sog. Posing-Fotos nun der Verzicht auf das Erfordernis einer Darstellung sexueller Handlungen und Strafbarkeit des Versuchs der Bilder-Beschaffung etwa von schlafenden Kindern oder entblößten Körperteilen. Für Strafbarkeit genügt das Anklicken von Pornolinks. Keine Strafbefreiung bei Rückgängigmachen des Aufrufs einer solchen Website. '''Kritik''': Unverhältnismäßigkeit, Kontraproduktivität durch Kriminalisierung massenhaften Verhaltens von Jugendlichen mit Häufung von Denunziationen unliebsamer Bekannter als absehbarer Nebenfolge. | ||
# Strafbarkeit der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§ 89a von 2015). Klingt schon fast nach Hochverrat. In Wirklichkeit wird hier der "Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung" - so wörtlich selbst der BGH - zu einem eigenen Tatbestand aufgepimpt. | # Strafbarkeit der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§ 89a von 2015). Klingt schon fast nach Hochverrat. In Wirklichkeit wird hier der "Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung" - so wörtlich selbst der BGH - zu einem eigenen Tatbestand aufgepimpt. Für den BGH ist trotzdem nur der "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" tangiert. '''Kritik''': feindstrafrechtlich vorverlegte Strafbarkeit. Strafbar ist schon, "wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden zu lassen" (Kreuzer), die es ihm ermöglichen, später politisch-militärische Aktionen zu unterstützen. "Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Ohne dass hier eine wirkliche Straftat vorliegt, will man Tatgeschehen künstlich behaupten, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen." '''Alternative''': ordnungsbehördliches Ausreiseverbot. | ||
# Kriminalisierung der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 von 2015). '''Kritik''': | Antikritik: Terroristische Einzeltäter müsssen effektiv gestoppt werden. | ||
# Kriminalisierung der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 von 2015). '''Kritik''': Sterbeglöckchen für die Selbstbestimmung am Lebensende. Unbestimmtes, moralisierendes Strafrecht, das auch ethisch wertvolle Sterbebegleitung unnötig in ein Dilemma zwischen strafbarer Suizidbeihilfe und strafbarer unterlassener Hilfeleistung stürzt - von der Förderung von Denunziationen seitens enttäuschter Angehöriger und von erniedrigenden polizeilichen Ermittlungen ganz zu schweigen. '''Alternative''': Vereins- und Gewerberecht kann problematische Sterbehilfeorganisationen besser unterbinden. | |||
# Gleichstellung sexueller Übergriffe mit Vergewaltigungen im neuen § 177 von 2016. '''Kritik''': nur klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören überhaupt ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht oder in das Gewaltschutzgesetz - und Beziehungsdelikte können auch von Familiengerichten geregelt werden (Frommel). Rückfall in strafrechtsmoralische Prüderie (Tatjana Hörnle). Mit heißer Nadel gestrickte Antwort auf populistische Forderungen. Fokussierung auf beweisrechtlich nicht fassbare Gefühlslagen von möglichen Opfern und die Ausdehnung nahezu aller Sexualdelikte auf Situationen, die gerade nicht durch Eindeutigkeit geprägt seien, hätten mit der Forderung nach einem „Nein heißt Nein“-Prinzip, das auf offenkundiger Ablehnung beruht, wenig zu tun. [https://strafverteidigung-hamburg.com/2767/sexueller-uebergriff/ Vielen Strafrechtlern gehen die Änderungen zu weit]. Das neue geschaffene Massendelikt kann nicht nur Betroffene, sondern auch Nicht-Betroffene zur Anzeige veranlassen und wird andererseits wegen Beweisproblemen auch materiell unberechtigte Verfahrenseinstellungen hervorbringen. '''Alternative''': zugleich aber wegen der zu erwartenden Beweisprobleme auch viele und aufgrund zu erwartender Verfahrenseinstellungen eher für Frustration auf allen Seiten sorgen wird. Die Rücknahme dieses Gesetzes wäre zwar nur eine Entpänalisierung, keine Entkrimianlisierung, aber zurückgenommen werden sollte es trotzdem. | # Gleichstellung sexueller Übergriffe mit Vergewaltigungen im neuen § 177 von 2016. '''Kritik''': nur klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören überhaupt ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht oder in das Gewaltschutzgesetz - und Beziehungsdelikte können auch von Familiengerichten geregelt werden (Frommel). Rückfall in strafrechtsmoralische Prüderie (Tatjana Hörnle). Mit heißer Nadel gestrickte Antwort auf populistische Forderungen. Fokussierung auf beweisrechtlich nicht fassbare Gefühlslagen von möglichen Opfern und die Ausdehnung nahezu aller Sexualdelikte auf Situationen, die gerade nicht durch Eindeutigkeit geprägt seien, hätten mit der Forderung nach einem „Nein heißt Nein“-Prinzip, das auf offenkundiger Ablehnung beruht, wenig zu tun. [https://strafverteidigung-hamburg.com/2767/sexueller-uebergriff/ Vielen Strafrechtlern gehen die Änderungen zu weit]. Das neue geschaffene Massendelikt kann nicht nur Betroffene, sondern auch Nicht-Betroffene zur Anzeige veranlassen und wird andererseits wegen Beweisproblemen auch materiell unberechtigte Verfahrenseinstellungen hervorbringen. '''Alternative''': zugleich aber wegen der zu erwartenden Beweisprobleme auch viele und aufgrund zu erwartender Verfahrenseinstellungen eher für Frustration auf allen Seiten sorgen wird. Die Rücknahme dieses Gesetzes wäre zwar nur eine Entpänalisierung, keine Entkrimianlisierung, aber zurückgenommen werden sollte es trotzdem. | ||
'''Antikritik''': Auf jeden Fall markiert das Gesetz einen Wendepunkt, was das einst „selbstverständliche Verfügungsrecht des Mannes über den Körper der Frau“ angeht. | '''Antikritik''': Auf jeden Fall markiert das Gesetz einen Wendepunkt, was das einst „selbstverständliche Verfügungsrecht des Mannes über den Körper der Frau“ angeht. | ||
# Aufwertung des Einbruchs in Privatwohnungen zum Verbrechen im neuen § 244 StGB aus dem Jahr 2017 bei gleichzeitiger Streichung der Strafmilderung für minder schwere Fälle. '''Kritik''': erstens im Widerspruch zur Beibehalung minder schwerer Fälle im noch gewichtigeren Tatbestand des bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls, zweitens falsche Vorstellungen des Gesetzgebers über das Phänomen, drittens absehbare Welle justizieller Übermaßstrafen oder Umgehungsstrategien, viertens möglicherweise verfassungswidrig. Antikritik: "Die Bundesregierung will, dass Kriminelle in solchen Fällen höhere Strafen zu spüren bekommen - wenn sie denn gefasst werden" (Tagesschau). | # Aufwertung des Einbruchs in Privatwohnungen zum Verbrechen im neuen § 244 StGB aus dem Jahr 2017 bei gleichzeitiger Streichung der Strafmilderung für minder schwere Fälle. '''Kritik''': erstens im Widerspruch zur Beibehalung minder schwerer Fälle im noch gewichtigeren Tatbestand des bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls, zweitens falsche Vorstellungen des Gesetzgebers über das Phänomen, drittens absehbare Welle justizieller Übermaßstrafen oder Umgehungsstrategien, viertens möglicherweise verfassungswidrig. Antikritik: "Die Bundesregierung will, dass Kriminelle in solchen Fällen höhere Strafen zu spüren bekommen - wenn sie denn gefasst werden" (Tagesschau). | ||
Umstritten sind Berechtigung und Grenzen des Strafens schon seit längerer Zeit in folgenden Bereichen: | |||
== | == Massenverkehr und Massenkonsum == | ||
===Unfallflucht (§ 142 StGB)=== | ===Unfallflucht (§ 142 StGB)=== | ||
'''Das Gesetz''': Das [https://dejure.org/gesetze/StGB/142.html Unerlaubte Entfernen vom Unfallort] wurde 1909 durch § 22 des Gesetzes über das Führen von Kraftfahrzeugen erstmals strafbar. Die Strafbarkeit wurde erweitert und die Strafdrohung auf drei Jahre Gefängnis erhöht, als Justizminister Freisler 1940 damit auch die Feigheit desjenigen ächten wollte, der vom Unfallort flieht. Freislers § 139a RStGB blieb dem StGB trotzdem unverändert als § 142 erhalten. Ziva Kubatta (2008) Zur Reformbedürftigkeit der Verkehrsunfallflucht (§ 142 StGB). | '''Das Gesetz''': Das [https://dejure.org/gesetze/StGB/142.html Unerlaubte Entfernen vom Unfallort] wurde 1909 durch § 22 des Gesetzes über das Führen von Kraftfahrzeugen erstmals strafbar. Die Strafbarkeit wurde erweitert und die Strafdrohung auf drei Jahre Gefängnis erhöht, als Justizminister Freisler 1940 damit auch die Feigheit desjenigen ächten wollte, der vom Unfallort flieht. Freislers § 139a RStGB blieb dem StGB trotzdem unverändert als § 142 erhalten. Ziva Kubatta (2008) Zur Reformbedürftigkeit der Verkehrsunfallflucht (§ 142 StGB). |