Frank Tannenbaum: Unterschied zwischen den Versionen

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Im besonders kalten Winter von 1913/14, als US-Präsident Taft vor der Cooper Union in Manhattan auf die Frage eines Arbeitslosen, "If I need a job and there aren't any - what do I do?" seine berühmte Antwort gegeben hatte: "God knows - I don't", organisierte Tannenbaum sog. "sit-downs" von Arbeitslosen und Obdachlosen in Kirchen der Gutsituierten. Man drang in die Kirche ein - etwa in die Episcopal Church an der Lower Fifth Avenue - und verlangte nach Unterkunft und Essen. Tannenbaum kämpfte zusätzlich für den 8-Stunden-Tag und einen Mindest-Tageslohn von 3 $. Aufgrund einer an seinem 21. Geburtstag stattfindenden Besetzung der katholischen Sankt-Alphonsus-Kirche am West Broadway durch seine "army of unemployed" wurde Tannenbaum wenig später zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 500 $ verurteilt. Er verbüßte fast das ganze Jahr auf [http://de.wikipedia.org/wiki/Roosevelt_Island_%28New_York_City%29| Blackwell's (später: Welfare, heute: Roosevelt) Island].
Im besonders kalten Winter von 1913/14, als US-Präsident Taft vor der Cooper Union in Manhattan auf die Frage eines Arbeitslosen, "If I need a job and there aren't any - what do I do?" seine berühmte Antwort gegeben hatte: "God knows - I don't", organisierte Tannenbaum sog. "sit-downs" von Arbeitslosen und Obdachlosen in Kirchen der Gutsituierten. Man drang in die Kirche ein - etwa in die Episcopal Church an der Lower Fifth Avenue - und verlangte nach Unterkunft und Essen. Tannenbaum kämpfte zusätzlich für den 8-Stunden-Tag und einen Mindest-Tageslohn von 3 $. Aufgrund einer an seinem 21. Geburtstag stattfindenden Besetzung der katholischen Sankt-Alphonsus-Kirche am West Broadway durch seine "army of unemployed" wurde Tannenbaum wenig später zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 500 $ verurteilt. Er verbüßte fast das ganze Jahr auf [http://de.wikipedia.org/wiki/Roosevelt_Island_%28New_York_City%29| Blackwell's (später: Welfare, heute: Roosevelt) Island].


Sein in der Presse wiedergegebenes Auftreten vor Gericht beeindruckte die New Yorker Philanthropin Grace Childs, die zu ihm Kontakt aufnahm und entscheidend dazu beitrug, ihm seinen Wunsch nach einem Studium nach der Haftentlassung zu erfüllen. Sie kontaktierte E. Stagg Whitin vom National Committee on Prisons and Prison Labor und den Geschichtsprofessor Carlton Hayes von der Columbia University. Auch der Gefängniswärter Thomas Mott Osborne, spielte dabei eine Rolle (vgl. Tannenbaum 1933). Nach einem erfolgreich verlaufenen Aufnahmegespräch mit dem Dekan Frederick P. Keppel erhielt Tannenbaum ein bescheidenes Stipendium von den Childses und machte eine akademische Karriere, die ihn nach einem ersten Columbia-Abschluss (1921) an die Brookings Institution in Washington, D.C., (PhD in Wirtschaftswissenschaften 1927) und schließlich 1935 in der Rolle eines Professors wieder an die Columbia University zurückführte.  
Sein in der Presse wiedergegebenes Auftreten vor Gericht beeindruckte die New Yorker Philanthropin Grace H. Childs, die zu ihm Kontakt aufnahm und entscheidend dazu beitrug, ihm seinen Wunsch nach einem Studium nach der Haftentlassung zu erfüllen. Sie kontaktierte E. Stagg Whitin vom National Committee on Prisons and Prison Labor und den Geschichtsprofessor Carlton Hayes von der Columbia University. Auch der Gefängniswärter Thomas Mott Osborne, spielte dabei eine Rolle (vgl. Tannenbaum 1933). Nach einem erfolgreich verlaufenen Aufnahmegespräch mit dem Dekan Frederick P. Keppel erhielt Tannenbaum ein bescheidenes Stipendium von den Childses und machte eine akademische Karriere, die ihn nach einem ersten Columbia-Abschluss (1921) an die Brookings Institution in Washington, D.C., (PhD in Wirtschaftswissenschaften 1927) und schließlich 1935 in der Rolle eines Professors wieder an die Columbia University zurückführte.  


*Sein erstes berufliches Engagement war die Beratung des mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas.  
*Sein erstes berufliches Engagement war die Beratung des mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas.  

Version vom 28. November 2010, 18:49 Uhr

Der Kriminologe und Mexikanist Frank Tannenbaum (* 04.03.1893 in Brod, Österreich-Ungarn; heute Brody, Ukraine † 01.06.1969 in New York City) war in seiner Jugend Anarchist und begann sich aufgrund eigener Gefängniserfahrungen (1914/15) für den Strafvollzug und die negativen Folgen der Strafjustiz zu interessieren. Nach seiner Haft studierte er bei John Dewey. Als einer der ersten wandte er die Theorie des symbolischen Interaktionismus auf abweichendes Verhalten und Kriminalität an. 1922 erschien seine Studie über das amerikanische Gefängnissystem. 1932 wurde er Professor für Kriminologie an der Cornell University. Als 1938 sein kriminologisches Hauptwerk "Crime and the Community" erschien, hatte er der Kriminologie schon den Rücken gekehrt und war als Professor für Lateinamerikanische Geschichte an der Columbia University auf dem Weg, ein weltbekannter Experte sowohl für Mexiko als auch für die Geschichte der Sklaverei zu werden. Lehrbücher der Kriminologie erwähnen Tannenbaum mit einer gewissen Regelmäßigkeit als Vorläufer des Labeling Approach.

Leben

Die Familie Tannenbaum (Eltern, Frank und zwei jüngere Geschwister) war 1905 von Ostgalizien in die USA gekommen und lebte zunächst in der Nähe von Great Barrington auf einer kleinen Farm in Massachussetts, war aber zwei Jahre später schon bei Verwandten in New York untergekommen, arbeitete als Kellner und Liftboy und ging in der West 107th Street in Manhattan im anarchistischen Ferrer Center zur Abendschule, wo er u.a. Emma Goldman kennenlernte. Auch wurde er Mitglied der Wobblies, deren militante Aktionen damals für Unruhe und Repression in New York sorgten.

Im besonders kalten Winter von 1913/14, als US-Präsident Taft vor der Cooper Union in Manhattan auf die Frage eines Arbeitslosen, "If I need a job and there aren't any - what do I do?" seine berühmte Antwort gegeben hatte: "God knows - I don't", organisierte Tannenbaum sog. "sit-downs" von Arbeitslosen und Obdachlosen in Kirchen der Gutsituierten. Man drang in die Kirche ein - etwa in die Episcopal Church an der Lower Fifth Avenue - und verlangte nach Unterkunft und Essen. Tannenbaum kämpfte zusätzlich für den 8-Stunden-Tag und einen Mindest-Tageslohn von 3 $. Aufgrund einer an seinem 21. Geburtstag stattfindenden Besetzung der katholischen Sankt-Alphonsus-Kirche am West Broadway durch seine "army of unemployed" wurde Tannenbaum wenig später zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 500 $ verurteilt. Er verbüßte fast das ganze Jahr auf Blackwell's (später: Welfare, heute: Roosevelt) Island.

Sein in der Presse wiedergegebenes Auftreten vor Gericht beeindruckte die New Yorker Philanthropin Grace H. Childs, die zu ihm Kontakt aufnahm und entscheidend dazu beitrug, ihm seinen Wunsch nach einem Studium nach der Haftentlassung zu erfüllen. Sie kontaktierte E. Stagg Whitin vom National Committee on Prisons and Prison Labor und den Geschichtsprofessor Carlton Hayes von der Columbia University. Auch der Gefängniswärter Thomas Mott Osborne, spielte dabei eine Rolle (vgl. Tannenbaum 1933). Nach einem erfolgreich verlaufenen Aufnahmegespräch mit dem Dekan Frederick P. Keppel erhielt Tannenbaum ein bescheidenes Stipendium von den Childses und machte eine akademische Karriere, die ihn nach einem ersten Columbia-Abschluss (1921) an die Brookings Institution in Washington, D.C., (PhD in Wirtschaftswissenschaften 1927) und schließlich 1935 in der Rolle eines Professors wieder an die Columbia University zurückführte.

  • Sein erstes berufliches Engagement war die Beratung des mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas.
  • 1932 wurde Tannenbaum Professor für Kriminologie an der Cornell University (1935 dann Professor für lateinamerikanische Geschichte an der Columbia University).
  • 1938 erschien sein Werk "Crime and the Community", in dem er die Bedeutung der sozialen Reaktion auf Abweichung für die Verfestigung devianter Identität betonte.

Werk

Tannenbaum studierte unter anderem bei John Dewey, einem Freund und Kollegen von George Herbert Mead - und vielleicht auch bei Mead selbst; jedenfalls kannte er dessen Werke und vor allem auch "The Psychology of Punitive Justice" - und entwickelte unter anderem auf dieser Basis sein zentrales kriminologisches Werk, "Crime and the Community" von 1938, in dem er seine Konzeption der „Dramatisierung des Bösen“ darstellte und auf der Basis des Symbolischen Interaktionismus zu ersten Formulierungen eines etikettierungstheoretischen Ansatzes gelangte. Unter anderem enthielt dieses Buch die prägnante Formulierung "The young delinquent becomes bad because he is defined as bad".[1]

Im Gegensatz zu den Theorien seiner Zeit, die von einer Fehlanpassung devianter Individuen an die Normen der Gesellschaft ausgingen, nahm Tannenbaum die Gruppe in den Blick und erklärte: "The issue involved is not whether an individual is maladjusted to society, but the fact that his adjustment to a special group makes him maladjusted to the large society because the group he fits into is at war with society” (Tannenbaum, 1938: 8).

Während Howard S. Becker in seinen "Außenseitern" ausdrücklich auf Tannenbaum und Lemert aufbaut, erklärte Lemert (in: Laub 1979), dass weder Becker noch er selbst sich der Werke Tannenbaums bewußt gewesen seien, als sie ihre Theorien entwickelten. Insgesamt führt der Name Tannenbaum in der Kriminologie heute ein zu seiner theoretischen Bedeutung im Widerspruch stehendes Schattendasein. Praktisch das einzige, was von ihm übrig blieb, sind die Ausdrücke "dramatization of evil" und "the delinquent becomes bad because he is defined as bad".

Zitate

  • "The young delinquent becomes bad because he is defined as bad and because he is not believed if he is good."
  • "The boy, no different from the rest of his gang, suddenly becomes the center of a major drama ..." (wenn er erwischt wird, während seine Kollegen nicht erwischt werden).
  • "The process of making the criminal, therefore, is a process of tagging, defining, identifying, segregating, describing, emphasizing, making conscious and self-conscious; it becomes a way of stimulating, suggesting, emphasizing, and evoking the very traits that are complained of."
  • "The way out is through a refusal to dramatize the evil. The less said about it the better. The more said about something else, still better."
  • "No more self-defeating device could be discovered than the one society has developed in dealing with the criminal."

Publikationen von Frank Tannenbaum

  • Wall shadows: a study in American prisons. New York: G.P. Putnam's sons, 1922.
  • Darker phases of the South. G.P. Putnam's Sons in New York, London 1924.
  • Osborne of Sing Sing. With an introduction by the Honorable Franklin D. Roosevelt. The University of North Carolina press in Chapel Hill 1933.
  • Peace by Revolution: An Interpretation of Mexico. New York: Columbia University Press, 1933.
  • Crime and the Community. Boston u. New York: Ginn & Co. 1938 sowie: Columbia University Press, New York 1938.
  • Slave and citizen. The negro in the Americas. Vintage books in New York 1946.
  • Mexiko, the Struggle for Peace and Bread, New York 1951 (dt. 1967).
  • A Philosophy of Labor. New York: Knopf 1951 (1964 eng. Ausg. u.d.T.: The true society. A philosophy of labor).
  • Eine Philosophie der Arbeit, Nürnberg 1954 (zuerst engl. 1951).
  • Ten Keys to Latin America, New York 1963.
  • Hg.: A Community of Scholars. New York: Frederick A. Praeger, 1965.

Einzelnachweise

  • [1] Frank Tannenbaum (1938) Crime and the Community. Boston: Ginn and Co., 17.

Weblinks

  • Literatur von und über Frank Tannenbaum im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
  • Delpar, Helen (1988) Frank Tannenbaum: The Making of a Mexicanist, 1914-1933. The Americas. Vol. 45, No. 2 (October), pp. 153-171.[[1]]
  • Frank Tannenbaum in: Cambridge Encyclopedia <a href="http://encyclopedia.stateuniversity.com/pages/7849/Frank-Tannenbaum.html">
  • Hale, Charles A. (1995) Frank Tannenbaum and the Mexican Revolution. The Hispanic American Historical Review Vol. 75, No. 2 (May, 1995), pp. 215-246
  • Hirschhorn, Bernard (1997) Democracy Reformed: Richard Spencer Childs and his fight for better government. [[2]]
  • Horsley, Carter B. (1969) Dr. Frank Tannenbaum, 76, Dies ..[[3]]
  • Tannenbaum, Frank Encyclopedia of the Harlem Renaissance
  • Laub, John (1979) Criminology in the Making. Edwin M. Lemert Interview ... [[4]]
  • Phillips, Michael Frank Tannenbaum (1893-1969) in: The Historical Encyclopedia of World Slavery [[5]]
  • Ross, Stanley R. (1969) Frank Tannenbaum (1893-1969) The Hispanic American Historical Review Vol. 50, No. 2 (May, 1970), pp. 345-348 [[6]]
  • Thompson, Charles Willis (1914) So-Called I.W.W. Raids ... [[7]]
  • Winn, Peter (2010) Frank Tannenbaum Reconsidered. International Labor and Working-Class History (2010), 77: 109-114 Cambridge University Press doi: 10.1017/S0147547909990275 [[8]]