Gerechtigkeit

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Der Begriff der Gerechtigkeit (gr.: dikaiosýne, lat.: iustitia, engl./frz. justice) bezeichnet einen angemessenen Ausgleich von Interessen beziehungsweise die angemessene Verteilung von Gütern oder Chancen zwischen beteiligten Personen, Gruppen oder innerhalb eines Gesellschaftsverbands. Gerechtigkeit ist in der Ethik, in der Rechts- und Sozialphilosophie sowie in der Moraltheologie ein zentrales Thema bei der Suche nach moralischen Maßstäben. Ein Charakteristikum von Gerechtigkeit ist, dass sie stets in Bezug auf andere gedacht wird (Intersubjektivität). Sie gehört zu den Grundnormen menschlichen Zusammenlebens und gilt als Grundprinzip für die Rechtsprechung und die Gesetzgebung. Ihr Gegensatz ist die Ungerechtigkeit. Willkür ist einer der Hauptgründe für Ungerechtigkeit. Empfundene Ungerechtigkeit ist ein wesentliches Motiv für die Forderung, Gerechtigkeit herzustellen.

Kulturen- und epochenübergreifend als Menschheitsideal wirksam, stellt Gerechtigkeit – in unterschiedlicher Auslegung – einen universellen Bezugspunkt des politischen Denkens dar. Globalisierung, weltwirtschaftliche Probleme, Klimawandel und demographische Entwicklungen haben dazu beigetragen, dass neben Fragen innerstaatlicher sozialer Gerechtigkeit auch die nach Generationengerechtigkeit oder einer gerechten Weltordnung in den Vordergrund rücken.

Gerechtigkeit gehört zu den Kardinaltugenden, umfasst jedoch nicht notwendig gute Taten und andere Handlungen von Wohltätigkeit und Barmherzigkeit, die freiwillig und ohne moralische Verpflichtung erbracht werden (Altruismus, supererogatorische Tugenden, die über das ethisch Gebotene hinaus gehen, wie Dankbarkeit oder Karitas). Diese sind zwar erwünscht, können aber nicht wie Gerechtigkeit eingefordert werden.

Die Darstellung der „Gerechtigkeit“ im westlichen Kulturkreis ist die urteilende Justitia, mit Waage (abwägend), Schwert (strafend) und einer Binde vor den Augen (ohne Ansehen der Person).

Zum Begriff Gerechtigkeit

Im Althochdeutschen ist das Adjektiv „gireht“ erstmals im 8. Jahrhundert nachzuweisen. Es bedeutete „gerade“, „richtig“ „passend“ (stärkere Form von „reht“), beim mittelhochdeutschen „gereht“ kommt die abstraktere Bedeutung „dem Rechtsgefühl entsprechend“ hinzu, wie bereits zuvor im Gotischen „garaiths“.[1] Später steht „gerecht“ auch für „gradlinig“ „angemessen“ und „gemäß“.

Der abstrakte Wert „Gerechtigkeit“ umfasst als Prinzip zur vernunftgemäßen Gestaltung des „guten Zusammenlebens bei Konflikten“

  • menschliche Handlungen und deren Ergebnisse (gerechter Lohn, gerechte Stellenbesetzung),
  • Urteile über Handlungen (vor Gericht, im Sport, in der Erziehung),
  • soziale Regeln (Handlungsnormen, Gesetze, Verfahrensweisen),
  • Einstellungen (Gerechtigkeit als menschliche Tugend) sowie
  • bestehende Beziehungen zwischen Personen oder in der Gesellschaft (gerechte Verhältnisse).

Gelegentlich werden Institutionen oder sogar Emotionen (gerechter Zorn) als gerecht bezeichnet.

Ungerechtigkeit ist eine Verletzung der Gerechtigkeit. Zur Ungerechtigkeit gehört auch die Unterlassung einer pflichtgemäßen Handlung.

Gerechtigkeit ist ein normativer, mit einem Sollen verbundener Begriff, der im Verhältnis der Menschen untereinander eine intersubjektive Gültigkeit beansprucht. Damit ist die Aufforderung verbunden, ungerechte Zustände in gerechte umzuwandeln. Wer gerecht sein will, hat die Pflicht gegenüber sich selbst, aber auch in der Erwartung der Anderen, entsprechend zu handeln. Wenn man Gerechtigkeit als Gebot der Sittlichkeit anerkennt, trägt man einen Teil der Verantwortung dafür, dass gerechte Verhältnisse hergestellt werden. Die Zuschreibung von Verantwortung (Verantwortungsethik) bedeutet, dass das Streben nach Gerechtigkeit von Handlungsfreiheit ausgeht. Für ungerechtes Handeln kann der Einzelne auf dieser Grundlage verantwortlich gemacht und von den Betroffenen oder der Gesellschaft zur Rechenschaft gezogen werden.

Unter formaler Gerechtigkeit versteht man ein allgemeines Regelungsprinzip, das eine Vorgehensweise bestimmt, nach der alle gleich gelagerten Fälle gleich zu behandeln sind. Formale Prinzipien der Gerechtigkeit sind Gleichheit, Angemessenheit und Unparteilichkeit. Unterschiede in der Behandlung von Personen oder Sachverhalten bedürfen folglich der Begründung.

Materielle (auch: materiale) Gerechtigkeit hingegen stellt einen inhaltlichen Bezug zu einem konkreten Sachverhalt her. Wenn bei einer Person X ein bestimmtes Merkmal Y vorliegt, dann soll daraus Z folgen: Landarbeiter sollten mehr zu essen bekommen als Büroangestellte – weil körperliche Arbeit einen höheren Kalorienbedarf erzeugt.

Materielle Gerechtigkeit setzt formale Gerechtigkeit voraus, schließt aber die Berücksichtigung situationsbedingter Voraussetzungen ein und wird wesentlich unter zwei Gesichtspunkten diskutiert:

  • Wie sind Verhältnisse beschaffen, die dem Ideal der Gerechtigkeit entsprechen?
  • Welche Korrekturen sind geeignet, Gerechtigkeitslücken zu schließen oder ungerechten Zuständen abzuhelfen?

Formale Gerechtigkeit ist kulturell und historisch neutral bestimmbar. Materielle Gerechtigkeit indes ist, wie andere Wertinhalte auch, in der Geschichte unterschiedlich aufgefasst worden und wird auch in der Gegenwart je nach Kulturkreis verschieden interpretiert. Ein klassisches historisches Beispiel ist die Sklaverei. In der Gegenwart gibt es beispielsweise noch sehr unterschiedliche Auffassungen im Hinblick auf die Gleichstellung der Frauen – in manchen Kulturkreisen auch formalrechtlich, in modernen demokratischen Gesellschaften nicht selten informell.

Auf die Gefahr, dass ob der Allgegenwart der Kategorie Gerechtigkeit in allen Religionen, Philosophien und Weltanschauungen schließlich nur mehr eine Wortfassade übrig bleibt, hat Ernst Topitsch hingewiesen. Er postulierte „die Tatsache, dass bestimmte sprachliche Formeln durch die Jahrhunderte als belangvolle Einsichten oder sogar als fundamentale Prinzipien des Seins, Erkennens und Wertens anerkannt wurden und es heute noch werden - ... gerade weil und insofern sie keinen, oder keinen näher angebbaren Sach- oder Normengehalt besitzen.[2] Zu einer ähnlichen Einschätzung aus der Sicht des Rechtspositivismus kam auch Hans KelsenDie Bestimmung der absoluten Werte im allgemeinen und die Definition der Gerechtigkeit im besonderen, die auf diesem Wege erzielt werden, erweisen sich als völlig leere Formeln, durch die jede beliebige gesellschaftliche Ordnung als gerecht gerechtfertigt werden kann.[3]

Im Deutschen Rechts-Lexikon wird Gerechtigkeit als das zeitlos gültige Maß richtigen Verhaltens bezeichnet. Fraglich sei jedoch, ob der Grundsatz der Gerechtigkeit überhaubt einen sachlichen Gehalt habe.[4]

Zum Ursprung von Gerechtigkeit

Gerechtigkeit als nackte Frau mit Schwert und Waage. Lucas Cranach d.Ä., 1537

Gerechtigkeit als Prinzip einer ausgleichenden Ordnung in einer Gesellschaft findet sich in allen Kulturen und ist historisch sehr weit zurückzuverfolgen. Ursprünglich wurde Gerechtigkeit als das Einhalten von sozialen Normen und Gesetzen aufgefasst. Dabei betrachtete man die gesellschaftliche Ordnung als Naturprinzip (Naturrecht) oder als Setzung transzendenter Mächte, wie beispielsweise einer Gottheit, die als personifizierte Gerechtigkeit angesehen wurde oder der diese Eigenschaft zumindest als wesentlich zugesprochen wurde. Gerecht zu sein hieß somit, die Gebote Gottes beziehungsweise der Götter zu erfüllen.

Die Bezeichnung „gerecht“ bedeutete rechtschaffen oder weise, so in der ägyptischen Ma’at-Lehre oder dem alt-israelischen Begriff der Sädäq (Gemeinschaftstreue).[5] Ähnlich weit gefasst ist auch das „Yi“ (Rechtschaffenheit), eine der vier Säulen des Lunyu im Konfuzianismus, das eine Haltung fordert, die man vor sich selbst rechtfertigen kann. Gerechtigkeit wurde in diesen traditionellen Lehren vor allem als personale Gerechtigkeit, als Eigenschaft und Tugend eines Menschen innerhalb des Herrschaftsgefüges verstanden, die zur Aufrechterhaltung der vorgegebenen Ordnung beitragen sollte.

In der Philosophie der Antike finden sich die ersten systematischen Betrachtungen über die Gerechtigkeit bei Platon und Aristoteles. Vor allem Aristoteles traf die Unterscheidung zwischen personaler und gesellschaftlicher Gerechtigkeit als Bürgertugend. Diese Auffassung der personalen Gerechtigkeit war bis ins Mittelalter vorherrschend. Erst mit Beginn der Neuzeit finden sich ausgearbeitete Konzepte, Gerechtigkeit als Vertragsbeziehung zwischen Menschen zur Lösung von Konflikten zu bestimmen, so in den Vorstellungen vom Gesellschaftsvertrag Mitte des 17. Jahrhunderts bei Thomas Hobbes oder ungefähr ein Jahrhundert später im Zeitalter der Aufklärung bei Jean-Jacques Rousseau. Recht wurde nun nicht mehr nur als Ausdruck einer göttlichen Ordnung aufgefasst. Gerechtigkeit erhielt die Bedeutung einer Institution zum Ausgleich unterschiedlicher Interessen. Entsprechend wurde die Bestimmung als personale Gerechtigkeit von der Sicht einer institutionellen Gerechtigkeit, der iustitia legalis, verdrängt.

  1. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Auflage, Berlin, New York 2002, S. 348
  2. Ernst Topitsch: Über Leerformeln - Zur Pragmatik des Sprachgebrauchs in der Philosophie und politischen Theorie; in: Topitsch,E. (Hrsg.): Probleme der Wissenschaftstheorie; Springer Verlag, Wien 1960, 233-264
  3. Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?; Manzsche Verlagsbuchhandlung, Wien 1975, 18
  4. Tilich (Hg.), Deutsches Rechts-Lexikon, Band 2, Stichwort „Gerechtigkeit“, C. H. Beck 1992, 3. Aufl. 2001, ISBN 3-406-36962-6
  5. Otfried Höffe, Gerechtigkeit, 16