Geschichte und Kriminologie: Unterschied zwischen den Versionen

 
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Das Verhältnis zwischen den akademischen Disziplinen '''Geschichte und Kriminologie''' war lange Zeit durch beidseitiges Desinteresse gekennzeichnet. Weder interessierte sich die Historiographie für Kriminalität - noch war Geschichte ein Thema für Kriminologen.
Manche Wissenschaften sind undenkbar ohne die historische Dimension ihres Gegenstands. Literaturwissenschaft ohne Literaturgeschichte? Unmöglich. Musikwissenschaft ohne Musikgeschichte? Undenkbar. Andere Wissenschaften hingegen werden von der Gegenwart an der kurzen Leine gehalten, weil sie angesichts drängender Gefahren konkrete Vorschläge unterbreiten sollen: die Probleme des heutigen Menschenhandels, das globale Drogenproblem, die Herausforderung durch den internationalen Terrorismus - das sind einige der Themen der Kriminologie. Die Kriminologie versteht sich als Gegenwartswissenschaft. Sie beschreibt die Jugend- oder die Umwelt- oder die Wirtschafts- und Finanzkriminalität heute: diese will sie untersuchen - und die Wirksamkeit unterschiedlicher Maßnahmen der Bekämpfung vergleichen und damit einen Beitrag leisten zu deren Bewältigung. Das heißt nicht, dass die historische Dimension völlig unbedeutend ist: aber man kann sich die Kriminologie nicht nur ohne die Geschichte vorstellen - sie existiert auch weitgehend ohne Blick in die Vergangenheit. Man kann geradezu von einem "Nicht-Verhältnis" zwischen '''Geschichte und Kriminologie''' sprechen. Das war vor allem in der Frühzeit der Kriminologie der Fall. Inzwischen gab es eine Annäherung. Aber von dem potentiellen Traumpaar, als das ich mir die beiden Disziplinen vorstelle, kann die Rede noch nicht sein. Und auf absehbare Zeit wird sich das wohl auch nicht ändern. Wie und warum sich die Dinge so entwickelten und verhalten - das ist das Thema dieses Beitrags.  


Kriminologie war am Pflock der Aktualität fest angebunden. Sie war zu einem erheblichen Teil zudem Kriminalanthropologie. Wo sie das nicht war, war sie forensischen Zwecken der Gegenwart verpflichtet: der Frage nach dem sozialen Milieu des Straftäters, dem Ziel seiner Resozialisierung, der Verbesserung des Strafvollzugs und des Strafjustizsystems. Dass der Blick in die Vergangenheit da viel bringen könnte, war kein Gedanke, der in der Frühzeit der Kriminologie irgend jemanden inspiriert zu haben scheint.
Aus der Sicht der Historiker sah das so aus, und ich zitiere Gerd Schwerhoff von der TU Dresden, einen der Protagonisten der historischen Kriminalitätsforschung:


Auch wenn es stimmt, dass die Figur des Turiner Arztes, Psychiaters und Kriminalanthropologen [[Cesare Lombroso]] in der deutschsprachigen Kriminalwissenschaft im weitesten Sinne eher abwehrende Reaktionen hervorrief (Baer, Näke, v. Liszt), so führt doch kein Weg um die Anerkenntnis herum, dass die Suche nach Tätertypen einen Großteil der Energie in der frühen Kriminologie absorbierte.  
:Für die gegenwartsbezogenen Wissenschaften, nicht nur für die Jurisprudenz, sondern auch für die Gesellschaftswissenschaften, ist eine Beschäftigung mit Kriminalität seit Langem selbstverständlich, so selbstverständlich, dass sich mit der Kriminologie ein eigener Wissenschaftszweig entwickelt hat. Historiker taten sich allerdings meist schwer mit dem Thema ‚Kriminalität‘. Neben den Rechtshistorikern, die sich vor allem auf die Entwicklung der Rechtsnormen konzentrierten, die Rechtspraxis dagegen eher stiefväterlich behandelten und die sanktionierten Taten kaum betrachteten, waren es im deutschsprachigen Raum bis in die jüngere Vergangenheit eher wenige Exoten, die sich mit Kriminalität beschäftigten.


Eine Wissenschaft, die sich von der Aufgabe faszinieren lässt, den typischen Dieb vom typischen Vergewaltiger und diesen vom typischen Mörder zu unterscheiden, findet so schnell natürlich keine Schnittstelle zur Geschichtswissenschaft - außer vielleicht zur Geschichte der Evolution.
Und wie sah es aus der Sicht der Kriminologie aus? Warum interessierte sie sich nicht für die Geschichte der Kriminalität und der Strafen - und, wie wir sehen werden, nicht wirklich für die Geschichte des eigenen Fachs? Auf die Frage der Fachgeschichte kommen wir später noch zurück, aber ein Gesichtspunkt ist natürlich naheliegend: der Begriff der Kriminologie stammt aus dem Jahre 1885. Die Etablierung der Kriminologie als Wissenschaft an den Universitäten begann erst im 20. Jahrhundert. Da hat sich noch nicht so viel Geschichte angehäuft, dass eine Fach-Historiographie sich von selbst aufdrängte.  


Ungeachtet der Ablehnungsfront stellte Lombroso deshalb in der Frühzeit der Kriminologie die herausragende Figur dar. Er veröffentlichte seine wichtigsten Werke zwischen 1875 und 1909 und stand ganz im Banne von Charles Darwin und dessen Werk über Die Entstehung der Arten (1859).
Warum aber interessierte sich die Kriminologie nicht für die Geschichte von Verbrechen und Strafen? Der Hauptgrund dafür dürfte darin gelegen haben, dass sie von Anfang an von einer ganz anderen Bezugsdisziplin fasziniert war, nämlich der biologischen Evolutionstheorie von Charles Darwin und den Folgerungen, die man aus dieser für die Erklärung des Verbrechens ziehen konnte. Zwar wird mit Recht immer wieder darauf hingewiesen, dass die Theorien des Turiner Arztes, Psychiaters und Kriminalanthropologen [[Cesare Lombroso]] mehrheitlich auf Ablehnung stießen (Baer, Näke, v. Liszt), doch ist ebenso eindeutig nachweisbar, dass die Kriminologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sich auf die eine oder andere Weise doch ganz überwiegend auf der Suche nach Tätertypen befand und dass der Gedanke an biologisch (oder anders) prädeterminierte Delinquenz den Diskurs der Disziplin in diesen Jahrzehnten dominierte - und dies zu einem Großteil übrigens selbst bei den Kritikern Lombrosos, so dass es sich doch lohnt, einen Blick auf seine Theorien zu werfen.  


Lombroso glaubte, die Existenz ''geborener Verbrecher'' (Enrico Ferri) nachweisen zu können, also des ''homo delinquens'' als einer Unterart des ''homo sapiens''. Danach waren geborene Verbrecher nichts anderes als die Vertreter einer früheren Entwicklungsphase des Menschengeschlechts - bezeugt durch die körperlichen Merkmale menschlicher Urahnen. So wie es auch bei anderen Arten Atavismen gab - also Rückschläge der Evolution - so gab es sie beim Menschen auch. Und der auffälligste [http://de.wikipedia.org/wiki/Atavismus Atavismus] beim homo sapiens war eben der Verbrechermensch, auch ''homo criminalis'' genannt.
Lombroso, der seine wichtigsten Werke zwischen 1876 und 1909 veröffentlichte, war zu der Überzeugung gelangt, dass manche Menschen zwar aufgrund von sozialen Umständen oder Zufällen zu Straftätern würden, dass aber die wirklichen Verbrecher von der Natur dazu bestimmt worden seien. Die "geborenen Verbrecher" (Enrico Ferri) unterschieden sich von normalen Menschen durch körperliche Merkmale. Biologisch sei der ''homo delinquens'', bzw. der ''homo criminalis'' eine Unterart des ''homo sapiens'', und zwar Vertreter einer früheren Entwicklungsphase des Menschengeschlechts, bzw. eines evolutionären Rückschlags, auch [http://de.wikipedia.org/wiki/Atavismus Atavismus] genannt. Nach seiner eigenen, später von seiner Tochter und Mitarbeiterin Gina noch ausgeschmückten, Darstellung machte Lombroso diese Entdeckung im Jahre 1872, als er die Hirnschale eines damals berühmt-berüchtigten Räubers namens [[Giuseppe Villella]] in Händen hielt. Dieser Totenschädel war anders als die anderen: da waren "die enormen Kiefer, die hohen Backenknochen", wie sie nur "bei Verbrechern, Wilden und Affen gefunden werden", das alles wiederum gepaart mit dem, was man über die Verbrecher sowieso schon wusste, sich aber nicht erklären konnte: "die Fühllosigkeit gegen Schmerzen, (...) und die unwiderstehliche Begierde nach Bösem um seiner selbst willen" - all dies fügte sich beim Anblick dieses Verbrecherschädels zu einer neuartigen Erkenntnis: "Beim Anblick dieser Hirnschale glaubte ich ganz plötzlich, das Problem der Natur des Verbrechens zu schauen. Ein atavistisches Wesen, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschheit und der niederen Tiere wieder hervorbringt." Lombroso und seinen Mitstreitern gelang es sogar, den Typus des Diebes vom Typus des Vergewaltigers und diesen vom Typus des Mörders aufgrund körperlicher Merkmale zu unterscheiden. Ich zitiere aus der deutschen Übersetzung des Uomo delinquente von 1894 (S. 229-231)): „Diebe haben im allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefältet und stoßen zusammen; die Nase ist krumm oder stumpf. Der Bart spärlich, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend (...). - Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich, die Lippen dünn, die Eckzähne groß (...). - Im allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder hervorragend, die Backenknochen breit – kurz ein mongolischer oder bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden.


Nach seiner eigenen Darstellung - die später von seiner Tochter Gina noch ausgeschmückt wurde - machte Lombroso diese Entdeckung im Jahre 1872, als er die Hirnschale eines damals berühmt-berüchtigten Räubers namens [[Giuseppe Villella]] in Händen hielt:
Die Vorstellung, dass äußere Merkmale wie eine bestimmte Schädelform oder zusammengewachsene Augenbrauen auf eine atavistische, d.h. niedrigere und gewalttätigere Anlage zum Verbrecher hindeuteten, und dass Verbrecher mit den aggressiveren, nicht kulturell domestizierten Vorfahren des heutigen Menschen durch eine direkte Verwandtschaft verbunden seien, fördert nun offensichtlich nicht gerade das Interesse an der Geschichte im Sinne einer idiographischen Wissenschaft, also Ereignisgeschichte, die es "mit individuellen Vorgängen und Zuständen der geschichtlichen Welt" (Wieacker 1967: 17) zu tun hat. Die Geschichte, für die sich die damalige Kriminologie interessierte, war einzig und allein die Geschichte der Entstehung der Arten im Sinne von Darwins ''On the Origin of Species'' (1859).
 
:"Beim Anblick dieser Hirnschale glaubte ich ganz plötzlich, das Problem der Natur des Verbrechens zu schauen. Ein atavistisches Wesen, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschheit und der niederen Tiere wieder hervorbringt. So wurden anatomisch verständlich: die enormen Kiefer, die hohen Backenknochen, die bei Verbrechern, Wilden und Affen gefunden werden, die Fühllosigkeit gegen Schmerzen, (...) und die unwiderstehliche Begierde nach Bösem um seiner selbst willen."
 
Die Vorstellung, dass äußere Merkmale wie eine bestimmte Schädelform oder zusammengewachsene Augenbrauen auf eine atavistische, d.h. niedrigere und gewalttätigere Anlage zum Verbrecher hindeuteten, und dass Verbrecher mit den aggressiveren, nicht kulturell domestizierten Vorfahren des heutigen Menschen durch eine direkte Verwandtschaft verbunden seien, trieb bekanntlich seltsame Blüten. Hier ein Beispiel aus der deutschen Übersetzung des Uomo delinquente von 1894 (S. 229-231)):
 
:„Diebe haben im allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefältet und stoßen zusammen; die Nase ist krumm oder stumpf. Der Bart spärlich, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend (...). - Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich, die Lippen dünn, die Eckzähne groß (...). - Im allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder hervorragend, die Backenknochen breit – kurz ein mongolischer oder bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden.“
 
Auf die Gefahr der Wiederholung des Offensichtlichen hin: Es liegt auf der Hand, dass Geschichte als idiographische Wissenschaft, als Ereignisgeschichte, die es "mit individuellen Vorgängen und Zuständen der geschichtlichen Welt" (Wieacker 1967: 17) zu tun hat, in einem solchen Bezugsrahmen schlechterdings keine Rolle spielen kann, geht es doch allenfalls um die Diagnose biologischer Besonderheiten vor dem Hintergrund der Entwicklung der Arten.


So sprach denn auch Lombroso zeitlebens, wenn er die von ihm mitbegründete und mit-angeführte Wissenschaft meinte, nicht von der "Kriminologie" oder der "Wissenschaft vom Verbrechen" (Mergen 1961; Baumann 2006: 16), sondern immer nur von der Wissenschaft vom Verbrecher - und die nannte er, um keinen Zweifel an der Leitfunktion der Anthropologie aufkommen zu lassen, ganz bewusst "Kriminalanthropologie" (''antropologia criminale'', ''anthropologie criminelle''). Gewiss gab es daneben noch konkurrierende Ideen - man denke etwa an die seit 1857 von [http://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%A9n%C3%A9dict_Augustin_Morel Bénédict Auguste Morel] propagierte Degenerationstheorie - oder an Enrico Ferris Kriminalsoziologie, die das Verbrechen ausdrücklich als soziale Erscheinung (1883) untersuchen wollte. Doch so wie einerseits Lombroso durchaus bereit war, auch sozialen Faktoren einen Einfluss zuzugestehen, so war andererseits auch sein Schüler und Freund Ferri - übrigens zugleich Chefredakteur der sozialistischen Parteizeitung ''Avanti!'' und als römischer Professor für ein Dutzende Jahre das Opfer eines politisch motivierten Berufsverbots, das er freilich produktiv zu nutzen wusste - alles andere als ein Kritiker der anthropologischen Schule. Im Gegenteil: er war überzeugt, allein durch den Anblick der Gefangenen, die sich in einem Gefängnishof aufhielten, die Diebe von den Vergewaltigern und diese von den Mördern unterscheiden zu können. So etabliert und so unangreifbar erschien seinerzeit die Lehre von der Existenz eines ''homo criminalis'', bzw. ''uomo delinquente'', also ''Verbrechermenschen'', dass sich niemand mehr über die vielen gedruckten Schautafeln in den Lehrbüchern wunderte, auf denen eine Seite den typischen Betrügern, die nächste den Taschendieben und eine dritte den Mördern gewidmet war.
So sprach denn auch Lombroso zeitlebens, wenn er die von ihm mitbegründete und mit-angeführte Wissenschaft meinte, nicht von der "Kriminologie" oder der "Wissenschaft vom Verbrechen" (Mergen 1961; Baumann 2006: 16), sondern immer nur von der Wissenschaft vom Verbrecher - und die nannte er, um keinen Zweifel an der Leitfunktion der Anthropologie aufkommen zu lassen, ganz bewusst "Kriminalanthropologie" (''antropologia criminale'', ''anthropologie criminelle''). Gewiss gab es daneben noch konkurrierende Ideen - man denke etwa an die seit 1857 von [http://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%A9n%C3%A9dict_Augustin_Morel Bénédict Auguste Morel] propagierte Degenerationstheorie - oder an Enrico Ferris Kriminalsoziologie, die das Verbrechen ausdrücklich als soziale Erscheinung (1883) untersuchen wollte. Doch so wie einerseits Lombroso durchaus bereit war, auch sozialen Faktoren einen Einfluss zuzugestehen, so war andererseits auch sein Schüler und Freund Ferri - übrigens zugleich Chefredakteur der sozialistischen Parteizeitung ''Avanti!'' und als römischer Professor für ein Dutzende Jahre das Opfer eines politisch motivierten Berufsverbots, das er freilich produktiv zu nutzen wusste - alles andere als ein Kritiker der anthropologischen Schule. Im Gegenteil: er war überzeugt, allein durch den Anblick der Gefangenen, die sich in einem Gefängnishof aufhielten, die Diebe von den Vergewaltigern und diese von den Mördern unterscheiden zu können. So etabliert und so unangreifbar erschien seinerzeit die Lehre von der Existenz eines ''homo criminalis'', bzw. ''uomo delinquente'', also ''Verbrechermenschen'', dass sich niemand mehr über die vielen gedruckten Schautafeln in den Lehrbüchern wunderte, auf denen eine Seite den typischen Betrügern, die nächste den Taschendieben und eine dritte den Mördern gewidmet war.
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Ob man den Verbrecher nun mit Morel als ein Wesen ansah, bei dem sich die typischen Fähigkeiten des Menschen degenerativ zurückentwickelt hätten, oder aber als Wesen, das im Gegensatz zu seinen unmittelbaren Vorfahren durch eine Laune der Natur so aussah, als stamme es direkt von Vorfahren von einer längst überwundenen Stufe der Evolution ab - in beiden Fällen handelte es sich für die damaligen Zeitgenossen bei der Kriminalität nicht um ein Phänomen der Kultur, sondern der Natur und mithin eben nicht um eine Angelegenheit der Historiographie.
Ob man den Verbrecher nun mit Morel als ein Wesen ansah, bei dem sich die typischen Fähigkeiten des Menschen degenerativ zurückentwickelt hätten, oder aber als Wesen, das im Gegensatz zu seinen unmittelbaren Vorfahren durch eine Laune der Natur so aussah, als stamme es direkt von Vorfahren von einer längst überwundenen Stufe der Evolution ab - in beiden Fällen handelte es sich für die damaligen Zeitgenossen bei der Kriminalität nicht um ein Phänomen der Kultur, sondern der Natur und mithin eben nicht um eine Angelegenheit der Historiographie.


Dass die lombrosianische Kriminalanthropologie zu keinem Zeitpunkt allgemein anerkannt war, dass er immer Widersacher und Kritiker hatte - und zwar insbesondere in Frankreich mit Gabriel Tarde (1843-1904) und Alexandre Lacassagne (1843-1924), dessen Ausspruch "Die Gesellschaften haben die Verbrecher, die sie verdienen" ihn jedenfalls in vielfältigen Variationen bis heute überlebte - dass Lombroso selbst dazu überging, auch soziale und politische Faktoren mit einzubeziehen, alles das genügte angesichts der dominierenden Fixierung auf die Tätertypen jedenfalls bei weitem nicht, um dem Gedanken an historische Forschungen den Raum und die Gelegenheiten zu verschaffen, praktisch zu werden.  
Die prinzipiell anderen Zugänge zur Kriminalitätsfrage in den frühen Jahren der Kriminologie - zu denken ist an Gabriel Tarde (1843-1904) und Alexandre Lacassagne (1843-1924), dessen Ausspruch "Die Gesellschaften haben die Verbrecher, die sie verdienen" ihn jedenfalls in vielfältigen Variationen bis heute überlebte - waren zu schwach, um dem Gedanken an historische Forschungen den Raum und die Gelegenheiten zu verschaffen, praktisch zu werden.  




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Diese ''historische Kriminologie'' befand sich damals und dann noch für längere Zeit ''in statu nascendi''. Die Geburtsmetapher liegt auch wegen der Merkwürdigkeit nahe, dass zwei wichtige Werke sie in ihrem Titel bzw. Zusatztitel selbst verwenden. Nämlich im Jahre 1951 das Buch "Geburt der Strafe" des Kölner rechtswissenschaftlichen Privatdozenten und späteren außerordentlichen Professors [http://de.wikipedia.org/wiki/Viktor_Achter_(Jurist) Viktor Achter], in dem es um den Übergang von der Automatik der Sühne zur Bestrafung des Täters (im Hochmittelalter in Südfrankreich) ging - und dann, mit einem ganz anderen Donnerschlag, im Jahre 1975 das Buch "Überwachen und Strafen" des Philosophen und Psychologen Michel Foucault, dessen Zusatztitel bekanntlich "Die Geburt des Gefängnisses" lautete. Es war im Anschluss an den epochalen Erfolg dieses Werkes, dass sich Quantität und Qualität im Diskurs der historischen Kriminologie auf höchst erfreuliche Art zu mausern begannen. Wobei dahingestellt bleiben muss, inwiefern ''post hoc'' hier auch tatsächlich auf ein ''propter hoc'' verweist.
Diese ''historische Kriminologie'' befand sich damals und dann noch für längere Zeit ''in statu nascendi''. Die Geburtsmetapher liegt auch wegen der Merkwürdigkeit nahe, dass zwei wichtige Werke sie in ihrem Titel bzw. Zusatztitel selbst verwenden. Nämlich im Jahre 1951 das Buch "Geburt der Strafe" des Kölner rechtswissenschaftlichen Privatdozenten und späteren außerordentlichen Professors [http://de.wikipedia.org/wiki/Viktor_Achter_(Jurist) Viktor Achter], in dem es um den Übergang von der Automatik der Sühne zur Bestrafung des Täters (im Hochmittelalter in Südfrankreich) ging - und dann, mit einem ganz anderen Donnerschlag, im Jahre 1975 das Buch "Überwachen und Strafen" des Philosophen und Psychologen Michel Foucault, dessen Zusatztitel bekanntlich "Die Geburt des Gefängnisses" lautete. Es war im Anschluss an den epochalen Erfolg dieses Werkes, dass sich Quantität und Qualität im Diskurs der historischen Kriminologie auf höchst erfreuliche Art zu mausern begannen. Wobei dahingestellt bleiben muss, inwiefern ''post hoc'' hier auch tatsächlich auf ein ''propter hoc'' verweist.


Jedenfalls begann nun eine Zeit zunehmender Bereicherung der historischen Kriminologie durch eine vergleichsweise Fülle von Arbeiten. In einer ersten Welle kam die Rezeption der britischen Sozialgeschichte in der Gestalt der Übersetzungen von Eric J. Hobsbawms (Übersetzung der Primitive Rebels von 1959 im Jahre 1962 als Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Luchterhand, Neuwied/Berlin; dann wieder 1979 im Focus-Verlag, Gießen; die Bandits von 1969 erschienen auf deutsch 1972 als Die Banditen. Suhrkamp, Frankfurt (dann wieder 2007 unter dem Titel Die Banditen. Räuber als Sozialrebellen bei Hanser in München). Ich selbst erinnere mich aber noch mehr an die Faszination, die von Edward P. Thompsons 1975 in England erschienenen "Whigs and Hunters" und von dem von ihm herausgegebenen Band "Albion's Fatal Tree" ausging.
Jedenfalls begann nun eine Zeit zunehmender Bereicherung der historischen Kriminologie durch eine ganze Fülle von Arbeiten. Die Initialzündung kam wohl durch die Rezeption ausländischer Forschungen. Gerd Schwerhoff schreibt über diese Umbruchszeit:
 
:Während im englisch- und französischsprachigen Raum Forschungen zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kriminalität blühten, tat sich im deutschsprachigen Raum wenig. Heute dagegen ist die historische Kriminalitätsforschung eine etablierte Subdisziplin der Geschichtswissenschaft, deren Ergebnisse und Fallstudien weithin anerkannt sind und, noch wichtiger, mit anderen sozial- und kulturhistorischen Forschungsfeldern eng vernetzt sind.
 
Wichtige Meilensteine waren für Schwerhoff die Jahre 1985 und 1991. Er schreibt:


Danach erst kam es zu einer Annäherung zwischen Kriminologie und Geschichte auch in Deutschland, wobei das Verdienst der Initiative zu diesem Rendezvous mehr der Geschichtswissenschaft als der Kriminologie zukommt.
:Ein Arbeitskreis an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, der von 1991 bis 2010 zwanzig Zusammenkünfte in Stuttgart-Hohenheim veranstaltete, hat sehr wesentlich zu dieser Etablierung beigetragen. Die ersten Anstöße kamen dabei aus dem Kreis der Hexenforscher, die bereits 1985 einen eigenen Arbeitskreis (AK für Interdisziplinäre Hexenforschung) gegründet hatten. Auch Hexerei war, jedenfalls in der Frühen Neuzeit, ein Kriminaldelikt, und viele Diskussionen, die unter Hexenforschern geführt wurden, waren grosso modo auch für Kriminalitätshistoriker interessant. Gemeinsam war allen die Faszination für Gerichtsakten, für Quellen mithin, die nicht nur über die Rechtswirklichkeit Auskunft gaben, sondern die darüber hinaus als Schlüssellöcher taugten, um Blicke in die komplexe Alltagswelt vergangener Zeitalter zu riskieren. - Mit Andreas Blauert gab ein Hexenforscher die Anregung für ein erstes Treffen der „Krimi“-Historiker, eine Anregung, die Dieter R. Bauer als Geschichtsreferent der Akademie bereitwillig aufnahm. Über 20 Personen kamen Anfang Juni 1991 in Hohenheim zusammen, um Vorträge zu hören (z. T. konkrete Fallstudien, z. T. sehr programmatische Beiträge) und vor allem: um sich die Köpfe heißzureden und zu diskutieren! Darunter waren wenige Privatdozenten, viele mehr oder weniger frisch Promovierte und etliche Doktorandinnen und Doktoranden – jedoch kein etablierter Professor!


Aus der Sicht eines der Protagonisten der historischen Kriminalitätsforschung, Gerd Schwerhoff (Historiker an der TU Dresden):
Ich selbst erinnere mich vor allem an die Rezeption entsprechender Arbeiten der britischen ''social historians''. Mich faszinierten die von Edward P. Thompsons 1975 in England erschienenen "Whigs and Hunters" und sein Sammelband "Albion's Fatal Tree"; erst darüber wurde ich darauf aufmerksam, dass es auch einen schon länger in deutscher Übersetzung vorliegenden Eric J. Hobsbawm gab (seine Primitive Rebels von 1959 erschienen 1962 als "Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Luchterhand, Neuwied/Berlin" - 1979 erneut im Focus-Verlag, Gießen; seine "Bandits" von 1969 erschienen 1972 als "Die Banditen. Suhrkamp, Frankfurt" - 2007 erneut unter dem Titel "Die Banditen. Räuber als Sozialrebellen" bei Hanser in München).  
:Für die gegenwartsbezogenen Wissenschaften, nicht nur für die Jurisprudenz, sondern auch für die Gesellschaftswissenschaften, ist eine Beschäftigung mit Kriminalität seit Langem selbstverständlich, so selbstverständlich, dass sich mit der Kriminologie ein eigener Wissenschaftszweig entwickelt hat. Historiker taten sich allerdings meist schwer mit dem Thema ‚Kriminalität‘. Neben den Rechtshistorikern, die sich vor allem auf die Entwicklung der Rechtsnormen konzentrierten, die Rechtspraxis dagegen eher stiefväterlich behandelten und die sanktionierten Taten kaum betrachteten, waren es im deutschsprachigen Raum bis in die jüngere Vergangenheit eher wenige Exoten, die sich mit Kriminalität beschäftigten. Während im englisch- und französischsprachigen Raum Forschungen zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kriminalität blühten, tat sich im deutschsprachigen Raum wenig. Heute dagegen ist die historische Kriminalitätsforschung eine etablierte Subdisziplin der Geschichtswissenschaft, deren Ergebnisse und Fallstudien weithin anerkannt sind und, noch wichtiger, mit anderen sozial- und kulturhistorischen Forschungsfeldern eng vernetzt sind. - Ein Arbeitskreis an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, der von 1991 bis 2010 zwanzig Zusammenkünfte in Stuttgart-Hohenheim veranstaltete, hat sehr wesentlich zu dieser Etablierung beigetragen. Die ersten Anstöße kamen dabei aus dem Kreis der Hexenforscher, die bereits 1985 einen eigenen Arbeitskreis (AK für Interdisziplinäre Hexenforschung) gegründet hatten. Auch Hexerei war, jedenfalls in der Frühen Neuzeit, ein Kriminaldelikt, und viele Diskussionen, die unter Hexenforschern geführt wurden, waren grosso modo auch für Kriminalitätshistoriker interessant. Gemeinsam war allen die Faszination für Gerichtsakten, für Quellen mithin, die nicht nur über die Rechtswirklichkeit Auskunft gaben, sondern die darüber hinaus als Schlüssellöcher taugten, um Blicke in die komplexe Alltagswelt vergangener Zeitalter zu riskieren. - Mit Andreas Blauert gab ein Hexenforscher die Anregung für ein erstes Treffen der „Krimi“-Historiker, eine Anregung, die Dieter R. Bauer als Geschichtsreferent der Akademie bereitwillig aufnahm. Über 20 Personen kamen Anfang Juni 1991 in Hohenheim zusammen, um Vorträge zu hören (z. T. konkrete Fallstudien, z. T. sehr programmatische Beiträge) und vor allem: um sich die Köpfe heißzureden und zu diskutieren! Darunter waren wenige Privatdozenten, viele mehr oder weniger frisch Promovierte und etliche Doktorandinnen und Doktoranden – jedoch kein etablierter Professor! Im Einleitungsreferat machte Gerd Schwerhoff diesen für die deutsche Tagungslandschaft eher ungewöhnlichen Tatbestand zum Gegenstand einer selbstreflexiven Betrachtung: „Dass sich über zwanzig Historikerinnen und Historiker der jüngeren Generation ohne finanziellen Anreiz und ohne die Aussicht auf kurzfristige innerwissenschaftliche Prämien mitten im Semester an einer katholischen Akademie zusammenfinden, um über ein in der deutschen Geschichtswissenschaft noch kaum etabliertes Gebiet ins Gespräch zu kommen, könnte aus der Sicht etablierter Vertreter der Zunft wenn nicht als ‚delinquent‘ so doch als ‚deviant‘ erscheinen. Würden wir uns diese Betrachtung zumindest probeweise einmal zueigen machen, dann könnten wir unser Treffen selbst zum Gegenstand einer kriminalsoziologischen Analyse machen und einige Theorien abweichenden Verhaltens auf ihre Anwendbarkeit testen. Naheliegend wäre z. B. die Adaption der Subkulturtheorie, in den USA vor allem von Forschern entwickelt, die sich mit dem Problem jugendlicher Straßengangs konfrontiert sahen. Sie gehen davon aus, dass die Subkultur von anderen Normen und Werten beherrscht wird als das Gesamtsystem. Ihre Mitglieder verhalten sich also durchaus normkonform, wenn auch nicht konform zu den Werten der Etablierten. Inwieweit diese Kriterien auf unser Treffen anwendbar sind, inwieweit wir uns über gemeinsame Normen und Werte verständigen können, wird die Tagung zeigen […]. Eine andere Möglichkeit des Zugangs böte der ‚labeling approach‘, der Etikettierungsansatz, der die Definition abweichenden Verhaltens durch die umgegebenen Instanzen der sozialen Kontrolle in den Mittelpunkt stellt. Unter diesem Blickwinkel würde sehr deutlich, dass unser Thema in Deutschland zwar gerade erst entdeckt wird, andernorts aber, in Frankreich, den Niederlanden oder der angelsächsischen Welt, fast schon ein ‚alter Hut‘ ist. Auch hierzulande, so kann man deshalb risikolos prognostizieren, wird es mit der Devianz der Kriminalitätshistoriker bald vorbei sein. […] Das stärkt die Aussicht auf stärkere Kommunikation und Vernetzung untereinander, auf mehr Tagungen und Publikationen […]. Andererseits ist es aber auch schade: Das Arbeiten jenseits ausgetretener Pfade ist ja durchaus reizvoll und interessant, Abweichung macht in gewisser Weise auch Spaß. In diesem Sinne hoffe ich, dass uns ein Schuss Devianz noch lange erhalten bleibt […].


Die historische Kriminologie weist mehrere Schwerpunkte auf:
Die historische Kriminologie weist mehrere Schwerpunkte auf:
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Aus der Sicht der Kriminologie ist dieses Ungleichgewicht auch ein bisschen schade. Warum? Man könnte ja froh sein, dass die anderen die Arbeit machen und man selbst das Vergnügen hat, in den Ergebnissen zu schmökern. Die Geschichte geht im wesentlichen idiographisch vor, das heißt sie befasst sich mit Einzelereignissen. Wie anders die durch und durch [https://de.wikipedia.org/wiki/Deduktiv-nomologisches_Modell| nomologisch] orientierte Kriminologie. Sie klassifiziert, typisiert und systematisiert gesellschaftliche Prozesse im historischen und internationalen Vergleich - immer auf der Suche nach (einst) eher deterministisch eingefärbten, heutzutage (hingegen) durchweg eher bescheiden auf probabilistische Relationen zurechtgestutzten Wenn-Dann-Gesetzmäßigkeiten. Die Frage „Warum tritt dieses oder jenes Phänomen auf?“ wird aufgefasst als Frage „Aufgrund welcher allgemeinen Gesetze und konkreten Vorbedingungen tritt dieses oder jenes Phänomen auf? - Und dies bezogen auf die Vergangenheit (Erklärung) wie auf die Zukunft (Prognose)" (vgl. Hempel/Oppenheim 1948: 136). Derlei Fokussierung unter dem Gesichtspunkt der Erklärung durch Gesetzmäßigkeiten und der Weiterentwicklung der Theorien, die sich mit den Entwicklungen von Kriminalität und Kontrolle befassen, kommt dann leicht zu kurz.
Aus der Sicht der Kriminologie ist dieses Ungleichgewicht auch ein bisschen schade. Warum? Man könnte ja froh sein, dass die anderen die Arbeit machen und man selbst das Vergnügen hat, in den Ergebnissen zu schmökern. Die Geschichte geht im wesentlichen idiographisch vor, das heißt sie befasst sich mit Einzelereignissen. Wie anders die durch und durch [https://de.wikipedia.org/wiki/Deduktiv-nomologisches_Modell| nomologisch] orientierte Kriminologie. Sie klassifiziert, typisiert und systematisiert gesellschaftliche Prozesse im historischen und internationalen Vergleich - immer auf der Suche nach (einst) eher deterministisch eingefärbten, heutzutage (hingegen) durchweg eher bescheiden auf probabilistische Relationen zurechtgestutzten Wenn-Dann-Gesetzmäßigkeiten. Die Frage „Warum tritt dieses oder jenes Phänomen auf?“ wird aufgefasst als Frage „Aufgrund welcher allgemeinen Gesetze und konkreten Vorbedingungen tritt dieses oder jenes Phänomen auf? - Und dies bezogen auf die Vergangenheit (Erklärung) wie auf die Zukunft (Prognose)" (vgl. Hempel/Oppenheim 1948: 136). Derlei Fokussierung unter dem Gesichtspunkt der Erklärung durch Gesetzmäßigkeiten und der Weiterentwicklung der Theorien, die sich mit den Entwicklungen von Kriminalität und Kontrolle befassen, kommt dann leicht zu kurz.


Die Historiker die Arbeit machen zu lassen hat also nicht nur Vorteile, sondern auch einen nicht zu unterschätzenden Nachteil für die Kriminologie. Zugespitzt könnte man behaupten: die historische Kriminalitätsforschung hat ihren Ausgangspunkt in Fragestellungen der Historiographie, nicht der Kriminologie. Das ist der wichtigste Grund dafür, dass ihre Ergebnisse auch im Wesentlichen innerhalb der Geschichtswissenschaft und ihrer spezifischen Öffentlichkeit verbleiben, aber in der Kriminologie kaum rezipiert werden. Oder: sie geht nicht von der Kriminologie aus und sie kommt in der Kriminologie nicht an. Die Kriminologie - ausweislich ihrer Lehrbücher und Monographien, ihrer Curricula und ihrer Schwerpunkte - bleibt aus seltsame unberührt von der reichen, überwältigend reichhaltigen Ernte, die sie mittlerweile in die Scheuer gefahren hat.
Die Historiker die Arbeit machen zu lassen hat also nicht nur Vorteile, sondern auch einen nicht zu unterschätzenden Nachteil für die Kriminologie. Zugespitzt könnte man behaupten: die historische Kriminalitätsforschung hat ihren Ausgangspunkt in Fragestellungen der Historiographie, nicht der Kriminologie. Das ist der wichtigste Grund dafür, dass ihre Ergebnisse auch im Wesentlichen innerhalb der Geschichtswissenschaft und ihrer spezifischen Öffentlichkeit verbleiben, aber in der Kriminologie kaum rezipiert werden. Oder: sie geht nicht von der Kriminologie aus und sie kommt in der Kriminologie nicht an. Die Kriminologie - ausweislich ihrer Lehrbücher und Monographien, ihrer Curricula und ihrer Schwerpunkte - bleibt auf eine seltsame Weise fast unberührt von der reichen Ernte, die von der historischen Kriminalitätsforschung eingebracht wurde.


== Geschichte des Fachs ==
== Geschichte des Fachs ==
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=== Der Gegenstand der Untersuchung ===
=== Der Gegenstand der Untersuchung ===
Einer der problematischsten Themen von jedem Geistesgeschichte angesprochen werden, ist die Frage der Kriterien für die Aufnahme und den Ausschluss. Wenn man schreibt die Geschichte der Kriminologie, was als relevant zu zählen? Woher kommt das Thema anfangen und wo hört es auf? Schulbuch Geschichte im Allgemeinen zu vermeiden und das Problem einfach mit Beccaria, die Willkür dieser Entscheidung durch die Tatsache, dass diese inzwischen ist der traditionelle Ort, um verborgen zu beginnen.
Was gehört eigentlich zur Geschichte der Kriminologie - und was gehört nicht dazu? Das ist eine schwierige Frage bei jeder Art von Geschichtsschreibung.
Aber man kann das Problem viel klarer zu sehen bei diesen Gelegenheiten, wenn die Geistesgeschichte der Kriminologie ist das Thema eines ganzen Artikels oder einer Reihe von Kapiteln. So, zum Beispiel, Israel Drapkin Essay in der Encyclopedia of Crime and Justice (Drapkin 1983)-wie die mehr historisch orientierten Lehrbüchern von Bonger (1936) und Void (1958)-soll ein ernster, wissenschaftlicher Konto des Subjekts Geschichte bieten . Drapkin Spuren Kriminologie Geistesgeschichte zurück durch den frühen Neuzeit, das Mittelalter und die Klassik bis in die Antike und "Urzeit". Das Problem ist hier, dass die Auswahlkriterien unargued sind hoffnungslos und breit. Kriminologie der Geschichte wird die Geschichte alles, was jemals wurde gesagt oder gedacht oder getan in Bezug auf Gesetzesbrecher, und die Verbindungen zwischen diesem amorphen Vergangenheit und insbesondere dann vor, bleiben vage und unbestimmt. Schlimmer noch sind die Schriften der antiken und mittelalterlichen Autoren auf der Suche nach 'crimino-logische Aussagen und Argumente durchwühlt, als ob sie die dieselben Fragen ¬ gen in der gleichen Weise wie die moderne Kriminologen, und wir sind anachronistisch Kreaturen wie eingeführt als "frühen modernen Kriminologie" und Thomas von Aquin 'Analyse' kriminogenen Faktoren "(Drapkin 1983 550).
 
Dieses Kriminologie-through-the-Alter Stil der Geschichte ist zu beanstanden einer Reihe von Gründen. Zunächst einmal ist es die Bedeutung der früheren Schriftstellern und verdeckt die Tatsache, dass ihre Aussagen von Annahmen und Ziele-ganz zu schweigen von institutionellen Kontexten und kulturellen Verpflichtungen-die sind so strukturiert sind sehr verschieden von denen der modernen criminology.7 Zweitens verzerrt, gibt es das falschen Eindruck, dass unsere moderne Kriminologie Antwort zu einem zeitlosen und unveränderlichen Reihe von Fragen, die früheren Denker auch nachgedacht haben, allerdings mit deutlich weniger Erfolg. Kriminologie als Wissenschaft, die auf uns zukommen, den Endpunkt eines langen Prozesses der Untersuchung, die erst vor kurzem durch den Status der wahre, wissenschaftliche Kenntnisse gebrochen hat gesehen wurde. Diese progressivist scheitert presentist Sicht der Dinge zu erkennen, dass Kriminologie, ist in der Tat ein sozial konstruiert und historisch spezifische Organisation von Wissen und Ermittlungsmethoden-ein bestimmter Stil des Denkens, was, und dazwischen-der in einem bestimmten Satz von Institutionen geerdet und Formen des Lebens.
 
Es ist eine "Disziplin", ein Regime der Wahrheit mit seiner eigenen speziellen Regeln für die Entscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit, anstatt der Inbegriff des rechten Denkens und richtige Wissen. Um diese trügerische Art des Denkens über die Disziplin der Geschichte anzunehmen ist, abgeschnitten von der Ansicht der anderen "Problematisierungen" (wie Foucault sie nennen würde), dass die historische Aufzeichnung zeigt, und zu vergessen, dass unsere eigenen Wege zu konstituieren und Wahrnehmen "Verbrechen" und "Abweichung" sind Konventionen, anstatt unanfechtbare Wahrheiten gegründet. Ein wichtiger Zweck der Geschichtsschreibung ist es, ein Bewusstsein dafür, wie Konventionen gemacht werden und im Laufe der Zeit erneuert, und fördern damit eine kritische Selbst-Bewusstsein über unsere eigenen Fragen und Annahmen. Der Mythos von entstehender Kriminologie, voran von den alten Fehler zu modernen Wahrheit, tut wenig, um unser Verständnis der Vergangenheit oder der Gegenwart zu verbessern. Meine Ausführungen bis jetzt gegen Kriminologie der Geschichte gerichtet gewesen sein, wie durch Kriminologen zu Kriminologen erzählt. Aber in den letzten Jahren unser historisches Verständnis des Themas wurde erheblich erweiterte durch die Arbeit von "Außenseitern", die keinen Eid auf die Disziplin zu verdanken und dessen Arbeit von ganz unterschiedlichen historischen und kritischen Bedenken angetrieben. Die Schriften von Michel Foucault (1977), Robert Nye (1984), Daniel Pick (1989), Martin Wiener (1990)


*Drittes Reich. Stößt an Grenzen.
In kriminologischen Lehrbüchern finden wir drei verschiedene Wege, mit dieser Frage umzugehen. Die meisten Kriminologie-Einführungen und Lehrbücher machen es sich leicht. Sie beginnen ohne Begründung mit Beccaria und seiner klassischen Schule, gehen dann zu Lombroso und seiner positiven Schule über und verbinden die Kritik daran meist mit einem Hinweis auf soziologische oder moderne Schulen. Das ergibt einen leicht zu merkenden Dreischritt: klassische Schule, positive Schule, moderne Schule. Die Namen dazu sind dann: Beccaria, Lombroso und - je nach Erscheinungsort - von Liszt, Prins, van Hamel, Alexandre Lacassagne oder Edwin H. Sutherland. Der harte Kern besteht aus den beiden Epochen der Klassik (Beccaria) und des Positivismus (Lombroso). Diese Vorgehensweise hat sich so lange schon bewährt und eingebürgert, dass sie nach Ansicht der Autoren regelmäßig auch gar keiner Begründung für wert befunden wird. Nach dem Motte: so war es eben. Was soll man daran begründen?


Das heißt nicht, dass "Geschichte" überhaupt nicht vorkommt. Das Wort kommt vor. Und Informationen zur Geschichte kommen auch vor. Doch die Geschichte, die in kriminologischen Einführungen und Lehrbüchern vorkommt, betrifft nicht historische Perspektiven auf den Gegenstand der Kriminologie, sondern historische Informationen über die Entwicklung der Kriminologie selbst, ist also "Fachgeschichte".  
War es aber wirklich so? Eher wohl nicht. Denn eine klassische Schule der Kriminologie gab es nicht. Beccaria war kein Kriminologe und wollte keiner sein. Seine Werke behandelten alle möglichen Themen, darunter auch Verbrechen und Strafen. Aber das, was er darüber sagte, tat er nicht als Kriminologe, sondern als Essayist, der sich anderen Fragen widmete wie z.B. dem Münzsystem der Lombardei, den Maßen und Gewichten und der allgemeinen Ausbildung von Verwaltungsbeamten. Sein Anspruch bestand niemals in der Suche nach den Ursachen der Kriminalität, schon gar nicht nach wissenschaftlichen Methoden oder auf der Basis oder mit dem Ziel theoretischer Aussagen. Noch weniger wäre es ihm in den Sinn gekommen, sich für die Bildung von wissenschaftlichen Zeitschriften, Instituten oder sonstwie für die Etablierung einer akademischen Disziplin stark zu machen, die sich mit den Ursachen und der Bekämpfung von Kriminalität zu befassen hätte.  


Die in dieser Disziplin gängigen Einführungen und Lehrbücher. Was sich in diesem gleichsam harten diskursiven Kern meiner häufig als zur Geschichte findet, verdient jedenfalls aus meiner Perspektive ganz ohne Zweifel das Adjektiv "erstaunlich". Wobei ich allerdings sofort und ohne Umschweife zweierlei zugestehen würde, nämlich dass die Merkwürdigkeit dessen, was da zur Geschichte steht, a. nicht völlig offensichtlich ist und b. durchaus noch übertroffen wird von dem, was man dort ''nicht'' findet.
Der Ausdruck "klassische Schule" würde Beccaria erstaunen lassen. Er hat sich weder als "klassisch" empfunden noch je an die Bildung einer Schule gedacht. Der Ausdruck war nie eine Selbstbezeichnung, sondern eine Erfindung, die mehr als ein Jahrhundert später als Etikett von Lombroso und den Seinen verwandt wurde, um das eigene Denken und Streben - basierend auf dem Positivismus - möglichst schroff gegenüber der Vergangenheit abzuheben.  


Die Entmythologisierung von Lombroso. Die ohne Fundament war - ausgenommen ein politisches.
Versteht man unter der Geschichte der Kriminologie die Entwicklung der akademischen Disziplin, dann müßte man entweder mit der "positiven Schule" von Lombroso, Ferri und Garofalo beginnen, also im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts (und nicht in der Mitte des 18. Jahrhunderts) - oder man würde auf die Moralstatistiker im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu sprechen kommen. Wer diesen Weg geht, will meist den Anspruch untermauern, dass die Kriminologie - richtig verstanden - von Anfang an eine gesellschaftswissenschaftliche, soziologische Angelegenheit gewesen sei, und dass es gelte, diese Wurzeln wieder freizulegen und die Kriminologie demenstprechend umzuorientieren. Er müßte allerdings auch mit dem Einwand zurechtkommen, dass es gerade nicht diese soziologischen "Wurzeln" waren, aus denen dann die akademische Disziplin entsprang, sondern eben doch die Kriminalanthropologie Lombrosos und seiner Mitarbeiter und Schüler.  
Sack, Stangl.


Gewaltkriminalität: immer dasselbe. Anthropologisch konstant. Geschichte: riesige Unterschiede. Einerseits Gewaltminderung (Spitzer), andererseits Gewaltmehrung (Staatskriminalität). Gewaltkriminalität geht von Bösen aus. Aggressionstrieb. Geschichte: Gewaltkriminalität geht von Guten aus. Und wird neutralisiert. Die westliche Welt. Vietnam. Irak. Syrien.
Oder ließe sich die traditionelle Ahnenreihe - Beccaria, Lombroso, Moderne - vielleicht unter einem anderen Gesichtspunkt legitimieren? Unter dem nämlich, dass man unter "Geschichte der Kriminologie" nicht die Entwicklung der akademischen Disziplin strictur senso versteht, sondern eine Art "Geschichte von Äußerungen über Verbrechen und Strafen im Wandel der Zeiten". Gedanken und Äußerungen über diese Themen sind bekanntlich von Homer über Seneca bis zu Shakespeare und Goethe zu finden wie Sand am Meer. Diese Vorgehensweise ist keineswegs ungewöhnlich. Aber sie ist kaum geeignet, den Dreischritt Beccaria-Lombroso-Moderne zu legitimieren, denn sie könnte keinen plausiblen Grund dafür liefern, die Ahnenreihe so plötzlich im 18. Jahrhundert abreißen zu lassen. Wer alles für Kriminologie hält, was sich mit Verbrechen und Strafe befasst, findet ja kein Argument, irgend jemanden auszuschließen. Die Folge ist eine Art eklektischer Quasi-Paläontologie verbrechens- und strafbezogenen Denkens. Israel Drapkin (1983) verfolgt die Spuren kriminologischen Denkens historisch weit zurück (Encyclopedia of Crime and Justice; vgl. auch Bonger 1936 und Vold 1958): von der Neuzeit über das Mittelalter bis in die klassische Antike und in die "Urzeit". Das Problem ist hier, dass die Auswahlkriterien hoffnungslos vage sind: zur Geschichte der Kriminologie gehört alles, was jemals in Bezug auf Gesetzesbrecher gesagt oder gedacht oder getan wurde. Ob und ggf. welche Verbindungen es zwischen dieser amorphen Vergangenheit und der Wissenschaft der Kriminologie gibt, bleibt unbestimmt. Schlimmer noch wird es, wenn Schriften der antiken und mittelalterlichen Autoren auf der Suche nach 'kriminologischen' Aussagen und Argumenten durchwühlt werden, ganz so, als ob sie dieselben Fragen in der gleichen Weise wie die modernen Kriminologen behandelten. So stellt man dem Publikum dann so anachronistisch Kreaturen vor wie zum Beispiel einen "frühen modernen Kriminologen" namens Thomas von Aquin mit dessen bemerkenswerter 'Analyse kriminogener Faktoren' (Drapkin 1983 550).


Dieser Stil der "Kriminologie im Wandel der Zeiten" ist aus einer ganzen Reihe von Gründen nicht unproblematisch. Zunächst einmal wird er Thomas von Aquin nicht ganz gerecht; dann verschleiert er die Tatsache, dass seine Aussagen, von institutionellen Kontexten und kulturellen Verpflichtungen ganz zu schweigen, prinzipiell anders strukturiert sind als diejenigen der modernen Kriminologie. Er vermittelt zudem den falschen Eindruck, dass unsere moderne Kriminologie die Antwort sei auf zeitlose und unveränderliche Fragen, über die frühere Denker genauso nachgedacht hätten wie wir heute - nur mit deutlich weniger Erfolg. Diese whig interpretation of history sieht alles als unvollkommenen Vorläufer einer mehr oder minder zur wahren Erkenntnis gelangten Wissenschaftsgeschichte. Was dabei übersehen wird, ist die Tatsache, dass die Kriminologie eine sozial konstruierte und historisch spezifische Organisation von Wissen und Ermittlungsmethoden darstellt: einen bestimmten Stil des Denkens im Kontext einer spezifischen Lebensform, dazu eine historische Koinzidenz inmitten einer Konfiguration von bestimmten Institutionen.


Das Verhältnis von Geschichte und Kriminologie lässt sich in größter Skizzenhaftigkeit als Kurzgeschichte in zwei Teilen erzählen. Im ersten Teil haben beide nichts miteinander zu tun. Ihr Verhältnis ist ein Nicht-Verhältnis. Im zweiten Teil kommt es dank der Initiative der Geschichtswissenschaft zu einer gewissen Annäherung. Das Happy End bleibt aber aus. Jedenfalls die Kriminologie bleibt von dem Rendezvous, das der Geschichtswissenschaft viel gebracht zu haben scheint, letztlich unbeeindruckt. Der harte Kern der Kriminologie bleibt wie er ist: Man macht so weiter wie bisher. Das heißt: in den Lehrbüchern der Kriminologie dienen stereotype Darstellungen der "Geschichte der Kriminologie" als nützliches Ornament - nützlich zur Affirmation des Wissenschafts-Status und zur Affirmation von Hegemonialansprüchen als Leitdisziplin für den gesamten kriminologischen Diskurs. In der Theorie hinterlässt die Geschichte keine aufklärende Wirkung. Dort ist es, als hätte es die jüngste Blüte der historischen Kriminologie nie gegeben.
Eine historische Linie von Aristoteles bis zu Travis Hirschi und Michael Gottfredson zu ziehen schafft eine trügerische Linearität, die alle möglichen produktiven "Problematisierungen" (wie Foucault sie nennen würde) abschnitte - und insbesondere die Erkenntnis verbauen würde, dass unsere eigenen Wege, "Verbrechen" und "Abweichung" zu konstituieren, auf Konventionen beruhen anstatt auf unanfechtbaren Wahrheiten zu gründen.


Ein wichtiger Zweck von Geschichtsschreibung ist es, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass und wie Konventionen (soziale Tatsachen, kulturelle Tatsachen) hergestellt werden, sich herausschälen und im Laufe der Zeit verändert werden - und wie die gewandelten kulturellen Konzepte dann wieder wie naturgegeben erscheinen. Das kann und sollte ein kritisches Selbst-Bewusstsein und eine Distanz gegenüber unseren eigenen Fragen und Annahmen in der Gegenwart schaffen.


Wir haben gesehen: Geschichte und Kriminologie haben sich in den letzten Jahren angenähert. Und dennoch sind sie noch lange nicht das Traumpaar, das sie darstellen könnten. Für eine solche Feststellung bedarf es natürlich einer gewissen Vorstellung darüber, wann sie denn ein solches Traumpaar wären und wie man das erkennen könnte. Dafür müssen wir neben unserem Realitäts- auch unseren Möglichkeitssinn aktivieren, jene von Robert Musil beschriebene Fähigkeit, das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist - und angesichts des So-Seins der Verhältnisse immer zugleich auch zu denken: ''Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein''. Vor allem: dass es besser sein könnte.
Der Mythos von der aufsteigenden Erkenntnis in der Kriminologie: von alten Fehlern zur modernen Wahrheit, trägt wenig zu einem besseren Verständnis der Vergangenheit oder der Gegenwart bei.  


Und selbst das Monumentalische Die Rolle der Fachgeschichte für das heutige Selbstverständnis der Kriminologie: Ornament, Vergewisserung, Statuspolitik im Kampf um die Anerkennung als Leitdisziplin.
Das alles ist eine Kritik der Fachgeschichtsschreibung durch Kriminologen. In letzter Zeit haben sich aber nun eine ganze Reihe von "Außenseitern" auf diesem Gebiet engagiert, die durch keinen Schwur auf die kriminologische Verfassung behindert waren und durch deren Arbeiten unser Verständnis des Themas ganz erheblich erweitert wurde. Man denke an Michel Foucault (1977), Robert Nye (1984), Daniel Pick (1989) und Martin Wiener (1990)


== Das Potential ==
== Das Potential ==
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Idealiter könnte man sich eine Fülle von Informationen vorstellen, die alles Wissen über die heutige Situation durchtränkte mit Hintergrundwissen und Relativierungen ebenso wie Alternativ-Optionen aus geschichtlichem Wissen. Man könnte einen lebhaften und von Ideen nur so sprühenden Austausch sich vorstellen zwischen kriminologisch bewanderten Historikern und historisch bewanderten Kriminologen, eine Art historisch-kriminalpolitischen Think Tank oder eine Task Force mit der Funktion, nicht nur l'art pour l'art zu produzieren - obwohl auch dagegen gar nichts einzuwenden wäre - sondern auchz in einen kritischen, vielleicht sogar weisen Dialog mit der aktuellen Kriminal- und Gesellschaftspolitik einzutreten.
Idealiter könnte man sich eine Fülle von Informationen vorstellen, die alles Wissen über die heutige Situation durchtränkte mit Hintergrundwissen und Relativierungen ebenso wie Alternativ-Optionen aus geschichtlichem Wissen. Man könnte einen lebhaften und von Ideen nur so sprühenden Austausch sich vorstellen zwischen kriminologisch bewanderten Historikern und historisch bewanderten Kriminologen, eine Art historisch-kriminalpolitischen Think Tank oder eine Task Force mit der Funktion, nicht nur l'art pour l'art zu produzieren - obwohl auch dagegen gar nichts einzuwenden wäre - sondern auchz in einen kritischen, vielleicht sogar weisen Dialog mit der aktuellen Kriminal- und Gesellschaftspolitik einzutreten.


=== Der Befund ===
== Die Lage ==


Wer mit diesen Erwartungen sich den Einführungen und Lehrbüchern der Kriminologie nähert, wird eine große Enttäuschung erleben. Denn von alldem wird sie (oder er) nichts finden. Geschichte spielt für die Kriminologie im Kern so gut wie keine Rolle. Da, wo es der Kriminologie um Erkenntnisse über die Ursachen, Erscheinungsformen, den Umfang der Kriminalität und um die Reaktionen auf Kriminalität geht, befindet sich an dem Punkt, wo man jeweils "Geschichte" als Perspektive und Erkenntnismittel erwarten könnte, eine Leerstelle. Das befreiende Potential einer historischen Perspektive auf den Gegenstand der Kriminologie, also auf Kriminalität und Kontrolle, wird ebenso wenig genutzt wie dasjenige einer kritischen Fachgeschichte.  
Wer mit diesen Erwartungen sich den Einführungen und Lehrbüchern der Kriminologie nähert, wird eine große Enttäuschung erleben. Denn von alldem wird sie (oder er) nichts finden. Geschichte spielt für die Kriminologie im Kern so gut wie keine Rolle. Da, wo es der Kriminologie um Erkenntnisse über die Ursachen, Erscheinungsformen, den Umfang der Kriminalität und um die Reaktionen auf Kriminalität geht, befindet sich an dem Punkt, wo man jeweils "Geschichte" als Perspektive und Erkenntnismittel erwarten könnte, eine Leerstelle. Das befreiende Potential einer historischen Perspektive auf den Gegenstand der Kriminologie, also auf Kriminalität und Kontrolle, wird ebenso wenig genutzt wie dasjenige einer kritischen Fachgeschichte.  
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Wo Geschichte der Kriminalität und der Kontrolle überhaupt vorkommt, folgt sie dem schlichten Modell, alles, was bisher war, als wenig human und wenig effizient darzustellen und die Gegenwart vor diesem Hintergrund als besonders human und effizient und aufgeklärt zu bejubeln. Sie folgt also einer Leitidee, die Herbert Butterfield (1900-1979) einmal als The Whig Interpretation of History (1931) bezeichnet hat, also als eine Art der Historiographie, bei der die Vergangenheit als Fortschritt in Richtung auf immer größere Freiheit, Demokratie, Humanität und Rationalität präsentiert wird: "to produce a story which is the ratification if not the glorification of the present" (Butterfield 1931: ) Geschichte ist Fortschrittsgeschichte und nirgendwo ist dieser Fortschritt besser mit Händen zu greifen als in der Geschichte der Kriminalstrafen: von der Vierteilung zur Sozialtherapie und Wiedereingliederung. - Presenting criminological figures of the past as heroes, who advanced the cause of progress, or villains, who sought to hinder its inevitable triumph.
Wo Geschichte der Kriminalität und der Kontrolle überhaupt vorkommt, folgt sie dem schlichten Modell, alles, was bisher war, als wenig human und wenig effizient darzustellen und die Gegenwart vor diesem Hintergrund als besonders human und effizient und aufgeklärt zu bejubeln. Sie folgt also einer Leitidee, die Herbert Butterfield (1900-1979) einmal als The Whig Interpretation of History (1931) bezeichnet hat, also als eine Art der Historiographie, bei der die Vergangenheit als Fortschritt in Richtung auf immer größere Freiheit, Demokratie, Humanität und Rationalität präsentiert wird: "to produce a story which is the ratification if not the glorification of the present" (Butterfield 1931: ) Geschichte ist Fortschrittsgeschichte und nirgendwo ist dieser Fortschritt besser mit Händen zu greifen als in der Geschichte der Kriminalstrafen: von der Vierteilung zur Sozialtherapie und Wiedereingliederung. - Presenting criminological figures of the past as heroes, who advanced the cause of progress, or villains, who sought to hinder its inevitable triumph.


== Der heimliche Lehrplan der Kriminologie ==
== Ein Erklärungsversuch ==
In der Erziehungswissenschaft gab es einmal eine Zeit, in der man gerne vom "hidden curriculum", bzw. dem "heimlichen Lehrplan" sprach. Damit war die Entdeckung oder Erkenntnis gemeint, dass man in der Schule nicht nur das zu lernen pflegt, was im Lehrplan steht, sondern ...
 
 
Die Geschichte spielt für die Kriminologie, kurz und bündig gesagt, nicht wirklich eine Rolle - jedenfalls keine legitime und produktive Rolle in der Kriminologie als Erkenntnissystem. Woher aber kommt die Immunität der Kriminologie gegen die Geschichte?
Die Geschichte spielt für die Kriminologie, kurz und bündig gesagt, nicht wirklich eine Rolle - jedenfalls keine legitime und produktive Rolle in der Kriminologie als Erkenntnissystem. Woher aber kommt die Immunität der Kriminologie gegen die Geschichte?


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- vertieftes Verständnis, Abbau von simplen Vorstellungen über Rezepte zur Kriminalitätsbekämpfung (Lea)
- vertieftes Verständnis, Abbau von simplen Vorstellungen über Rezepte zur Kriminalitätsbekämpfung (Lea)


== Bilanz ==
== Bilanz ==
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Die Kriminologie ist eine der Gegenwart zugewandte Wissenschaft. Was zählt, sind die neuesten Erkenntnisse, gewonnen auf der Grundlage der neuesten amtlichen Kriminalstatistiken und der neuesten Dunkelfelduntersuchungen. Was etwas älter ist, ist veraltet. Die Feststellung, dass die Thesen eines Kollegen auf "alten, inzwischen doch längst durch neue Untersuchungen überholten Daten" beruhten, ist ein sehr gravierender Vorwurf. Ein Kriminologe, der sich mehr als nur am Rande mit der Geschichte der Kriminologie befasst, führt eher eine Nischenexistenz, vielleicht auch deshalb, weil er im eigentlichen Kerngeschäft nicht mithalten will oder kann.
Die Kriminologie ist eine der Gegenwart zugewandte Wissenschaft. Was zählt, sind die neuesten Erkenntnisse, gewonnen auf der Grundlage der neuesten amtlichen Kriminalstatistiken und der neuesten Dunkelfelduntersuchungen. Was etwas älter ist, ist veraltet. Die Feststellung, dass die Thesen eines Kollegen auf "alten, inzwischen doch längst durch neue Untersuchungen überholten Daten" beruhten, ist ein sehr gravierender Vorwurf. Ein Kriminologe, der sich mehr als nur am Rande mit der Geschichte der Kriminologie befasst, führt eher eine Nischenexistenz, vielleicht auch deshalb, weil er im eigentlichen Kerngeschäft nicht mithalten will oder kann.
Das Verhältnis von Geschichte und Kriminologie lässt sich in größter Skizzenhaftigkeit als Kurzgeschichte in zwei Teilen erzählen. Im ersten Teil haben beide nichts miteinander zu tun. Ihr Verhältnis ist ein Nicht-Verhältnis. Im zweiten Teil kommt es dank der Initiative der Geschichtswissenschaft zu einer gewissen Annäherung. Das Happy End bleibt aber aus. Jedenfalls die Kriminologie bleibt von dem Rendezvous, das der Geschichtswissenschaft viel gebracht zu haben scheint, letztlich unbeeindruckt. Der harte Kern der Kriminologie bleibt wie er ist: Man macht so weiter wie bisher. Das heißt: in den Lehrbüchern der Kriminologie dienen stereotype Darstellungen der "Geschichte der Kriminologie" als nützliches Ornament - nützlich zur Affirmation des Wissenschafts-Status und zur Affirmation von Hegemonialansprüchen als Leitdisziplin für den gesamten kriminologischen Diskurs. In der Theorie hinterlässt die Geschichte keine aufklärende Wirkung. Dort ist es, als hätte es die jüngste Blüte der historischen Kriminologie nie gegeben.
Wir haben gesehen: Geschichte und Kriminologie haben sich in den letzten Jahren angenähert. Und dennoch sind sie noch lange nicht das Traumpaar, das sie darstellen könnten. Für eine solche Feststellung bedarf es natürlich einer gewissen Vorstellung darüber, wann sie denn ein solches Traumpaar wären und wie man das erkennen könnte. Dafür müssen wir neben unserem Realitäts- auch unseren Möglichkeitssinn aktivieren, jene von Robert Musil beschriebene Fähigkeit, das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist - und angesichts des So-Seins der Verhältnisse immer zugleich auch zu denken: ''Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein''. Vor allem: dass es besser sein könnte.


== Zitate ==
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