Frank Tannenbaum: Unterschied zwischen den Versionen

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*[http://www.jstor.org/pss/2513030 Ross, Stanley R. (1970) Frank Tannenbaum (1893-1969) The Hispanic American Historical Review Vol. 50, No. 2 May, 1970: 345-348]  
*[http://www.jstor.org/pss/2513030 Ross, Stanley R. (1970) Frank Tannenbaum (1893-1969) The Hispanic American Historical Review Vol. 50, No. 2 May, 1970: 345-348]  
*[http://query.nytimes.com/gst/abstract.html?res=F40613FA3E5B17738DDDA00A94DB405B848DF1D3 Thompson, Charles Willis (NYT 29.03.1914) So-Called I.W.W. Raids Really Hatched By Schoolboys]
*[http://query.nytimes.com/gst/abstract.html?res=F40613FA3E5B17738DDDA00A94DB405B848DF1D3 Thompson, Charles Willis (NYT 29.03.1914) So-Called I.W.W. Raids Really Hatched By Schoolboys]
*Winn, Peter (2010) Frank Tannenbaum Reconsidered. International Labor and Working-Class History (2010), 77: 109-114 Cambridge University Press doi: 10.1017/S0147547909990275 [http://journals.cambridge.org/action/displayAbstract?fromPage=online&aid=7436416]
*[http://journals.cambridge.org/action/displayAbstract?fromPage=online&aid=7436416 Winn, Peter (2010) Frank Tannenbaum Reconsidered. International Labor and Working-Class History (2010), 77: 109-114 Cambridge University Press doi: 10.1017/S0147547909990275]
*[http://tpj.sagepub.com/content/91/2/177.short Yeager 2011 The Making of a Convict Criminologist]
*[http://tpj.sagepub.com/content/91/2/177.short Yeager 2011 The Making of a Convict Criminologist]



Version vom 5. Februar 2014, 14:42 Uhr

Der heute nur noch in Expertenkreisen bekannte einstige Anarchist und Strafgefangene Frank Tannenbaum (* 04.03.1893 in Brod, Österreich-Ungarn; heute Brody, Ukraine † 01.06.1969 in New York City) war einer der Pioniere einer symbolisch-interaktionistischen Kriminologie. Er studierte nach seiner Haftentlassung unter anderem bei John Dewey, einem Freund und Kollegen von George Herbert Mead - und vielleicht auch bei Mead selbst; jedenfalls kannte er dessen Werke und vor allem auch "The Psychology of Punitive Justice" - und entwickelte unter anderem auf dieser Basis sein zentrales kriminologisches Werk, "Crime and the Community" von 1938, in dem er seine Konzeption der „Dramatisierung des Bösen“ darstellte und auf der Basis des Symbolischen Interaktionismus zu ersten Formulierungen eines etikettierungstheoretischen Ansatzes gelangte. Unter anderem enthielt dieses Buch die prägnante Formulierung "The young delinquent becomes bad because he is defined as bad" (1938: 17). Während Howard S. Becker in seinen "Außenseitern" ausdrücklich auf Tannenbaum und Lemert aufbaut, erklärte Lemert (in: Laub 1979), weder er noch Becker seien sich, als sie ihre Theorien entwickelten, der Werke Tannenbaums bewusst gewesen. Dazu mag beigetragen haben, dass Tannenbaum seine kriminologischen Schriften in großem Abstand vor und nach seiner Rolle als Kriminologieprofessor publizierte. So wird er denn in der Gegenwart "eher als ein Vorläufer denn als eigentlicher Vertreter der kriminalsoziologischen Labeling-Perspektive eingestuft" (Lamnek 2001: 219). Überlebt haben aus seinem kriminologischen Werk die Formulierung "The criminal becomes bad because he is defined as bad" (Tannenbaum 1938: 17) und seine These, dass es gerade die Aufmerksamkeit des Justizsystems für die Jugenddelinquenz sei, die das Phänomen ungewollt verschärfe, da die "Dramatisierung des Bösen" (dramatization of evil) die Abweichler dazu bringe, sich selbst mit ihrer Rolle als Straftäter zu identifizieren.


Leben

Propaganda der Tat in New York

Der 1905 mit seinen Eltern und zwei jüngeren Geschwistern aus Ostgalizien eingewanderte Frank Tannenbaum zog bereits im Alter von 13 Jahren (nach einer ersten Zeit auf einer kleinen Farm in Massachussetts) zu Verwandten nach New York City, wo er u.a. als Kellner und Liftboy arbeitete. Parallel ging er in dem nach Francisco Ferrer benannten Ferrer Center (Modern School) zur Abendschule. Dort an der West 107th Street wurde er u.a. von Emma Goldman unterrichtet; er half auch bei der Herstellung der anarchistischen Zeitschrift Mother Earth und wurde bald ein führender Aktivist der militanten Gewerkschaft der sog. Wobblies. Er engagierte sich für die Beschränkung der täglichen Arbeitszeit auf acht Stunden und für die Einführung eines Mindestlohns (von drei Dollar am Tag).

Im besonders kalten Winter von 1913/14 hatte Tannenbaum eine neue Idee, wie man das Schicksal der Hungernden und Ausgebeuteten für die Öffentlichkeit zu einem Thema machen könnte. Den Anlass dazu hatte wohl der damalige US-Präsident Taft geliefert, als er bei einer Veranstaltung in der Cooper Union in Manhattan auf die Frage eines Arbeitslosen: "If I need a job and there aren't any - what do I do?" geantwortet hatte: "God knows - I don't."

Nun organisierte Tannenbaum sog. "sit-downs" von Arbeitslosen und Obdachlosen in Kirchen der Gutsituierten und forderten Unterkunft und Essen. So lange es sich um protestantische Kirchen handelte, verlief alles nach Plan. Mal wurde man abgewiesen, mal aber auch freundlich empfangen. So etwa in der Episcopal Church an der Lower Fifth Avenue. Die Zeitungen berichteten darüber, die Anliegen der Protestierer wurden zum öffentlichen Thema.

Am 4. März 1914 - Frank Tannenbaums 21. Geburtstag - ging es dann für die rund 200 Mitglieder von Tannenbaums "army of the unemployed" nicht mehr so glatt: erstmals hatte man sich mit der Sankt-Alphonsus-Kirche am West Broadway eine katholische Kirche ausgesucht. Die Bitte um Erlaubnis, für eine Nacht dort bleiben zu dürfen, wurde mit einem Ruf nach der Polizei beantwortet, die schließlich 189 Männer und eine Frau (Gussie Miller von der Ferrer School) festnahm. Als Anführer erhielt Tannenbaum von Richter John A.L. Campbell die Höchststrafe von einem Jahr Gefängnis und 500 $ Geldbuße auferlegt. Die Buße wurde von der Ferrer Association, der Fraye Arbeter Shtime und dem Labor Defense Committee bezahlt. Aber die Freiheitsstrafe verbüßte er nahezu vollständig im Gefängnis von Blackwell's (heute: Roosevelt) Island. Zu seiner Verurteilung erklärte er, dass die Gesellschaft bereit sei, nahezu jedes Delikt zu vergeben, außer das der Verkündung eines neuen Evangeliums: "That's my crime. I was going about telling people that the jobless must be housed and fed, and for that I got locked up." Wochenlange Massendemonstrationen in Manhattan (Union Square) mit Zehntausenden von Teilnehmern demonstrierten die Wirkung von Tannenbaums gewaltfreien Propagandaaktionen. In den Worten von Alexander Berkman hatten die Wobblie-Raids mehr zur Enttarnung religiöser Heuchelei beigetragen als Jahrzehnte der Aufklärungsarbeit durch Freidenker. Ein Gedicht von Adolph Wolff, das von manchen noch nach Jahrzehnten auswendig aufgesagt werden konnte, illustriert diese Wirkung:

"Degraded in the convict's stripes/He chafes behind the prison bars/And breathes the dungeon stench./Arrayed in sacerdotal garb/The priest is celebrating mass/Preaching to men the word of God./The potentate upon the bench/Wrapped in judiciary gown, he sits/A judge of fellow men./Yet would I rather be - /The dirt on the feet of a Tannenbaum/Than the soul/Of such a judge - of such a priest" (Avrich 2006: 2006 ff.).

Studium und Beruf

Der Bericht von Charles Willis Thompson in der New York Times über seine Gerichtsverhandlung führte zu einem Wendepunkt in seiner Biographie. Die äußerst wohlhabende New Yorker Philanthropin Grace H. Childs zeigte sich beeindruckt, nahm Kontakt zu ihm auf und trug entscheidend dazu bei, ihm seinen Wunsch nach einem Studium nach der Haftentlassung zu erfüllen. Sie kontaktierte E. Stagg Whitin vom National Committee on Prisons and Prison Labor und den Geschichtsprofessor Carlton Hayes von der Columbia University. Auch der prominente Sing-Sing-Gefängniswärter Thomas Mott Osborne spielte eine Rolle (vgl. Tannenbaum 1933). Nach einem Gespräch mit dem Dekan Frederick P. Keppel erhielt Tannenbaum ein bescheidenes Stipendium von den Childses und erwarb nach seinem Studium an der Columbia University (1921), wo er bei John Dewey studierte, einen PhD in Wirtschaftswissenschaften an der Brookings Institution in Washington, D.C. (1927). Sein erstes berufliches Engagement war die Beratung des mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas. Von 1932-1934 war er Professor für Kriminologie an der Cornell University. 1935 kehrte er als Professor für lateinamerikanische Geschichtean die Columbia University zurück.

Werk

Wall Shadows (1922)

Crime and the Community (1938/1951)

Im Gegensatz zu den Theorien seiner Zeit, die von einer Fehlanpassung devianter Individuen an die Normen der Gesellschaft ausgingen, nahm Tannenbaum die Gruppe in den Blick und erklärte: "The issue involved is not whether an individual is maladjusted to society, but the fact that his adjustment to a special group makes him maladjusted to the large society because the group he fits into is at war with society” (1938: 8).

Abschließend konstatiert Tannenbaum (1951: 474-478):

  • "We cannot seriously change the incidence of crime in American life without changing our police, our politics, our morals, our values" (474).
  • "One thing is clear, that what we do now is wrong, perhaps completely wrong. We have failed to reform the criminal" (474).
  • "The trouble lies perhaps in a wrong analysis of the problem itself and therefore in a wrong way of dealing with it. It is, I think, no exaggeration to say that our entire punitive and rehabilitative efforts have gone wrong because they mis-state4d their problem. The assumptions both of those who would reform and of those who would punish have been these:

(1) The the criminal is an individual and can be dealt with as an individual (...) If the criminal is to change the patgtern of his ways, then the group from whom he takes the content of meaning for his activities and from whom he expects and receives recognition must change its expectancies from him." (475) ....

Zitate

  • "The young delinquent becomes bad because he is defined as bad and because he is not believed if he is good."
  • "The boy, no different from the rest of his gang, suddenly becomes the center of a major drama ..." (wenn er erwischt wird, während seine Kollegen nicht erwischt werden).
  • "The process of making the criminal, therefore, is a process of tagging, defining, identifying, segregating, describing, emphasizing, making conscious and self-conscious; it becomes a way of stimulating, suggesting, emphasizing, and evoking the very traits that are complained of."
  • "The way out is through a refusal to dramatize the evil. The less said about it the better. The more said about something else, still better."
  • "No more self-defeating device could be discovered than the one society has developed in dealing with the criminal."

Publikationen von Frank Tannenbaum

Kriminologie

  • Wall shadows: a study in American prisons. New York: G.P. Putnam's sons, 1922. [1]
  • Osborne of Sing Sing. With an introduction by the Honorable Franklin D. Roosevelt. The University of North Carolina press in Chapel Hill 1933.
  • Crime and the Community. Boston u. New York: Ginn & Co. 1938 sowie: Columbia University Press, New York 1938 (und 1951).

Weitere Publikationen

  • The Mexican agrarian revolution, 1930
  • Darker phases of the South. G.P. Putnam's Sons in New York, London 1924.
  • Peace by Revolution: An Interpretation of Mexico. New York: Columbia University Press, 1933.
  • Slave and citizen. The negro in the Americas. Vintage books in New York 1946.
  • Mexiko, the Struggle for Peace and Bread, New York 1951 (dt. 1967).
  • A Philosophy of Labor. New York: Knopf 1951 (1964 eng. Ausg. u.d.T.: The true society. A philosophy of labor).
  • Eine Philosophie der Arbeit, Nürnberg 1954 (zuerst engl. 1951).
  • Ten Keys to Latin America, New York 1963.
  • Hg.: A Community of Scholars. New York: Frederick A. Praeger, 1965.

Publikationen über Frank Tannenbaum

  • Avrich, Paul (2006) The Modern School Movement, AK Press (204 f.).

Weblinks