Funktion der Strafe: Unterschied zwischen den Versionen

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== Wohin geht die Reise? ==
== Wohin geht die Reise? ==


Eine andere Frage ist die, wohin die Reise in historischer Perspektive wohl gehen mag. Dafür urück zur Vergeltung oder weiter wie bisher? Jenseits von Strafe und Vergeltung. Weg vom Obrigkeitsstaat ..===
Eine andere Frage ist die, wohin die Reise in historischer Perspektive wohl gehen mag: die Vergangenheit war gekennzeichnet durch die Strafe ohne Behandlung; die Gegenwart ist gekennzeichnet durch die Behandlung im Strafkontext; ist eine Zukunft denkbar, in der die Behandlung an die Stelle der Strafe treten und sie ganz und gar verdrängen wird? Oder wäre eine Befreiung der Behandlung aus der Triade möglich? Indem zum Beispiel die Rolle des strafenden Staates durch die des schlichtenden Staates oder eines nicht-staatlichen Dritten ohne Strafbedürfnisse ersetzt wird?  


Das führt zurück zum Beginn: zur Funktion der Strafe. Wir hatten konstatiert, dass die Strafe dazu da ist, die durch die Straftat desavouierte Norm wieder in ihr Recht einzusetzen, indem man den Täter seine Tat büßen lässt. Sinn der Sache: der Täter muss für alle sichtbar dem Recht, über das er sich zum Herrn aufgeschwungen, das er für sich für unmaßgeblich erklärt hatte, unterworfen werden. Diese Unterwerfung erfolgt durch den Souverän, den Staat. Auch der Staat kämpft in der Strafjustiz um sein Ansehen. Er schützt das Recht vor jenen, die es (und damit ihn) für unbeachtlich erklärt haben, indem sie das Gesetz brachen.


Es ist schwer vorstellbar, wie auf die Funktion der Normerhaltung verzichtet werden sollte. Eine Gesellschaft, die ihre Normen nicht beschützt, wird als Gesellschaft nicht lange existieren können, sie würde in Anomie versinken. Denkbar sind jedoch Methoden, die Funktion der Normsicherung anders zu erfüllen als mittels der Bestrafung des Täters. Man könnte den Täter vielleicht ja auch ganz ohne Bestrafung durchaus mit einbeziehen in die Bekräftigung der Normgeltung. Hieraus ergibt sich als vierte These: Der historische Wandel lief bisher von der Strafe ohne Behandlung zur Strafe plus Behandlung. Er könnte zur Behandlung ohne Strafe weitergehen, wenn es gelänge, die Funktion, die die Strafe erfüllt - nämlich die desavouierte Norm zu heilen und ihren Geltungsanspruch wiederherzustellen - auch auf andere Weise zu erfüllen.


Nehmen wir das naheliegende Beispiel des Transports von Personen über den Atlantik. Das war für eine lange Zeit eine Funktion von Segelschiffen, dann von Dampfschiffen. Ein solches Dampfschiff ging heute vor 100 Jahren und drei Tagen in den Fluten des Nordatlantik, südöstlich von Neufundland, unter. Sein Name war Titanic. Es dauerte noch einige Jahrzehnte, bis die Funktion, die seinerzeit die Dampfschiffe erfüllten - eben der Transport von Personen über den Atlantik - von anderen Verkehrsmitteln erfüllt wurde und bis die Ozeandampfer in ihrer Funktion als Linienverkehrs-Schiffe ausgedient hatten. Heute wird der fahrplanmäßige Personenfernverkehr über den Atlantik nicht mehr von Schiffen erledigt, sondern von Flugzeugen. Auch da kommt es gelegentlich zu Verkehrsunfällen. Aber die sind dann anderer Art - und sie sind, was das wichtigste ist, sehr viel seltener.


psychotherapeutische seines Geltungsanspruchs muss leiden, der das Recht beschädigt. Deswegen muss, um die desavouierte Norm wieder in ihr Recht einzusetzen, der Täter seine Tat büßen - er muss für alle sichtbar dem Recht, über das er sich zum Herrn aufgeschwungen, das er für sich für unmaßgeblich erklärt hatte, unterworfen werden. Dieser Unterwerfung erfolgt durch den Souverän, den Staat. Auch der Staat kämpft in der Strafjustiz um sein Ansehen. Er schützt das Recht vor jenen, die es (und damit ihn) für unmaßgeblich erklären, indem sie sich über den Rechtsbefehl hinwegsetzen.
== Historischer Fortschritt ==
Dass wir uns heute mit dem Konflikten zwischen Behandlungs- und Bestrafungsimperativen überhaupt auseinanderzusetzen haben, ist allerdings aus historischer Perspektive sicherlich auch als ein großer Fortschritt zu feiern, für den wir dankbar sein sollten. Als Fortschritt viell
Aber wenn ich an Behandlung und Strafe denke, dann fällt mir doch noch etwas ein. Ein Grund zur Dankbarkeit nämlich. Das hat mit der historischen Perspektive und dem historischen Ort zu tun, an dem wir uns hier befinden.
Ich meine jetzt nicht den historischen Ort Europa und die Tatsache, dass heute vor 100 Jahren und drei Tagen die Titanic unterging, der unsinkbare Ozeandampfer, der einen Eisberg rammte und rund 1500 Menschen mit in den Tod riss - und damit in der Gestalt eines Unglücks das vorwegnahm, was mit Europa selbst passieren sollte, das in den Folgejahren seinen phänomenal verblüffenden und extrem beschleunigten Weg in den Abgrund nehmen sollte, zwei Weltkriege, gigantische Massenmorde, 50 Millionen grausam Getötete ... - obwohl auch dieses Ereignis in einen Zusammenhang mit dem Thema Behandlung und Strafe gestellt werden könnte .... war doch der Untergang der Titanic auch ein Gleichnis für die Blindheit einer Gesellschaft, die sich und ihren Entwicklungsweg für den einzig wahren und zielführenden hielt und die an ihrer mangelnden Reflexionsfähigkeit und mangelnden Achtsamkeit in den Militarismus, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg und damit ethisch, moralisch und weltgeschichtlich in den Niedergang taumelte. Die europäische Gesellschaft hielt sich für so unverletzlich wie die Titanic-Eigner ihr Schiff für unsinkbar hielten.


Doch was ich meine, ist ein anderes Ereignis, das sich ebenfalls vor rund 100 Jahren, am 6. September 1912, unweit von hier in Wien, nämlich im prächtigsten Saal der prunkvollen Hofbibliothek begab. Ein Mann namens Moritz Liepmann. Liepmann, seinerzeit Professor für Strafrecht, Strafprozess und internationales Recht in Kiel und nebenberuflich auch Dozent an der Marineakademie, äußerte sich vor den Teilnehmern des 31. deutschen Juristentages, der hier in Wien zusammengekommen war, zur Frage der Todesstrafe. Seine Wortmeldung erregte Aufsehen. Sie bestand aus einem flammenden Plädoyer für die Abschaffung der Todesstrafe: das sei machbar, das sei notwendig und das sei ein zivilisatorischer Fortschritt, meinte Liepmann - und alle Bedenken, dass die Kriminalität außer Kontrolle geraten könne, seien unbegründet.
Doch was ich meine, ist ein anderes Ereignis, das sich ebenfalls vor rund 100 Jahren, am 6. September 1912, unweit von hier in Wien, nämlich im prächtigsten Saal der prunkvollen Hofbibliothek begab. Ein Mann namens Moritz Liepmann. Liepmann, seinerzeit Professor für Strafrecht, Strafprozess und internationales Recht in Kiel und nebenberuflich auch Dozent an der Marineakademie, äußerte sich vor den Teilnehmern des 31. deutschen Juristentages, der hier in Wien zusammengekommen war, zur Frage der Todesstrafe. Seine Wortmeldung erregte Aufsehen. Sie bestand aus einem flammenden Plädoyer für die Abschaffung der Todesstrafe: das sei machbar, das sei notwendig und das sei ein zivilisatorischer Fortschritt, meinte Liepmann - und alle Bedenken, dass die Kriminalität außer Kontrolle geraten könne, seien unbegründet.
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