Funktion der Strafe: Unterschied zwischen den Versionen

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Der Glaube an die Notwendigkeit und Unersetzlichkeit der Strafe als einer fundamentalen gesellschaftlichen Institution bleibt - wie jeder Glaube - nicht folgenlos. Wenn ich zum Beispiel als Behandler im Strafvollzug nicht?  
Der Glaube an die Notwendigkeit und Unersetzlichkeit der Strafe als einer fundamentalen gesellschaftlichen Institution bleibt - wie jeder Glaube - nicht folgenlos. Wenn ich zum Beispiel als Behandler im Strafvollzug nicht?  


Insofern ist zum Thema [[Behandeln im Strafkontext]], bzw.  auf den ersten Blick gar nicht viel zu sagen. Außer vielleicht, dass wir froh sein können, dass wir - da die Strafe nun einmal sein muss (nicht zuletzt, weil sie seit unvordenklichen Zeiten tief im Alltag unserer Hoch- und Populärkultur, in Dichtung und Filmen, im Recht und im Gerechtigkeitsbewusstsein der Bevölkerung verankert ist) - uns immerhin in einer Phase der Zivilisation befinden, in der man nicht einfach pur und simpel durch das An- oder Abschneiden von Körperteilen zu strafen pflegt, sondern das Übel der Strafe so human wie möglich zufügt, die Verurteilten nicht ihres Lebens, sondern allenfalls ihrer Bewegungsfreiheit beraubt und vielleicht nicht alles und nicht einmal genügend, aber doch sehr vieles mit sehr großem Engagement tut, um die vom rechten Wege abgekommenen Mitbürger wieder auf den richtigen Weg zu bringen und damit ihnen und ihrer sozialen Umwelt letztlich doch einen großen Dienst zu erweisen.


In Dankbarkeit und Genugtuung können wir heute auf ein Jahrhundert des Fortschritts zurückblicken. Noch 1912 - vor genau 100 Jahren - gab es noch die Todesstrafe und wenn von der Funktion der Strafe die Rede war, dann war das Paradebeispiel die Todesstrafe. Mit der Frage, ob die Gesellschaft es sich leisten können, auf diese Strafe zu verzichten, setzten sich damals die hervorragendsten Geister überaus konfliktreich auseinander. Unvergessen ist das flammende Plädoyer des Kriminologen Moritz Liepmann zur Abschaffung der Todesstrafe im Jahre 1912 - hier in Wien. Es war der prächtigste Saal der Hofbibliothek, wo Liepmann am Freitag, den 6. September 1912, einen ersten mutigen Versuch machte, die einflussreiche deutschen Juristenschaft zu einer Resolution zur Abschaffung der Todesstrafe im Deutschen Reich zu bewegen - und wo er die Abstimmung verlor. zu sagen, denn auch wenn natürlich nie alle ganz zufrieden sind, wenn es nicht genügend Personal und für das Personal nicht genügend Wertschätzung, nicht genügend Gehalt und nicht genügend Supervision und Weiterbildungsanreize gibt, wenn es immer wieder Konflikte zwischen Behandlungs- und Sicherheitserfordernissen gibt, so ist doch im allgemeinen Bewußtsein im Grunde genommen an den heutigen Verhältnissen, so wie sie nun einmal sind, nicht allzu viel auszusetzen. Alles hat seinen Platz und seine Funktion. Dabei gibt es immer einige Reibungen und Konflikte, aber das muss eben auch sein. Und so gesehen lässt sich eine bessere Welt, die prinzipiell anders organisiert wäre, gar nicht vorstellen. Eine Gesellschaft ohne Strafe ist eine schöne, aber in der Realität eine gefährliche Utopie, auf die sich niemand gerne einließe, wenn sie denn vor der Tür stünde, und wenn schon gestraft werden muss, dann soll es so human, so gerecht, so menschlich und so gesellschaftlich nützlich sein wie nur eben möglich. Und das und nichts anderes ist doch, was wir heute haben.
Der Konsens über die Notwendigkeit der Strafe ist heute erreicht und er ist so stark und umfassend, so wenig von Selbstzweifeln angekränkelt, dass es eine Wucht ist. Frühere Streitigkeiten über den Sinn oder Unsinn der Strafe sind heute beigelegt. Juristen hatten lange Zeit den Schulenstreit, der mit großer Erbitterung über die Zwecke, den Sinn und die Rechtfertigungsmöglichkeit der Strafe geführt wurde. Heute ist er beigelegt. Man hat sich geeinigt. Man lässt alle Gründe gelten und addiert sie einfach. Die Strafe muss sein. Aus Gründen der Vergeltung von geschehenem Unrecht ebenso wie aus Gründen der Abschreckung, der Besserung und der Stärkung des allgemeinen Rechtsvertrauens und Rechtsbewußtseins. Es wird ja nicht nur die Kriminalität bekämpft, sondern es wird auch jemand zur Rechenschaft gezogen, damit das Unrecht auf den Straßen und Plätzen der Städte nicht triumphieren kann, damit die Bürger sich sicher fühlen, aber damit sie auch lernen, dass es so etwas wie Fairness in der Strafe gibt, Menschen- und Grundrechte, das Recht auf ein faires Verfahren und eine Strafe, die für den Bestraften nicht das Ende der Existenz bedeutet. Mit anderen Worten: die Strafe erfüllt viele Funktionen und die meisten davon haben mehr mit Menschenrechten und menschlicher Würde zu tun als mit alttestamentarischem Vergeltungseifer. Auch wenn der nicht ganz verdrängt ist und wohl auch nicht ganz verdrängt werden kann.
In die früher hitzig geführten Diskussionen um die Funktion der Strafe ist damit eine gewisse Beruhigung, man kann auch sagen: eine merkliche Zufriedenheit und Abgeklärtheit eingekehrt. Man hat sich mit dem Gedanken abgefunden, dass die Strafe nichts von Natur aus Schönes, sondern ein Übel ist - aber eben ein notwendiges Übel, so wie das Bohren des Zahnarztes, wenn sich die Karies eingenistet hat. Oder wie der Schnitt des Chirurgen, wenn der Blinddarm raus muss. Es gibt Zufügungen von Schmerz und Leid, die nun einmal alternativlos sind. Und als so eine leider erforderliche und letztlich zu einem guten und notwendigen Zweck erfolgende Zufügung von Leid gilt heute auch und besonders in sogenannten Fachkreisen die Strafe. Die Redewendung vom notwendigen Übel scheint ihr auf den Leib geschneidert.
Den reifsten Ausdruck findet diese Haltung - die auch ein wenig die behagliche Selbstgerechtigkeit des Biedermeier-Ambientes atmet - in einem Buch, das die Aufgaben und die Funktion der Strafe aus der Sicht eines kritischen Rechtsphilosophen und ehemaligen Verfassungsrichters für ein breites Laienpublikum darstellt. Der Autor Winfried Hassemer schreibt in seinem Buch "Warum Strafe sein muss" (2009) ...
Diesen Gründen könnte man sogar noch mehr hinzufügen. Nicht nur die Säuberung der Innenstädte von allerlei gemeinlästigen und häufig delinquent werdenden dissozialen oder gar antisozialen Individuen, die Abschreckung der unteren Bevölkerungsschichten vor allen Verführungen illegalen Erwerbs durch Stehlen, Hehlen und Rauben, sondern sogar die inzwischen empirisch neurophysiologisch nachgewiesene Tatsache, dass es einen starken Trieb zum Strafen, ein wahres Strafbedürfnis im menschlichen Gehirn gibt. ... altruistisches Strafen ... Arbeiten über ihre Funktion gibt es zuhauf In jüngster Zeit: [[Altruistisches Strafen]]. Gut für die Gruppenkohäsion. Gut für die Evolution. Und eine Quelle des Vergnügens: Nuclus Caudatus. Bestrafen als positives Erlebnis. Es gibt so etwas wie "altruistisches Bestrafen" (Fehr 2004), d.h. das Verlangen, andere Menschen für ihre Normabweichungen zu bestrafen - und zwar auch dann, wenn man selbst dadurch weder einen materiellen noch einen Statusgewinn erzielen kann und sogar etwas dafür investieren muss, ohne etwas zurück zu bekommen. Die Psychologie handelt das Thema unter dem Begriff "starke Reziprozität" ab. Stark reziprok orientierte Individuen bestrafen und belohnen, selbst wenn das etwas kostet und keine individuellen Vorteile mit sich bringt. Sie tun es sozusagen "aus Prinzip" und ohne Erwartung einer Belohnung für sich selbst - außer, natürlich, der Tatsache, dass es sie befriedigt, sich so zu verhalten, wie sie es nun einmal für richtig halten. Stark reziprok orientierte Individuen betreiben mit anderen Worten scheinbar irrational einen gewissen Aufwand, um andere für die Verletzung sozialer Normen zu bestrafen oder für deren Einhaltung zu belohnen. -Das "altruistische Bestrafen" dieser Art (= Neigung zur Bestrafung von Personen, die soziale Normen verletzen, ohne dass man damit einen Vorteil für sich selbst verbindet) kann verwandt sein mit dem Konzept der strafenden Gesellschaft bzw. des Bestrafungsbedürfnisses (Strafbedürfnisses) der Gesellschaft. Die neuronale Basis altruistischen Bestrafens (DeQuervain, Fischbacher u.a.). Wenn eine Person A eine Person B, die eine Fairnessregel verletzt hat, nicht bestrafen kann, ist sie frustriert. Wenn die Person die Verletzung der Regel hingegen bestrafen kann, wird ein Belohungsareal im Gehirn, nämlich der Nucleus Caudate, aktiviert, der auch auf Geld, Bilder von Schönen und Geliebten, aber auch auf Kokain-Konsum, anspricht (je stärker die Caudate-Aktivierung, desto mehr bestraft ein Individuum). Die Bestrafung ist dann altruistisch im biologischen Sinne, aber nicht im psychologischen, da psychologisch ja eine Befriedigung vorliegt. --*Seltener schon über ihre Grenzen (Präventivwirkung des Nichtwissens, Popitz). Infragestellungen in Krisenzeiten. KdstV ... oder über ihre negativen Eigenschaften oder Folgen ... obwohl sie doch eigentlich nichts inhärent Gutes ist, sondern ein Malum (Augustinus: patitur) ... allenfalls ein notwendiges Übel ... . *Womit hat dieses Ungleichgewicht im Diskurs über die Strafe zu tun? Die Hauptakteure des Diskurses sind nicht unbefangen, sondern haben die Strafe theoretisch zu rechtfertigen, nicht objektiv zu evaluieren Davon hat sich der Strafrechtsdiskurs bis heute nicht freimachen können, obwohl im seit 1882 die Hausaufgabe gegeben worden ist, das zu ändern.
Der Glaube an die Notwendigkeit und Unersetzlichkeit der Strafe als einer fundamentalen gesellschaftlichen Institution bleibt - wie jeder Glaube - nicht folgenlos. Wenn ich zum Beispiel als Behandler im Strafvollzug nicht an die Notwendigkeit der Strafe glaubte, dann würde ich vielleicht mehr unter den Restriktionen leiden, die sich für mich und für meine Klienten aus der Tatsache der Gefangenschaft und den Erfordernissen der Sicherheits ergeben. Ich würde vielleicht vieles für unzumutbar halten und im Interesse der Qualität meiner Arbeit gegen alle möglichen Missstände vorgehen. Und wenn ich vor lauter Konflikten krank würde ,dann würde ich mich mit Leidensgenossen zusammen schließen und etwas dagegen tun. Wenn ich hingegen glaube, dass die Strafe unabänderlich ist, dann wäre ich eher bereit, meine Krankheiten als individuellen Mangel anzusehen, sie auf meine mangelnde Belastbarkeit zu schieben oder auf die unglücklichen Konfigurationen im Einzelfall.  ... Gelassenheitsgebet .... Man versucht alles zu ertragen, weil man es für unabänderlich hält. Häufig und generell auftretende Konflikte und Leiden werden als massenhaft individuelle Phänomene individuell verarbeitet.
   
   


Der dritte Grund liegt darin, dass wir heute vielleicht vor einer ähnlichen Situation wie damals Liepmann stehen. Die Mehrheit ist zufrieden mit dem Status Quo und hält ihn für unsinkbar. Eine Minderheit will vielleicht die Freiheitsstrafe abschaffen, hält es für möglich und wünschenswert. Und hat vielleicht Belege. So wie es damals Belege dafür gab, dass die Todesstrafe verzichtbar war. Die nur die meisten Leute nicht hören wollten. Es gab Länder wie Sachsen, die die Todesstrafe bereits abgeschafft hatten - und wo es zu keiner Häufung von Tötungsdelikten gekommen war. Es gab Staaten, die ohne Todesstrafe auskamen - und allem Anschein nach recht gut.
 
Wie ist es heute? Gibt es vielleicht Beispiele dafür, dass es auch ohne Freiheitsstrafe gehen könnte?
 




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