Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht

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Verfasser: Udo Hansen (Kriminologie M.A., 1. Sem.)

Gliederung:

1. Der Erziehungsgedanke in materiellen Jugendstrafrecht 2. Die Legitimation des Erziehungsgedankens 3. Die stationären Maßnahmen in der Praxis 4. Der Erziehungsgedanke und die Erziehungswissenschaft

1. Der Erziehungsgedanke im materiellen Jugendstrafrecht

Da die Spezifität des formellen Teiles des Jugendgerichtsgesetzes nach einer gesonderten Darstellung verlangt, beschäftigt sich dieser Artikel schwerpunktmäßig mit dem materiellen Jugendstrafrecht. Das Ziel jugendstrafrechtlicher Erziehung besteht darin, weitere Delikte des Beschuldigten zu verhindern, wobei die Generalprävention im Sinne der Abschreckung anderer nach durchgehender Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes selbst bei schwerer Schuld kein Strafziel des Jugendstrafrechts ist. Die Struktur des formellen Rechtsfolgensystems ergibt sich dabei aus § 5 JGG. Das Jugendgerichtsgesetz nimmt in § 5 I und II eine Dreiteilung der Rechtsfolgen in Erziehungsmaßregeln (§§ 9 - 12), Zuchtmittel (§§ 13 -16) und Jugendstrafe (§§ 17 - 30) vor. Eng verwandt mit der Jugendstrafe sit die Untersuchungshaft; denn die U - Haft unterscheidet sich faktisch nicht wesentlich von der Strafhaft. Hier wie dort ist das zentrale Element das Eingesperrtsein.

Die Erziehungsmaßregeln (§ 9 JGG) dienen der Erziehung, da sie den ausschließlichen Zweck verfolgen, die durch die Tat erkennbar gewordenen Erziehungsmängel zu beseitigen. Somit dürfen bei ihrer Anordnung und Auswahl nur erzieherische Gesichtspunkte, nicht aber Vergeltung, Sühne und Schutz der Allgemeinheit berücksichtigt werden. Wenn auch die Zuchtmittel (§ 13 JGG) neben dem erzieherischen Ziel die Sanktionszwecke der Sühne und der Vergeltung verfolgen, so müssen sie aber vor allem danach ausgewählt werden, daß sie erzieherisch positiv wirken.

Die Jugendstrafe (§ 17 JGG) wird entweder "wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind" (II) oder "wegen der Schwere der Schuld" (II) verhängt. Sie kann zur Bewährung ausgesetzt (§§ 21, 27 JGG) oder entsprechend den §§ 82 - 85 JGG und den §§ 91 f. JGG vollstreckt und vollzogen werden. Die Jugendstrafe ist als eine echte Kriminalstrafe insofern ultima ratio des Jugendstrafrechts als sie nur verhängt werden darf, wenn Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel nicht ausreichen. Dennoch kommt die starke Betonung des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht auch bei dieser seiner echten einzigen Strafe zum Ausdruck. Beim Vorliegen der "schädlichen Neigungen" (§ 17 II JGG) wird sogar von einer längeren Gesamterziehung gesprochen. Problematisch ist allerdings, ob und wie der Erziehungsgedanke unter die Tatbestandsvoraussetzungen der "Schwere der Schuld" (§ 17 II JGG) subsumiert werden kann. Die Lehre und das Schrifttum plädieren hier eher für eine Unvereinbarkeit oder Trennung von Erziehung und Strafe, wohingegen die Rechtsprechung auch eine wegen "Schwere der Schuld" zu verhängende Jugendstrafe nur dann zulassen will, wenn diese aus erzieherischen Gründen erforderlich sei. Zwar hat die Rechtsprechung mittlerweile ihre Position abgeschwächt, indem sie hervorhebt, neben dem Erziehungszweck dürften auch Schuldgesichtspunkte berücksichtigt werden; doch unterstellt der Bundesgerichtshof bei seiner Argumentation, daß der Erziehungsgedanke mit dem Schuldausgleich ohnehin in der Regel im Einklang stehe, weil Charakter und Persönlichkeit des Jugendlichen auch bei der Bewertung der Schuld herangezogen werden. Wer sich also in einem besonders hohen Maße schuldig gemacht hat, drücke eben durch dieses Verhalten sein erhebliches Erziehungsdefizit aus. Folglich gilt in der juristischen Praxis der Vorrang des Erziehungsgedankens auch für die wegen "Schwere der Schuld" zu verhängenden Jugendstrafe.

Gemäß § 93 II JGG soll der Vollzug der Untersuchungshaft erzieherisch gestaltet werden, ohne einen neuen Haftzweck und -grund der "Erziehung" zu schaffen und somit über die enumerativ aufgeführten Haftgründe des § 119 StPO hinauszugehen. Mithin steht die U - Haft ebenso unter dem Postulat des Erziehungsgedankens.

Wir können also folgendes Fazit ziehen: Alle Rechtsfolgen des Jugendstrafrechtes unterliegen dem Erziehungsgedanken. Herkömmlich wird diese besondere Aufgabenstellung des Jugendstrafrechtes mit dem Wort "Erziehungsstrafrecht" ausgedrückt. Somit haben wir eine solide Basis für alle weiteren Überlegungen, Untersuchungen und Analysen geschaffen, soweit sie den materiellen Teil des Jugendgerichtsgesetzes betreffen; denn jede - befürwortende wie ablehnende - Kritik an den jugendstrafrechtlichen Maßnahmen und Rechtsfolgen fällt immer auch zugleich auf den Erziehungsgedanken selbst zurück.

Die öffentliche Meinung ist überwiegend von der Vorstellung geprägt, daß der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechtes ausschließlich straflimitierend verwendet werde. Tatsächlich lassen sich auch derartige Limitierungen, die mit dem Erziehungsgedanken legitimiert werden, an mancher Stelle im Gesetz finden: Die Beschränkung der Jugendstrafe auf 5 oder 10 Jahre, kürzere Fristen bei der Strafrestaussetzung und im Registerrecht sowie die kurze Vollstreckungsverjährung beim Jugendarrest sind hier vor allem zu nennen.

Trotzdem wird heute kritisch gefragt, ob unser Jugendstrafrecht zu einer Strafe für die Jugend geworden ist; denn empirische Befunde ergeben, daß die praktizierte Strafzumessung nach dem Jugendgerichtsgesetz im Vergleich zu der Bestrafung nach dem allgemeinen Strafrecht zu einer härteren Sanktionierung junger Straftäter führt. Generell gilt, daß der Erziehungsgedanke seine straflimitierende Funktion mit zunehmender Schweregewichtung der Tat mehr und mehr verliert. Darüber hinaus besteht schon rein ideologisch im Jugendgerichtsgesetz die Gefahr einer Strafinflation bei einem diagnostizierten erheblichen Erziehungsbedarf. Folglich empfangen Jugendliche und Heranwachsende bei Anwendung des Jugendstrafrechtes oft einen Erziehungszuschlag, der sie gegenüber Erwachsenen nachdrücklich schlechterstellt, insbesondere im Bereich der Vermögens - und Eigentumsdelikte. Der strafende Charakter von jugendstrafrechtlichen Sanktionen wird offensichtlich mit Hilfe einer Erziehungsideologie geleugnet. Schließlich setzt sich die Schlechterstellung bis in den Jugendstrafvollzug fort. Auf das Negativkonto kommen ferner Rechtsverkürzungen zu Lasten junger Menschen, die erst durch die Berufung auf den Erziehungsaspekt möglich werden. Zusätzliche Versagungen und Eingriffe gehören hierher, ebenso Momente der Unbestimmtheit und Unüberprüfbarkeit.

Mithin scheint der Erziehungstopos und die Verknüpfung von Verbrechen und Erziehung dazu ausersehen, die soziale Kontrolle auszudehnen und zu intensivieren sowie ferner den repressiven Strafcharakter von Sanktionen zu verschleiern. Damit soll nicht gesagt werden, daß dies ausnahmslos der Fall ist; dennoch dürfte Erziehung im Jugendstrafrecht in erster Linie eine Ideologie beinhalten.

2. Die Legitimation des Erziehungsgedankens