Entkriminalisierung und Entrümpelung: Unterschied zwischen den Versionen

 
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''Ein Schrei nach Freiheit ist auch ein Schrei nach weniger Strafe. Reformbemühungen dazu gab es immer wieder, mit Ausnahme der Abschaffung des § 175 StGB hat sich aber wenig bis nichts getan. Im Anschluss an die Bremer Erklärung des Strafverteidigertages 2017 wollen wir eine sinnvolle und effiziente Modernisierung des Strafrechts erarbeiten.'' - So der Auftrag für die Arbeitsgruppe ''Entkriminalisierung und Entrümpelung'' auf dem Strafverteidigertag 2018 in Münster/Westfalen.
Nachdem der Bremer Strafverteidigertag 2017 auf die Reform des Strafprozesses und des Sanktionenwesens - insbesondere auf die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe und die Ersetzung der lebenslangen durch eine Höchststrafe von 15 Jahren - gedrungen hatte, geht es 2018 nicht zuletzt um eine "sinnvolle und effiziente Modernisierung des Strafrechts". Dazu will man sich auch der zeitgeschichtlichen Dimension versichern und fragt: ''Wann sind Forderungen zur Entkriminalisierung von wem und mit welchen Gründen erhoben worden und warum sind sie gescheitert? Welche Ideen sind es nach wie vor wert, umgesetzt zu werden?'' Die Devise ''Entkriminalisierung und Entrümpelung'' setzt einen Kontrapunkt zum populistisch-punitiven Aktionismus der jüngsten Phase der Rechtspolitik.


Dazu will man sich in Bezug auf eine historische Perspektive und in Bezug auf die möglichen Alternativen zur Kriminalisierung informieren. Was die historische Perspektive angeht, so lautet die Fragestellung: ''Wann sind Forderungen zur Entkriminalisierung von wem und mit welchen Gründen erhoben worden und warum sind sie gescheitert? Welche Ideen sind es nach wie vor wert, umgesetzt zu werden?''
'''Neues Gerümpel.''' In der Ära Maas kam zu dem alten viel neues Gerümpel und tatsächlich bezieht sich der  jüngst von Arthur Kreuzer (2017)  unter dem Titel "Reformiert endlich das Strafrecht!" publizierte Aufruf schwerpunktmäßig auf die Notwendigkeit, zunächst einmal all das wieder wegzuschaffen, was sich seit dem Amtsantritt von Justizminister Heiko Maas (17.12.2013) angesammelt hat. Man denke an die:
# Einführung einer Strafvorschrift gegen das Eigendoping (§ 4 AntiDopG von 2015), einer Vorschrift, die weder geeignet noch erforderlich ist, um ihren Zweck zu erreichen. Geeignet und erforderlich wären nach Kreuzer (2017) Regeln für die Unterbindung und Sanktionierung durch Verbandsstrafen auf der Ebene der Fachverbände. Kriminalstrafen haben sich hingegen dort, wo es sie im Ausland schon gibt, als untauglich erwiesen (bislang keine einzige Verurteilung bekannt). Vor allem aber handelt es sich dabei um eine verfassungswidrige Strafbarstellung eines Verhaltens zum Schutz des Sportlers vor sich selbst. Nach Bott & Mitsch (2018) steht die Vorschrift "nicht nur in Widerspruch zu den sonstigen strafrechtlichen Grundsätzen und der Systematik des StGB. Es bleibt außerdem insbesondere fraglich, welcher positive Zweck zum Schutz der Gesundheit mit einer Strafandrohung gegenüber einem sich aus freien Stücken selbst an der Gesundheit Schädigenden erreicht werden könnte."
# erneute Erweiterung des [https://dejure.org/gesetze/StGB/184b.html § 184b StGB] (Paragrafen ohne Gesetzesangabe sind im Folgenden solche des StGB). Nachdem die Vorschrift schon 2008 um Verbreiten, Erwerb und Besitz sog. Posing-Fotos erweitert worden war, ließ man 2015 das Erfordernis einer Darstellung sexueller Handlungen fallen, so dass auch schon Bilder schlafender Kinder oder die Abbildung eines Gesäßes für die Strafbarkeit von 3 Monaten bis zu 5 Jahren genügen. Vor allem wurde durch Absatz 4 der Versuch des Beschaffens solcher Bilder strafbar. Dabei reicht es, Pornolinks anzuklicken. Den Aufruf einer solchen Website rückgängig zu machen, befreit nicht von der Strafbarkeit. Kriminologen wie Kreuzer warnen: hier wird ein massenhaftes Verhalten auch von jungen Menschen kriminalisiert - mit der absehbaren Folge von Denunziationen unliebsamer Bekannter; da können auch viele Unschuldige in die Mühlen der Justiz geraten.
# Kriminalisierung der sogenannten Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§ 89a von 2015). Kriminologisch weder erforderlich noch angemessen. Ein ordnungsbehördliches Ausreiseverbot genügte. Was im Straftatbestand als Vorbereitung bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit allenfalls der "Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung" - so der BGH, der trotz dieser Diagnose wohl aus Staatsraison lediglich den "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" tangiert sehen wollte. Kreuzer: "Strafbar ist bereits, wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden zu lassen, die es ihm ermöglichen, später islamistische Aktionen zu unterstützen. Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Ohne dass hier eine wirkliche Straftat vorliegt, will man Tatgeschehen künstlich behaupten, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen."
# Kriminalisierung der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 von 2015). Dieser am 10.12.2015 in Kraft getretene Straftatbestand ist überflüssig, weil sich der Zweck der Unterbindung problematischer Sterbehilfeorganisationen besser über das Vereins- und Gewerberecht erreichen lässt. So hingegen läutet man das Sterbeglöckchen für die Selbstbestimmung am Lebensende. Auch hier also die Wiederkehr moralisierenden Strafrechts. Die Unbestimmtheit des Gesetzes kann auch ethisch lobenswerte Sterbebegleitung völlig unnötig in ein Dilemma zwischen strafbarer Suizidbeihilfe und strafbarer unterlassener Hilfeleistung bringen. Ärzte und in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder Hospizen Beschäftigte müssen mit Denunziationen enttäuschter Angehöriger und erniedrigenden polizeilichen Ermittlungen rechnen.
# von Tatjana Hörnle als "Rückfall in Strafrechtsmoralismus und Prüderie" gescholtene Gleichstellung des sexuellen Übergriffs gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person mit der Vergewaltigung im neuen § 177 von 2016 - einen Akt der Gesetzgebung, der erstens der von Monika Frommel betonten Devise widerspricht, dass nur klare Fälle von Zwang und Gewalt überhaupt ins Strafrecht gehören, Grenzfälle hingegen ins Zivilrecht oder ins Gewaltschutzgesetz (und dass Beziehungsdelikte ansonsten am besten von Familiengerichten geregelt werden), als auch zweitens zu der Befürchtung Anlass gibt, dass hier ein neues Massendelikt geschaffen wurde, das voraussehbar manche Betroffene, aber auch viele nicht Betroffene zu Anzeigen verleiten (Kreuzer) und noch für viele Frustrationen sorgen wird
# Verschlimmbesserung des § 244 StGB aus dem Jahr 2017 durch die Aufwertung des Einbruchs in Privatwohnungen vom Vergehen zum Verbrechen bei gleichzeitiger Streichung der Möglichkeit einer Strafmilderung in minder schweren Fällen - eine Gesetzesänderung, die erstens systemwidrig ist, weil sie im Widerspruch zu der Tatsache sthet, dass sogar der schwerere Tatbestand des bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls einen minder schweren Fall kennt, zweitens auf falschen Vorstellungen über die typischen Erscheinungsformen dieses Delikts beruht und drittens entweder zu einer Welle justizieller Überpönalisierungen oder aber zu Umgehungsstrategien praeter legem und/oder oder zum Verfassungsgericht führen wird


Da ist die Frage natürlich sofort: was entscheidet eigentlich darüber, ob eine E.- oder E.-Idee nach wie vor wert ist, umgesetzt zu werden? Hierauf gibt es Antworten, die in abgestufter Weise konsensfähig sind.
Darüber hinaus mag ein Blick auf frühere Entkriminalisierungsforderungen nützlich sein. Offenbar gibt es Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, bei denen die Intervention des Strafrechts von vielen als nicht gerecht oder als nicht zweckmäßig empfunden wird. Umstritten ist der Verlauf der Grenze zwischen Erlaubt und Verboten bzw. Kriminell und Ordnungswidrig anscheinend vor allem in folgenden Bereichen:
== Vorüberlegungen ==


===Terminologisches===
== Mobilität und Konsum ==
===Unfallflucht (§ 142 StGB)===
'''Das Gesetz''': Das [https://dejure.org/gesetze/StGB/142.html Unerlaubte Entfernen vom Unfallort] wurde 1909 durch § 22 des Gesetzes über das Führen von Kraftfahrzeugen erstmals strafbar. Die Strafbarkeit wurde erweitert und die Strafdrohung auf drei Jahre Gefängnis erhöht, als Justizminister Freisler 1940 damit auch die Feigheit desjenigen ächten wollte, der vom Unfallort flieht. Freislers § 139a RStGB blieb dem StGB trotzdem unverändert als § 142 erhalten. Ziva Kubatta (2008) Zur Reformbedürftigkeit der Verkehrsunfallflucht (§ 142 StGB).


Je nachdem, was man unter E. versteht, kann man unter "Forderungen zur Entkriminalisierung" alle Forderungen nach irgendeiner Milderung im ''criminal justice system'' verstehen - von der Forderung nach ersatzloser Streichung von ''Tatbeständen'' (wie bei § 175) über die ''Sanktionsarten'' (Abschaffung von Zuchtaus und Arbeitshaus; vgl. §§ 14, 42d a.F.) bis hin zur Ausdehnung von Prozesshindernissen (Erhöhung des Strafmündigkeitsalters von 12 auf 14 durch das JGG von 1923; vgl. heute § 19 StGB) und zur Eröffnung strafprozessualer Diversionsmöglichkeiten à la §§ 153 ff. StPO. Gerade die letztgenannte Option prozessualer Umleitungen um Hauptverhandlung, Aburteilung und Strafvollzug kann bei ausgebauten gesellschaftlichen Konfliktregulierungsmöglichkeiten im Stile der Restorative Justice und bei konsequenter Auslegung des Subsidiaritäts-, bzw. Ultima-Ratio-Prinzips eine geradezu historische Chance für einen künftigen ''Abbau des Strafrechts'' (Gustav Radbruch) bieten.
'''Empirie''':


Im Folgenden soll:
'''Kritik''':
 
*Verfassungswidrige Pflicht zur Selbstbelastung entgegen dem nemo tenetur (se ipse accusare) Grundsatz. Das Argument des BVerfG (1963), dass der Schutzzweck der Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche Vorrang vor dem Grundrecht des Täters habe, konnte die Diskussion nicht beenden. Trotz Änderungen am 1.9.1969 und 1.1.1975 sowie 21.6.1975 wird bis heute die Verfassungsmäßigkeit angezweifelt (Verletzung des Bestimmtheitsgebots oder des Schuldprinzips), ganz abgesehen von der systemwidrigen Reichweite der tätigen Reue (1.4.1998). Im Abschnitt über Delikte gegen die öffentliche Ordnung falsch plaziert, da in Wirklichkeit dem Schutz privater Vermögensinteressen dienend.
'''Entkriminalisierung''' den Vorgang der Rücknahme einer Kriminalisierung bezeichnen. Durch seine Entkriminalisierung entfällt die Strafbarkeit eines Verhaltenstyps. Zu unterscheiden sind gesetzliche (''de jure'') und faktische (''de facto'') Entkriminalisierungen. Beispiele für ''de jure'' Entkriminalisierungen: Aufhebung gleich mehrerer Bestimmungen des deutschen Strafrechts durch das Kontrollratsgesetz Nr. 11 vom 30.1.1946 (§§ 2, 2b, 134b, 226b RStGB) und die Aufhebung, bzw. Einschränkung von Tatbeständen des Ehebruchs, der Unzucht zwischen Männern, der Unzucht mit Tieren, der Kuppelei und der Prostitution (allesamt durch das 1. Strafrechtsreformgesetz vom 25.6.1969).
 
Davon zu unterscheiden ist die sog. ''de facto'' Entkriminalisierung. Diese tritt durch die Erosion der Norm- und Sanktionsgeltung ein. Eine auf dem Papier weiterhin strafbare Verhaltensweise verbreitet sich und verliert ihren Abweichungscharakter, wird sozial normalisiert, bis sie schließlich in keinem nennenswerten Maße mehr angezeigt, verfolgt und bestraft wird. Im Gegenteil: Anklagen und Verurteilungen werden bei fortgeschrittenen ''de facto'' Entkriminalisierungen als Abweichungen vom sozialen Erwartungsfahrplan öffentlich skandalisiert. Das heißt nicht, dass ''de facto'' Entkriminalisierungen von der offiziellen Politik immer skeptisch betrachtet werden. Sie können auch offiziell gewollt sein und z.B. durch Anweisungen an die Staatsanwaltschaft die Weihen der Legalität erhalten. Beispiele:
*Verzicht auf die Verfolgung geringfügiger Übertretungen durch die ''Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege'', die sog. Emminger-VO vom 4. Januar 1924. Ähnlich heute die Einstellung wegen Geringfügigkeit nach §§ 153 ff. StPO.
*Verzicht auf die Strafverfolgung bei [[Cannabis in Holland]]. Im ''law-in-the-books'' ist Cannabisanbau und -verkauf weiterhin strafbar. Im ''law-in-action'' aber sieht es anders aus. Erwachsene dürfen bis zu sechs Cannabispflanzen für den Eigengebrauch aufziehen und der Verkauf in Coffeeshops wird toleriert, solange diese (1) von der Gemeinde erlaubt und (2) mindestens 250 m von der nächsten Schule entfernt sind sowie (3) keine Werbung betreiben, (4) keine harten Drogen tolerieren, (5) keine Personen unter 18 bedienen, (6) Ruhe und Ordnung in der Nachbarschaft zu respektieren und (7) nicht mehr als 5 g pro Kunde verkaufen und nicht mehr als 500g auf Lager haben.
 
Schließlich ist noch zwischen ''legalisierenden'' und ''transformierenden'' Entkriminalisierungen zu unterscheiden. Im Fall einer ''legalisierenden'' Entkriminalisierung macht die Entkriminalisierung aus einer Strafat ein fürderhin erlaubtes Verhalten. Beispiel:
*Anbau und Verkauf von Cannabis zu Genusszwecken, bislang als Straftaten verfolgt, wurden in Uruguay als erstem Land der Welt mit dem Gesetz 19.172 vom 10.12.2013 wieder erlaubt. Die Entkriminalisierung ist nicht "ersatzlos", weil eine restriktive Regulierung an die Stelle des Verbots tritt, aber sie ist auch nicht nur "scheinbar", sondern "echt", weil diese Verhaltensweisen aus der Sphäre des Kriminellen herausgeholt wurden.
 
Bei ''transformierenden'' Entkriminalisierungen entfällt zwar die Strafbarkeit, nicht aber das Verboten-Sein der Handlung. Beispiele dafür waren und sind:
*die Umwandlung der strafbaren Straßenverkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten durch das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz vom 24.5.1968. Dadurch wurden Tatbestände formal aus dem Strafrecht ausgegliedert, um anschließend in einer anderen Rechtsmaterie, in einem Katalog für Ordnungswidrigkeiten, wieder aufzutauchen. Das Verhalten wird deutlich weniger starker Ächtung ausgesetzt, deshalb aber noch lange nicht gutgeheißen. Insofern ist die transformierende durchaus eine echte und keine nur scheinbare Entkriminalisierung (so aber Naucke 1984).
 
:'''Entpönalisierung''' soll den Vorgang einer partiellen oder vollständigen Rücknahme oder Milderung der Kriminalstrafe als Rechtsfolge einer (bestehen bleibenden) Straftat bezeichnen. Beispiele für Entpönalisierungen sind z.B. die Abschaffung der Zuchthausstrafe durch das 1. StrRG von 1969 und die Herabstufung der Abtreibung vom Verbrechen zum Vergehen (ebenfalls durch das 1. StrRG von 1969). Auch Erhöhungen der Strafmündigkeitsgrenze oder die Verkürzung von Verjährungsfristen können als Entpönalisierungen gesehen werden, da sie die Anwendungsmöglichkeiten der Kriminalstrafe - der poena - verringern.
 
Der Unterausschuss "Entkriminalisierung" des Europarats unterschied (vgl. Council of Europe 1980: 15) drei Motive, aus denen heraus entkriminalisiert werden kann:
#Typ '''A''': Veränderte moralische Bewertung des betreffenden Verhaltens. Beispiel: Entkriminalisierung der Homosexualität in Deutschland; legalisierende Entkriminalisierung von Cannabis (Uruguay 2013; Kalifornien 2016)
#Typ '''B''': Veränderte Einstellung zu den Grenzen legitimen staatlichen Strafens. Beispiele: die Alternativprofessoren der 1960er und 1970er Jahre meinten, der Staat dürfe das Strafrecht nur gegen manifest sozialschädliches, nicht gegen ein bloß sitttenwidriges Verhalten einsetzen. So kam es mit dem 1. StrRG vom 25.6.1969 zur teilweisen oder völligen Entkriminalisierung des Ehebruchs, der Unzucht mit Tieren, der Unzucht zwischen Männern, der Kuppelei und der Prostitution.
#Typ '''C''': Veränderte Kosten-Nutzen-Einschätzung. Beispiel: Transformierende Entkriminalisierung strafrechticher Übertretungstatbestände durch Überführung in Ordnungswidrigkeiten (1975); legalisierende Entkriminalisierung von Cannabis in Uruguay (2013).
 
Diese drei Motive sind allerdings weder gleichrangig noch trennscharf. Von grundlegender Bedeutung ist die mit Typ B verbundene Auffassung von den '''Grenzen staatlicher Befugnis zur Nutzung des Strafrechts'''. In Zeiten der Liberalisierung wird man dazu tendieren, abweichendem Verhalten mehr Toleranz entgegenzubringen - und zugleich wird man sensibel sein für die realen Kosten und den hohen Verfolgungsaufwand bei einer vielleicht geringen Effektivität der Durchsetzung. Autoritäre und paternalistische Systeme hingegen werden dazu tendieren, punitiver auf Abweichung zu reagieren und gleichzeitig den symbolischen Wert aktionistischer Strafgesetzgebung und staatlicher Machtdemonstration höher zu gewichten als die eventuell teuren und ineffektiven Implementierungsversuche.
 
'''Entrümpelung''' ist der Vorgang des Wegschaffens von Gerümpel (umgangssprachlich auch Krempel, Ramsch, Mist, Plunder oder auch - vorwiegend in Österreich - Kramuri oder Klumpert genannt). Gerümpel ist eine seit dem 16. Jahrhundert nachgewiesene abwertende Bezeichnung für meist alte, unbrauchbar und wertlos gewordene Gegenstände. Entrümpelung im Strafrecht heißt also soviel wie alte, unbrauchbare und wertlose Paragrafen loswerden. Wie wir gleich sehen werden, finden sich allerdings in dem nutzlosen Plunder auch einige neue Gegenstände und wenn der Eindruck nicht trügt, dann stammt sogar ein besonders großer Teil der nutzlosen Strafgesetze aus neuerer und neuester Zeit. In archäologischer Terminologie nicht aus den Schichten Trias, Jura oder Kreide, sondern dem jüngsten Erdzeitalter, dem Maas, das bekannt ist für seine besondere Unruhe und seine Vielzahl eruptiver Neukriminalisierungen.
 
Nach dem Grad der Zustimmungsfähigkeit (und damit der politischen Durchsetzbarkeit im Sinn einer "realistischen" Kriminalpolitik) lassen sich unterscheiden:
 
#Entrümpelung = Abschaffung von obsoleten und unzweckmäßigen Kriminalisierungen; insbesondere von solchen, die aus anerkannten kriminalpolitischen Gründen geradezu kontraindiziert sind. Besonderes Augenmerk verdienen die sog. Buchstabenparagraphen (wie z.B. § 353d Nr. 3 StGB - Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen).
#Reformation - Abschaffung von Kriminalisierungen ohne Bezug zur freiheitssichernden Kernaufgabe des Strafrechts (Reduktion auf ein Kernstrafrecht, Verlagerung des Restes - soweit erforderlich - in nicht kriminalrechtliche Instrumente). Kritischer Durchsicht bedürfen auch die Tatbestände im Bereich der sog. organisierten Kriminalität, im Transplantationsgesetz und in anderen Bereichen des Nebenstrafrechts.
#Abolition - Abschaffung von Kriminalisierungen und Ersatz durch etwas Besseres (zivile Konfliktregelung im Schatten des Leviathan; Restorative Justice)
=== Perspektive und Kriterien ===
 
'''Kriterien aus der Verfassung.''' Das deutsche Verfassungsrecht kennt drei '''Kriterien''' der Verfassungsmäßigkeit von Strafgesetzen. Fällt ein Gesetz bei einem dieser drei Kriterien durch, ist es verfassungswidrig und eine Entkriminalisierung liegt in Reichweite.
 
#'''Ungeeignet''' ist ein Strafgesetz dann, wenn es den angestrebten Erfolg gar nicht erreichen kann. Das ist aus sozialwissenschaftlicher Sicht sicherlich beim strafrechtlichen Drogenverbot der Fall, harrt aber noch entsprechender Erkenntnisse des Verfassungsgerichts.
#Viele Strafgesetze sind - selbst wenn man ihre grundsätzliche Eignung zur Zielerreichung unterstellt - '''nicht erforderlich''', weil es andere und weniger einschneidende Mittel gibt. Denn nach dem Ultima-Ratio-Prinzip darf das Strafrecht als schwerstes staatliches Eingriffsinstrument nur eingesetzt werden, wenn andere gesellschaftliche oder gesetzliche Regulierungsmöglichkeiten unzureichend sind, um wichtige Rechtsgüter zu schützen. Das Ultima-Ratio-Prinzip ist leider nicht explizit im Grundgesetz zu finden, gilt aber allgemein als Ausfluss des Prinzips der Verhältnismäßigkeit und beruht auf einer starken aufklärerisch-utilitaristisch-liberalen Basis. Man denke an Montesquieu und Beccaria  ("Jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch"), an Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires“, an Mittermaiers Diagnose aus dem Jahre 1819, dass es der "Grundfehler" unserer Zeit sei, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen“, und an Franz von Liszts Postulat, ein Verhalten dürfe nur unter Strafe gestellt werden, wenn und soweit dafür eine Notwendigkeit bestehe: „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“.
#Schließlich ist ein Strafgesetz verfassungswidrig, wenn es allzu tief und '''unverhältnismäßig''' in die Grundrechte eingreift.
 
Andererseits ist die Verfassungswidrigkeit eines Strafgesetzes noch kein absoluter Grund für die Entkriminalisierung: das Gesetz kann ja ausgebessert und muss nicht gleich ersatzlos gestrichen werden. Kriterien der Entkriminalisierung müssen also tiefer liegen, fundamentaler sein.
 
Kriterien aus der Idee des Rechts. Hier gerät man unweigerliche in die Gefilde der Rechtsphilosophie und damit schnell zu Gustav Radbruchs Idee des Rechts mit ihren drei Elementen der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit und der Zweckmäßigkeit. Wo Strafrecht nicht alle drei Kriterien der Idee des Rechts erfüllen kann, da hat es sein Recht verloren.
 
#Gerechtigkeit
#Rechtssicherheit
#Zweckmäßigkeit
 
===Akteure===
Das Feld der Akteure unterschiedlicher Relevanz besteht aus den von einer Kriminalisierung Betroffenen, ihren Anwälten und Interessensanwälten in Wissenschaft, Justiz und Polizei, Wirtschaft, Medien, Parteien und sonstigen Vereinigungen sowie aus all denjenigen, die in Bürokratie und Politik nicht zuletzt mittels Sachverständigen (Task Forces, Expertenanhörungen, Gutachten) die Innen- und Rechtspolitik beeinflussen oder formulieren. Von besonderer Bedeutung ist die Schaltstelle zwischen externen Politikinteressenten einerseits (Lobbyisten, Wissenschaftler) und Entscheidungsgremien (Regierung, Parlament) andererseits. Hier können Parteien die wichtige Rolle von ''institutionellen'' ''Umsetzern'' (Hubert Treiber) einnehmen, wenn sie externe Forderungen zum Teil ihrer Programmatik machen und diese dann in einer Regierung auch umsetzen.
 
Entkriminalisierung hat immer dann eine Chance, wenn relevante Akteure in hinreichendem Maße:
*Zweifel an Eignung, Erforderlichkeit und/oder Verhältnismäßigkeit der Kriminalisierung eines Verhaltens hegen
*Vertrauen in alternative Kontrollen haben und
*politische Gewinne - vor allem in der Form von Wählerstimmen - aus der Entkriminalisierung erwarten.
 
=== Negative Kriminalpolitik ===
 
Entkriminalisierung ist ''negative Kriminalpolitik''. Es geht in erster Linie nicht darum, das Strafrecht zu verbessern, sondern zu verkleinern. Es geht in den Worten von Gustav Radbruch um einen Abbau des Strafrechts zugunsten von mehr Freiheit einerseits und mehr Schutz von Freiheitsräumen durch geeignete und verhältnismäßige Formen der sozialen Kontrolle.
 
#Zunächst ist in Angriff zu nehmen, was schon lange diskutiert, aber bislang liegen gelassen wurde. Dazu gehört die Abschaffung des § 219a StGB im Abtreibungsrecht, dazu gehört auch in einem ersten Schritt die transformierende Entkriminalisierung des Umgangs mit Cannabis und anderen Freizeitdrogen in der Konsumsphäre, also bei Erwerb und Besitz zum Eigengebrauch - mit einem wachen Blick auf die konsequentere Gesetzgebung in Uruguay und einigen Bundesstaaten der USA. Entkriminalisierung bedeutet Rückkehr zum Rechtsgüterschutz und das wiederum bedeutet Verzicht auf strafrechtlichen Schutz vor sich selbst. Nichts anderes aber versucht das heutige Betäubungsmittelrecht im Namen des politischen Ziels (das fälschlich als Rechtsgut ausgegeben wird) der Volksgesundheit. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Jedenfalls geht es bei der Entkriminalisierung nicht um Zwangstherapie und auch nicht nur um die Zulassung medical marihuana, sondern um die Rückbesinnung auf das Selbstbestimmungsrecht erwachsener Bürger in Bezug auf ihr Entspannungs- und Freizeitverhalten, also um das Recht auf recreational use, bzw. adult use. - Die lanjährige Stagnation der Drogenpolitik in Deutschland hat den Vorteil, dass wir uns inzwischen nur umschauen müssen, um nachahmenswerte Modell der Entkriminallsierung zu finden. In einem ersten Schritt können wir uns mit Entkriminalisierung der Konsumsphäre bei weiterbestehender Prohibition befassen (soft prohibition). Also mit einer Art De-Radikalisierung der Prohibition à la Portugal oder Holland.
 
#Überall, wo das Vereins- und/oder Gewerberecht besser geeignet ist als das Strafrecht, hat das Strafrecht als ultima ratio zurückzutreten.
#Beachtung verdient das jüngste Zensurgesetz des Bundesjustizministers Maas, auch [[Netzwerkdurchsetzungsgesetz]] genannt. Im vergangenen Sommer mit symbolischer Bedeutung im Kampf gegen rechts aufgeladen und ohne nennenswerte Kritik durch die Legislative geschleust, bedroht es nicht nur Twitter, Facebook und andere mit saftigen Strafen, wenn sie "offensichtlich rechtswidrige Inhalte" nicht binnen 24 Stunden löschen, es bedroht vor allem die Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit, wie der erwartbare Skandal am ersten Tag nach seinem Inkrafttreten (um eine gelöschte Titanic-Satire) offenbarte. Historisch bewanderte Beobachter kann es das Fürchten lehren, wenn sie sehen, wie hemmungslos hier offenbar von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, anonym mit einem Mausklick Meinungsäußerungen zu denunzieren und damit kaum noch kontrollierbare zensurartige Lösch-Wellen auslösen, die unter Rechtsstaaten ihresgleichen suchen. Dass dabei ganze Bereiche kritischer Politik-Kommentierung im Netz in den Geruch der Illegitimität geraten, ist schlimm und sollte von niemadem, dem der Rechtsstaat etwas wert ist, auch nur billigend in Kauf genommen werden. Man denke hier etwa an die pauschale Verdächtigung von Kritikern der israelischen Besatzungspolitik als verkappte Antisemiten und die skandalösen Kündigungen von Bankkonten jüdischer Bürger, die sich für einen gerechten Frieden in Nahost einsetzen (Feest 2018). 
#Eigentums- und Vermögensdelikte: Erster Schritt wäre die Rücknahme der Strafverschärfung von 2017 beim Tatbestand des Einbruchs in Privatwohnungen. Aus dem Verbrechen mit einer Mindeststrafe von einem Jahr ist wieder ein Vergehen zu machen; auch ist der eklatante Widerspruch zum bandenmäßigen Einbruchsdiebstahl (wo es weiterhin die minder schweren Fälle mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten gibt) durch Wiedereinführung des minder schweren Falles zu beseitigen. Zweiter Schritt wäre die Herabstufung der Massenbagatelldelinquenz in diesem Bereich zu Ordnungswidrigkeiten. 
#Sexualdelikte. Bloß moralwidriges Handeln, das nicht auch sozialschädlich ist, ist nicht strafwürdig. Schon Gustav Radbruch hatte gefordert, bloße Moralverstöße aus dem Strafrecht zu eliminieren, also die Tatbestände des Ehebruchs, der Sodomie, der einfachen Homosexualität und der sogenannten Verlobtenkuppelei, und nach einem halben Jahrhundert hatte das dann auch funktioniert. Dann die Frage, ob das Gewicht der Handlung tatsächlich eine Reaktion mit einer Kriminalstrafe als unverzichtbar erscheinen lässt. Dass das heutige Sexualstrafrecht nach Radbruch'schen Kriterien kritisch durchzumustern ist insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt des Vorrangs des Verwaltungsrechts, steht außer Frage. Erneut auf die Tagesordnung gehört auch die freiheitliche und die Freiheit aller Beteiligten schützende Regulierung der Prostitution - vor allem auf dem Wege des Gewerberechts. Monika Frommel meint: "zurück zum alten Recht des § 177, nur § 177 Abs. 1 Nr. 3 etwas weiter fassen, damit die dusselige Rechtsprechung zu den Überrumpelungsfällen entfällt und diese Konstellation gut erfasst wird. Die Missbrauchsfälle (etwa von Jugendlichen) im Neuen Recht 2016 sind akzeptabel. - Die sog. Freierbestrafung muss weg."
 
=== Globale und lokale Bedingungen ===
Grundsätzlich gilt wohl: je autoritärer, je paternalistischer und je populistischer eine Regierung ist, desto ungünstiger ist das für erfolgreiche Entkriminalisierungen. Je freiheitlich-liberaler hingegen eine Regierung und je größer der Einfluss von Fachleuten (z.B. Strafrechtswissenschaftlern) auf die Gesetzgebung, desto günstiger für Entkriminalisierungen.


Die Entkriminalisierungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre fanden vor dem Hintergrund eines gesamtgesellschaftlichen und keineswegs auf Deutschland beschränkten Wertwandels und Liberalisierungsschubes statt. Diese Tendenz wurde von einer Protagonisten - den sog. Alternativprofessoren - aufgegriffen, auf ihre Vorstellung von einem liberalisierten Strafrecht angewandt und Dank einer politischen Partei, die sich als Umsetzerin in die Welt der politischen Institutionen engagierte (und davon profitierte), auch in die real existierende Kriminalpolitik umgesetzt.
'''Alternativen'''


In der Gegenwart (2018) nimmt die Attraktivität der liberalen Demokratie weltweit ab. Populistischer Autoritarismus hingegen zu. Im weltweiten Konflikt zwischen einem liberalen und einem autoritären Traum vom gesellschaftlichen Zusammenleben hat der Autoritarismus seine Nase nicht nur in Mittelamerika, in Zentral- und Südostasien, in weiten Teilen Afrikas und im gesamten Nahen Osten vorn, sondern auch in Europa. Auch wo populistische, respektive autoritäre Parteien nicht schon an der Macht sind, ist ihre jüngste Stärkung doch ein unmissverständliches Zeichen für die Tendenz der Zeit - den "democratic disconnect" (Foa & Mounk 2016). [http://www.zeit.de/politik/2016-12/harvard-studie-demokratie-junge-menschen-autoritarismus/komplettansicht Wenn jetzt gerade die Jugend das Vertrauen in die Demokratie verliert und andere Systeme attraktiver zu finden beginnt], dann ist es ein schwacher Trost, dass autoritäre Gesellschaftssysteme in der Geschichte sowieso der Normalfall waren und sind - liberale Systeme mit direkter oder repräsentativer Demokratien einst wie jetzt hingegen die große Ausnahme.


Wie in manchen anderen Staaten, so dominiert auch in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine '''aktionistische''' Kriminalpolitik, mit der Politiker auf Empörung oder Druck mit Tatkraft und Entschlossenheit reagieren - nämlich durch die relativ schlichte, schnelle und eindrucksvolle Verabschiedung jeweils neuer Strafgesetze.
'''Forderungen'''
:


=== Prioritäten ===
, war jüngst Gegenstand von Diskussionen auf dem 56. Deutsche Verkehrsgerichtstag in Goslar, wo im Januar 2018 letztlich für "mehr Nachsicht bei minderschweren Fällen von Unfallflucht" plädiert wurde.
Mögliche Reihenfolgen:
 
#Kriminologisch. Erst kontraproduktive Kriminalisierungen zurücknehmen, dann die ineffektiven, dann die ineffizienten, dann die unverhältnismäßig eingreifenden, und schließlich die durch "etwas Besseres als das Strafrecht" ersetzbaren. Das ließe sich in einem Dreischritt unterbringen: erstens das Unzweckmäßige entrümpeln ('''Bereinigung'''), zweitens Zurückschneiden der Vielstraferei auf ein liberal-rechtsstaatliches Kernstrafrecht ('''Reformation'''), und drittens die Ersetzung des Strafrechts durch bessere Formen der Regulation sei es in Form autonomer gesellschaftlicher Konfliktregelung (im Schatten des Leviathan: Stichwort "regulierte Selbstregulation"), sei es auf dem Wege der Restorative Justice oder der Transformative Justice ('''Abolition'''). Was den Unterschied zwischen Kontraproduktivität, Ineffektivität und Ineffizienz angeht, so werden die Kategorien nicht immer scharf voneinander zu unterscheiden sein. Aber kontraproduktiv dürften vor allem diejenigen Strafnormen sein, bei denen die Strafdrohung nicht zur Eindämmung des Verhaltens geführt hat, sondern bei denen sich die Abweichung von der Norm zur Massendelinquenz entwickelt hat. In solchen Fällen, wo das Verhalten trotz einer dauerhaften Verstärkung der Sanktionsanstrengungen - wie im "War on Drugs" - den Charakter der Massenkriminalität angenommen hat, bleibt nur noch die Option, das massenhafte Handeln zu entkriminalisieren, will man die Norm nicht endgültig der Lächerlichkeit preisgeben. (Auch Albrecht spricht sich ausdrücklich für die Entkriminalisierung von Massendelikten aus, sofern diese vergleichsweise geringe Schäden erzeugen.)
#Sozialpolitisch. Erst die Strafgesetze aufheben, mit denen die Interessen privilegierter Gruppen geschützt werden sollen, und danach erst die Gesetze, mit denen bislang unterprivilegierte Gruppen ihren Anspruch auf Gleichheit ("black lives matter") zur Geltung bringen. Also nicht zuerst Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung entkriminalisieren, die vor allem dem Gleichberechtigungsstreben von Frauen Ausdruck verleihen - auch dann, wenn nichtstrafrechtliche Mittel prinzipiell gleich guten Schutz gewährleisten könnten.
#Pragmatisch. Erst die konsensfähigsten Themen bearbeiten, dann die weniger konsensfähigen, auch wenn die entsprechenden Strafgesetze unter strafrechtswissenschaftlichen und kriminologischen Fach-Gesichtspunkten vielleicht dramatischere Begründungsmängel aufweisen.
#Strafrechtstheoretisch. Erst diejenigen, die mit dem idealen liberalen Strafrecht - dem Kernstrafrecht - am wenigsten vereinbar sind.
 
Die höchste Entkriminalisierungs-Evidenz müsste eigentlich mit dem Argument der Unzweckmäßigkeit und Ineffektivität verbunden sein. Da, wo sich das Instrument der Kriminalisierung als untaugliches Mittel zu einem an sich legitimen Zweck darstellt, müsste leicht Konsens über die Abschaffung entsprechender Gesetze herzustellen sein. Wer ein modernes und effizientes Strafrecht will, darf keine Angst vor der Entrümpelung haben. Solche Gesetze gehören auf den Sperrmüll.
 
Das geschulte Auge von Strafrechtswissenschaftlern und Kriminologen erkennt in manchen Gesetzen schon den Gerümpelcharakter zur Zeit ihrer Zusammengeschustertwerdens im Ministerium. Das war zum Beispiel bei der Gleichstellung sexueller '''Übergriffe''' "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person" mit Vergewaltigungen im neuen § 177 StGB von 2016 (Frommel, Kreuzer, Hörnle: Rückfall in "Strafrechtsmoralismus und Prüderie" - Tatjana Hörnle) der Fall, einem Massendelikt, das voraussehbar manche Betroffene, aber auch viele nicht Betroffene zu Anzeigen verleiten wird. Kreuzer erwartet folgenlose Verfahrenseinstellungen; er fordert mit Monika Frommel: "Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte werden am besten von Familiengerichten geregelt." (Auch das Gewaltschutzgesetz böte hier bessere Ansätze), aber auch bei der Verschlimmbesserung des § 244 StGB aus dem Jahr 2017 durch die Aufwertung des Einbruchs in '''Privatwohnungen''', bei dem es nicht einmal mehr eine Strafminderung für minder schwere Fälle geben soll, obwohl diese sogar für den schwereren Tatbestand des bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls existiert. Eine Entrümpelung durch Rücknahme der Neuerungen würde hier nicht zur Entkriminalisierung führen, wohl aber eine Abkehr von der jetzigen Überpönalisierung bedeuten. 
 
Sind die [[Unfallflucht]] und das [[Schwarzfahren]] Fälle für die Entrümpelung? In beiden Fällen wird immer wieder eine Entkriminalisierung gefordert - und in beiden Fällen könnte man vermuten, dass der Erfolg ausblieb, weil die Entkriminalisierungsseite noch über allzu wenig Einfluss verfügt, obwohl sie die besseren Argument auf ihrer Seite hat. Doch sehen wir uns die Sache genauer an.
 
== Bagatell- und Massendelikte ==
Was sind das für Handlungen? Abweichungen vom konformen Konsum (Ladendiebstahl), von kultureller Konformität (Cannabis), von sportpolitischer Konformität (Doping), von außenpolitischer Konformität (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat).
Das ist ein Hinweis darauf, dass das Strafrecht eben nicht das sozialethische Minimum, sozusagen den vorhandenen Grundkonsens über Werte und Normen widerspiegelt und verdoppelt, sondern dass man ihm eine volkserzieherische Aufgabe zumutet und es damit stark be-, wenn nicht vielleicht sogar in manchen Bereichen absolut überlastet.
===Unfallflucht (§ 142 StGB)===
Roland Freisler hatte 1940 die Einführung des damaligen § 139a RStGB mit der Notwendigkeit begründet, die Feigheit zu bestrafen, die das Fliehen vom Unfallort kennzeichne. Die Norm kam aber nie zur Ruhe und wurde nie restlos anerkannt.
 
'''Kritik''':
So wurde sie vielfach als verfassungswidrig angesehen, weil sie den Täter u.U. zur Selbstbelastung verpflichtet (nemo tenetur se ipse accusare) und damit gegen das Rechtsstaatsprinzip verstößt. Auch das Argument des BVerfG (1963), dass der Schutzzweck der Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche Vorrang vor dem Grundrecht des Täters habe, konnte die Diskussion nicht beenden, so dass es am 1.9.1969 zu sprachlichen Änderungen und am 1.1.1975 und am 21.6.1975 zu weiteren Änderungen kam - bis heute halten einige die Verfassungsmäßigkeit des Tatbestands für zweifelhaft und werfen ihm eine Verletzung des Bestimmtheitsgebots oder des Schuldprinzips vor, ganz abgesehen von der systemwidrig weiten Ermöglichung des Strafaufhebungsgrunds der tätigen Reue (Meldung binnen 24 Stunden bei geringem Schaden) seit der Gesetzesänderung vom 1.4.1998: der Täter hat die Möglichkeit, nach Vollendung des Delikts durch Verhalten, das im Interesse des Unfallgeschädigten liegt, eine Milderung der Strafe oder sogar Straflosigkeit zu erlangen. - Ob das unerlaubte Entfernen vom Unfallort - das totz seiner Platzierung unter den Delikten gegen die öffentliche Ordnung in Wirklichkeit dem Schutz privater Vermögensinteressen dient (Feststellung von Informationen über Unfallbeteiligte, die für die Geschädigten von Bedeutung sein können) - überhaupt strafbar sein muss, war jüngst Gegenstand von Diskussionen auf dem 56. Deutsche Verkehrsgerichtstag in Goslar, wo im Januar 2018 letztlich für "mehr Nachsicht bei minderschweren Fällen von Unfallflucht" plädiert wurde.
*Der '''ADAC''' hatte gefordert, bei Bagatellschäden auf Strafverfolgung zu verzichten. Die bisherige Fassung des § 142 StB habe sich nicht bewährt. Unfallverursacher würden sich im Nachhinein aus Angst vor Strafe nicht melden und die Geschädigten so auf ihren Kosten sitzenbleiben. Der VGTZ forderte eine Präzisierung, wie lange Unfallverursacher am Unfallort warten müssen. Das nachträgliche Melden eines Unfalls müsse zudem verstärkt zu Straffreiheit führen.(FAZ v. 27.1.2018: 5: Mehr Nachsicht bei Unfallflucht gefordert.)
*Der '''ADAC''' hatte gefordert, bei Bagatellschäden auf Strafverfolgung zu verzichten. Die bisherige Fassung des § 142 StB habe sich nicht bewährt. Unfallverursacher würden sich im Nachhinein aus Angst vor Strafe nicht melden und die Geschädigten so auf ihren Kosten sitzenbleiben. Der VGTZ forderte eine Präzisierung, wie lange Unfallverursacher am Unfallort warten müssen. Das nachträgliche Melden eines Unfalls müsse zudem verstärkt zu Straffreiheit führen.(FAZ v. 27.1.2018: 5: Mehr Nachsicht bei Unfallflucht gefordert.)


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Die Thematik ist übrigens ernster als gemeinhin wahrgenommen, wenn man hierzulande dazu neigt, sie mit süffisanten Bemerkungen über Kiffer und Kokser zu garnieren. Die Drogenprohibition ist ein weltweites Phänomen und kostete in den letzten Jahrzehnten mehr Menschenleben als viele Kriege zusammengenommen. Die jährlichen Opferzahlen des Krieges gegen die Drogen einschließlich der Kämpfe zwischen Banden, Militär und Polizei etwa in Mexiko oder Brasilien gehen in die Hunderttausende. Dabei ist der eigentliche Skandal die Interesse- und Empathielosigkeit der Welt, vergleichbar der Interesse- und Empathielosigkeit von Medien und Öffentlichkeit in Bezug auf die Opfer der NSU-Morde zu der Zeit, als man noch glaubte, bei den Opfern handele es sich um Leute, die wahrscheinlich in dunkle Drogengeschäfte verwickelt gewesen wären.
Die Thematik ist übrigens ernster als gemeinhin wahrgenommen, wenn man hierzulande dazu neigt, sie mit süffisanten Bemerkungen über Kiffer und Kokser zu garnieren. Die Drogenprohibition ist ein weltweites Phänomen und kostete in den letzten Jahrzehnten mehr Menschenleben als viele Kriege zusammengenommen. Die jährlichen Opferzahlen des Krieges gegen die Drogen einschließlich der Kämpfe zwischen Banden, Militär und Polizei etwa in Mexiko oder Brasilien gehen in die Hunderttausende. Dabei ist der eigentliche Skandal die Interesse- und Empathielosigkeit der Welt, vergleichbar der Interesse- und Empathielosigkeit von Medien und Öffentlichkeit in Bezug auf die Opfer der NSU-Morde zu der Zeit, als man noch glaubte, bei den Opfern handele es sich um Leute, die wahrscheinlich in dunkle Drogengeschäfte verwickelt gewesen wären.


Der heutigen Tendenz zur Ausweitung des Strafrechts durch eine Flut von abstrakten Gefährdungs-, von Organisations- und Unternehmens-Tatbeständen im weiten Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen treten die Vertreter eines liberalen Kernstrafrechts mit der Forderung nach einem Rückbau entgegen. Die Grundlagen eines Kernstrafrechts hatte 1974 schon Arthur Kaufmann skizziert. Und Wolfgang Naucke gab wenig später die Meßlatte vor (1981: 94), die an Strafgesetzgebung anzulegen sei. Danach muss zunächst einmal die Strafwürdigkeit und die Strafbedürftigkeit des Verhaltens nachgewiesen werden. Es sind nachvollziehbare Überlegungen über die voraussichtliche Effektivität und Effizienz des Strafgesetzes anzustellen und darzulegen. Schließlich ist die Strafgesetzgebung zu beschränken "auf jene Taten, die, weil sie die vitalen Güter des einzelnen Menschen, seine Freiheit überhaupt, verletzen, mit Sicherheit strafwürdig sind. Die Gesetze sind klar und deutlich gefasst. Die Strafbarkeitsvoraussetzungen und die Strafen sind für jedermann verständlich. Die Grenzen der Strafbarkeit sind unmissverständlich bestimmt." Alles andere gehört - wenn es überhaupt verbotswürdig und -bedürftig ist - in andere Rechtsgebiete und Sanktionsformen, die in der Regel ebenso effizient sein können (oder effizienter) und zudem ohne sozialethischen Tadel und Freiheitsstrafe auskommen.
Der heutigen Tendenz zur Ausweitung des Strafrechts durch eine Flut von abstrakten Gefährdungs-, von Organisations- und Unternehmens-Tatbeständen im weiten Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen treten die Vertreter eines liberalen Kernstrafrechts mit der Forderung nach einem Rückbau entgegen. Die Grundlagen eines Kernstrafrechts hatte 1974 schon Arthur Kaufmann skizziert. Und Wolfgang Naucke gab wenig später die Meßlatte vor (1981: 94), die an Strafgesetzgebung anzulegen sei. Danach muss zunächst einmal die Strafwürdigkeit und die Strafbedürftigkeit des Verhaltens nachgewiesen werden. Es sind nachvollziehbare Überlegungen über die voraussichtliche Effektivität und Effizienz des Strafgesetzes anzustellen und darzulegen. Schließlich ist die Strafgesetzgebung zu beschränken "auf jene Taten, die, weil sie die vitalen Güter des einzelnen Menschen, seine Freiheit überhaupt, verletzen, mit Sicherheit strafwürdig sind. Die Gesetze sind klar und deutlich gefasst. Die Strafbarkeitsvoraussetzungen und die Strafen sind für jedermann verständlich. Die Grenzen der Strafbarkeit sind unmissverständlich bestimmt." Alles andere gehört - wenn es überhaupt verbotswürdig und -bedürftig ist - in andere Rechtsgebiete und Sanktionsformen, die in der Regel ebenso effizient sein können (oder effizienter) und zudem ohne sozialethischen Tadel und Freiheitsstrafe auskommen.
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Die Forderung nach einer Reduzierung des Strafrechts auf ein Kernstrafrecht entspricht der Grundidee des freiheitlichen Rechtsstaats, staatliche Eingriffe in die Sphäre der Bürger so gering wie möglich zu halten. Dementsprechend hatte schon Montesquieu gesagt: "Jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch." Mittermaier sah schon 1819 einen "Grundfehler" darin, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“ Ähnlich Franz von Liszt: „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“ (zit. nach Roos 1981: 7 f.). Und auch der ultima ratio Grundsatz gebietet bekanntlich, das Strafrecht als schwerstes Eingriffsinstrument nur dann einzusetzen, wenn andere Möglichkeiten ausgereizt sind.
Die Forderung nach einer Reduzierung des Strafrechts auf ein Kernstrafrecht entspricht der Grundidee des freiheitlichen Rechtsstaats, staatliche Eingriffe in die Sphäre der Bürger so gering wie möglich zu halten. Dementsprechend hatte schon Montesquieu gesagt: "Jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch." Mittermaier sah schon 1819 einen "Grundfehler" darin, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“ Ähnlich Franz von Liszt: „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“ (zit. nach Roos 1981: 7 f.). Und auch der ultima ratio Grundsatz gebietet bekanntlich, das Strafrecht als schwerstes Eingriffsinstrument nur dann einzusetzen, wenn andere Möglichkeiten ausgereizt sind.


Welche Gesetze kommen als "nicht erforderlich" in Betracht? Einen erste Hinweis liefert eine kleine Liste, die Arthur Kreuzer im Dezember 2017 in der ZEIT unter dem Titel ''Reformiert endlich das Strafrecht!'' veröffentlicht hatte.  
Welche Gesetze kommen als "nicht erforderlich" in Betracht? Einen erste Hinweis liefert eine kleine Liste, die Arthur Kreuzer im Dezember 2017 in der ZEIT unter dem Titel ''Reformiert endlich das Strafrecht!'' veröffentlicht hatte.


===Eigendoping (§ 4 AntiDopG von 2015) ===
== Meinung und Mitgliedschaft in der Politik ==
'''Kritik''': verfassungswidrige Strafbarkeit zum Schutz des Sportlers vor sich selbst: "Diese steht allerdings nicht nur in Widerspruch zu den sonstigen strafrechtlichen Grundsätzen und der Systematik des StGB. Es bleibt außerdem insbesondere fraglich, welcher positive Zweck zum Schutz der Gesundheit mit einer Strafandrohung gegenüber einem sich aus freien Stücken selbst an der Gesundheit Schädigenden erreicht werden könnte" (Bott/Mitsch 2018). Nach Kreuzer wären Unterbindung und Sanktionierung durch Verbandsstrafen auf der Ebene der Fachverbände ausreichend und effektiver. Kriminalisierung nutzlos und systemwidrig. Internationaler Vergleich: wo es im Ausland entsprechende Kriminalisierungen gibt, wurde noch kein einziger Sportler wegen Eigendopings verurteilt. Weder strafwürdig noch strafbedürftig.


== Politische Delikte ==
=== Verbreiten von Propagandamitteln und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§§ 86 und 86a StGB)===
Die verfassungsrechtliche Kritik hat keine politische Partei zur Aufnahme einer Entkriminalisierungsforderung in ihr Programm bewegen können.
§ 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB stelle allein einen Bezug zum Gedankengut einer nicht mehr existenten nationalsozialistisichen Organisation her. Das rücke die vorschrift in den Verdacht, dass hier allenfalls olitische Meinungen bekämpft werden sollen, was robleme mit Art. 5 GG und der dort verbürgten Meinungsfreiheit heaufbeschwöert (Lptger JR 1969, 19; So kommt man im Ergebnis dann auch dazu, mit Hinweis auf einen zu lockeren bzw. auch überhaupt nicht existeenten Organisationsbezug die Verfassungswidrigkeit von § 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB zu unterstellen. NI4/Paeffgen, § 86 Rn. 2 und Rn. 6.


===Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§ 89a StGB von 2015) ===
[https://lexetius.com/StGB/86a,2 § 86a StGB] soll nicht nur die Wiederbelebung des  Nationalsozialismus verhindern, sondern jeden Anschein einer Duldung vermeiden. Vertrackt sind hierbei wie immer die Zweifelsfälle: Etwa, wenn nicht ganz klar wird, ob ein Symbol der Unterstützung oder Diffamierung dienen soll, oder wenn es in ein vorgeblich harmloses Symbol variiert wird, das Eingeweihte aber als Code erkennen.
Hörnle NStZ 2002, 114 Fn. 16 Schutzgut öffentlicher Friede problematisch. Staatsschutz ebenfalls. Vorfeldkriminalisierung.


'''Kritik''': Kriminalisierung nicht notwendig. Besser wäre: ordnungsbehördliches Ausreiseverbot. Was im Straftatbestand als Vorbereitung bezeichnet wird, nennt selbst der BGH "den Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung" und sieht den "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" tangiert. Kreuzer: "Strafbar ist bereits, wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden zu lassen, die es ihm ermöglichen, später islamistische Aktionen zu unterstützen. Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Ohne dass hier eine wirkliche Straftat vorliegt, will man Tatgeschehen künstlich behaupten, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen." Jedenfalls nicht strafwürdig und nicht strafbedürftig.
[https://books.google.de/books?id=HxHXeP6wKAYC&pg=PA101&lpg=PA101&dq=Problematik+des+%C2%A7+86a+StGB&source=bl&ots=LRTqU0h7Na&sig=DVNqUk017h47XrknOYUEHcGvaUM&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwinsdfWvozZAhWSr6QKHWdOBccQ6AEIWTAI#v=onepage&q=Problematik%20des%20%C2%A7%2086a%20StGB&f=false Lutz Eidam (2015) Der Organisationsgedanke im Strafrecht, S. 100]


Einzelne Mitglieder der Piratenpartei sprachen sich für die Abschaffung aus, weil das Verbot den Objekten eine Kraft verleihe, die ihnen nicht zukommen solle. 2014 forderte Höcke in einer parteiinternen E-Mail die Abschaffung von § 86 (Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen) und § 130 StGB (Volksverhetzung und die Leugnung des Holocausts).


===Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§§ 129a,b StGB) ===
===Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§§ 129a,b StGB) ===
Der Paragraph 129 a, b StGB ist seit seiner  
Der Paragraph 129 a, b StGB ist seit seiner  
Entstehung  umstritten.  Nicht  zuletzt  an-
Entstehung  umstritten.  Nicht  zuletzt  an-
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grenzung strafrechtlichen Staatsschutzes auf dieVerteidigung  der  staatlichen  Ordnung  und  Inte-grität.  Autoritäre  Strömungen  versuchten  stets, den Präventivkampf gegen politische Abweichler-Innen mit vordemokratischen Elementen, wie der Vorverlagerung von Strafbarkeit, zu führen. (Drohsel 2008).
grenzung strafrechtlichen Staatsschutzes auf dieVerteidigung  der  staatlichen  Ordnung  und  Inte-grität.  Autoritäre  Strömungen  versuchten  stets, den Präventivkampf gegen politische Abweichler-Innen mit vordemokratischen Elementen, wie der Vorverlagerung von Strafbarkeit, zu führen. (Drohsel 2008).


== Äußerungsdelikte ==
=== Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter (§ 103 StGB) ===
=== Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter (§ 103 StGB) ===
[https://dejure.org/gesetze/StGB/103.html § 103 StGB] war ein Sondertatbestand der Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten. Nach einem im Fernsehen ausgestrahlten Schmähgedicht von Jan Böhmermann auf den türkischen Präsidenten galt § 103 StGB vielen als nicht mehr zeitgemäß. Während sich Joachim Gauck als damaliger Bundespräsident zurückhaltend zur Abschaffung äußerte, machten SPD und Grüne Druck über den Bundesrat, die nach dem Skandal sowieso schon konsentierte Aufhebung des Gesetzes noch zu beschleunigen. Im Gesetzgebungsverfahren hatte der Bundesrat in seiner 954. Sitzung am  10.  März 2017 vorgeschlagen, das Datum des Inkrafttretens vorzuverlegen auf den Tag nach der Verkündung im Bundesgesetzblatt, und zwar mit der beispielhaften "Begründung: § 103 StGB ist aufzuheben. Es besteht kein sachlicher Grund, den Wegfall der Norm hinauszuzögern." Der Bundestag blieb aber bei seinem Zeitplan, der Bundesrat verzichtete auf die Anrufung des Vermittlungsausschusses und das Gesetz wurde dann mit Wirkung vom 01.01.2018 durch das Gesetz zur Reform der Straftaten gegen ausländische Staaten vom 17.07.2017 (BGBl. I S. 2439) aufgehoben.
[https://dejure.org/gesetze/StGB/103.html § 103 StGB] war ein Sondertatbestand der Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten. Nach einem im Fernsehen ausgestrahlten Schmähgedicht von Jan Böhmermann auf den türkischen Präsidenten galt § 103 StGB vielen als nicht mehr zeitgemäß. Während sich Joachim Gauck als damaliger Bundespräsident zurückhaltend zur Abschaffung äußerte, machten SPD und Grüne Druck über den Bundesrat, die nach dem Skandal sowieso schon konsentierte Aufhebung des Gesetzes noch zu beschleunigen. Im Gesetzgebungsverfahren hatte der Bundesrat in seiner 954. Sitzung am  10.  März 2017 vorgeschlagen, das Datum des Inkrafttretens vorzuverlegen auf den Tag nach der Verkündung im Bundesgesetzblatt, und zwar mit der beispielhaften "Begründung: § 103 StGB ist aufzuheben. Es besteht kein sachlicher Grund, den Wegfall der Norm hinauszuzögern." Der Bundestag blieb aber bei seinem Zeitplan, der Bundesrat verzichtete auf die Anrufung des Vermittlungsausschusses und das Gesetz wurde dann mit Wirkung vom 01.01.2018 durch das Gesetz zur Reform der Straftaten gegen ausländische Staaten vom 17.07.2017 (BGBl. I S. 2439) aufgehoben.


=== Gotteslästerung (§ 166 StGB) ===
=== Gotteslästerung (§ 166 StGB) ===
Im Schönfelder heißt [https://dejure.org/gesetze/StGB/166.html § 166 StGB] natürlich nicht mehr Gotteslästerung oder Blasphemie, sondern "Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen" und bedroht mit Geldstrafe oder Gefängnis bis zu drei Jahren, wer "in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören", den Inhalt von anderer Leute religiöser Lehre oder eine Kirche oder Religion beschimpft.  
Im Schönfelder heißt [https://dejure.org/gesetze/StGB/166.html § 166 StGB] natürlich nicht mehr Gotteslästerung oder Blasphemie, sondern "Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen" und bedroht mit Geldstrafe oder Gefängnis bis zu drei Jahren, wer "in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören", den Inhalt von anderer Leute religiöser Lehre oder eine Kirche oder Religion beschimpft. Jährlich kommt es zu ca. 15 Verurteilungen.
 
Geschütztes Rechtsgut ist der öffentliche Frieden, nicht das Bekenntnis als solches oder die bloßen Gefühle seiner Anhänger. Beschimpfen ist eine besonders gravierende herabsetzende Äußerung. Die beschimpfenden Äußerungen müssen nicht an die Kreise gerichtet sein, in denen sie zur Störung des öffentlichen Friedens führen können. Es genügt, wenn zu befürchten ist, dass sie dort bekannt werden.
 
§ 166 StGB ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt, d.h. der öffentliche Frieden muss durch die Beschimpfung nicht tatsächlich gefährdet sein, sondern berechtigte Gründe für die Befürchtung, der öffentliche Frieden könnte gestört werden, reichen aus. Die Beurteilung, ob das der Fall ist, soll aus der Perspektive eines objektiven, nicht besonders empfindlichen Beobachters erfolgen.
 
'''Kritik'''
Kritiker sehen in der Vorschrift eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. Die Beleidigungstatbestände und die Strafbarkeit der Volksverhetzung [http://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-01/blasphemie-charlie-hebdo-bosbach müssten als Schutz für Religiöse genügen] (Volker Beck). Insbesondere durch eine einseitige Anwendung verleite der Paragraph zu einem Schutz der Mehrheitsmeinung, nicht aber zwangsläufig zum Schutz einer Minderheitsmeinung, da die Interessen kleinerer Gruppen seltener mit dem „öffentlichen Frieden“ gleichgesetzt werden. Sie lehnen den Paragraphen auch als sogenannten Gummiparagraphen ab, insbesondere, weil nicht klar sei, wie „Beschimpfung“ zu definieren ist – darunter könne jede negative Äußerung fallen. Noch fraglicher sei, wann eine solche „Beschimpfung“ geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören (die „Eignung“ reicht; sog. abstraktes Gefährdungsdelikt). Kritiker behaupten, eine solche „Friedensstörung“ könne – analog zur Volksverhetzung – a posteriori (nachträglich) konstruiert werden, wenn sich Gläubige beschwerten. Zudem kann die Friedensstörung durch die betroffene Religionsgemeinschaft bewusst herbeigeführt werden, damit der Paragraph zur Anwendung kommen kann, beispielsweise durch Anwendung von Gewalt gegen die "Gotteslästerer" oder durch die Blockade eines Theaters, in dem ein religionskritisches Stück aufgeführt werden soll. Andererseits könne in politischen Wetterlagen, in denen die Verfolgung von Gotteslästerern nicht opportun sei, fast immer damit argumentiert werden, der Beschuldigte sei nicht bekannt genug, um mit seinen Äußerungen eine breite Öffentlichkeit zu schockieren.- Kritisiert wird, dass der Staat damit das kritische Denken unterdrücke: „Das zentrale Merkmal der Aufklärung ist, alles hinterfragen zu dürfen. Das Licht der Vernunft soll in jeden Winkel scheinen, um Unterdrückung, Aberglaube, Intoleranz und Vorurteile zu überwinden. (...) Der Staat macht sich mit solchen Gesetzen zum Unterstützer der Feinde des offenen Diskurses. Vertreter jedweder Ideologie, ob politisch oder religiös, müssen es schlicht ertragen können, dass ihre Weltanschauung hinterfragt, kritisiert und, ja, auch lächerlich gemacht wird.“ - Der Paragraph ist stark in der Kritik von atheistischen Gruppen und Kirchenkritikern sowie von Künstlern, die sich in ihrer Freiheit beschnitten fühlen. Kurt Tucholsky meinte zu diesem „mittelalterlichen Diktaturparagraphen“ (in der vorhergehenden Fassung): „Ich mag mich nicht gern mit der Kirche auseinandersetzen; es hat ja keinen Sinn, mit einer Anschauungsweise zu diskutieren, die sich strafrechtlich hat schützen lassen.“
 
Der Philosoph Michael Schmidt-Salomon kritisierte nach dem Anschlag auf das Redaktionsbüro der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, dass „[d]er öffentliche Friede […] nicht durch Künstler gestört [wird], die Religionen satirisch aufs Korn nehmen, sondern durch Fanatiker, die auf Kritik nicht angemessen reagieren können“. Er forderte die Abschaffung des § 166 StGB: „In der Praxis hat dieser Paragraph zu einer völligen Verkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses geführt. Namhafte Künstler wie Kurt Tucholsky oder George Grosz wurden mit Hilfe dieses Zensurparagraphen gemaßregelt. Tatsächlich aber wurde der öffentliche Friede niemals durch kritische Kunst bedroht, sondern vielmehr durch religiöse oder politische Fanatiker, die nicht in der Lage waren, die künstlerische Infragestellung ihrer Weltanschauung rational zu verarbeiten.“


"Nach dem Anschlag auf 'Charlie Hebdo': Gotteslästerungsparagraphen 166 StGB abschaffen!", forderte nicht nur die Giordano-Bruno-Stiftung (08.01.2015). Auch die [https://www.fdp.de/forderung/100-2 FDP nahm diese Forderung in ihr Programm auf]: der Staat solle die Kunstfreiheit schützen - und nicht die Gefühle religiöser Fanatiker. "Auch wenn absichtliche Schmähungen Andersgläubiger oder Andersdenkender nicht förderlich für ein friedliches Miteinander sind, halten wir den Blasphemie-Paragraphen 166 StGB für überflüssig und wollen ihn abschaffen."
"Nach dem Anschlag auf 'Charlie Hebdo': Gotteslästerungsparagraphen 166 StGB abschaffen!", forderte nicht nur die Giordano-Bruno-Stiftung (08.01.2015). Auch die [https://www.fdp.de/forderung/100-2 FDP nahm diese Forderung in ihr Programm auf]: der Staat solle die Kunstfreiheit schützen - und nicht die Gefühle religiöser Fanatiker. "Auch wenn absichtliche Schmähungen Andersgläubiger oder Andersdenkender nicht förderlich für ein friedliches Miteinander sind, halten wir den Blasphemie-Paragraphen 166 StGB für überflüssig und wollen ihn abschaffen."
*[https://weltanschauungsrecht.de/meldung/Abschaffung-§166-StGB-Jamaika  30.09.2017 - (ifw) die Forderung zur Abschaffung des § 166 Strafgesetzbuch (StGB) durch den Deutschen Bundestag bekräftigt. Laut ifw ist die rechtspolitische Ausgangslage für eine Abschaffung des Blasphemieparagrafen so gut, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Zu dieser Einschätzung kommt das Institut nach einer ...Institut für Weltanschauungsrecht]
Zu den rechtspolitischen Gründen der Abschaffungsforderung sagt Jacqueline Neumann, wissenschaftliche Koordinatorin des ifw: "Der § 166 StGB verletzt das Rechtsstaatsprinzip und den Bestimmtheitsgrundsatz im Grundgesetz." Gemäß Grundgesetz Art. 103 Abs. 2 muss die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt sein, bevor die Tat begangen wurde. Jedoch wird nach § 166 StGB die Meinungsäußerung erst nachträglich durch das Handeln des "Opfers" zu einer Straftat, nämlich, wenn das "Opfer" für eine Störung des öffentlichen Friedens sorgt oder damit droht oder einer Religionsgruppe angehört, bei der die deutschen Strafverfolgungsbehörden mit einer Störung des öffentlichen Friedens rechnen können. Zudem ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten der Bestimmtheitsgrundsatz einzuhalten. Der "öffentliche Friede", definiert als Zustand allgemeiner Rechtssicherheit ermöglicht keine Abgrenzung straflosen und strafbewehrten Verhaltens. Als Unrechtsbegründung bleibt der Hinweis auf eine drohende Trübung der Sicherheitserwartungen zirkulär: Der öffentliche Frieden soll nur durch eine Unrechtstat gestört werden können, die gerade deswegen Unrechtstat ist, weil sie den öffentlichen Frieden störe. Der Ansatz setzt den Unrechtsgehalt der Handlung voraus, den es erst noch zu begründen gilt. Nicht das Unrecht des potenziellen Gefährdungserfolges, sondern der Tat (des Beschimpfens) muss begründet werden. (Stübinger, Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 166 Rn. 2).


=== Holocaust-Leugnung (§ 130 Abs. 3 StGB) ===
=== Holocaust-Leugnung (§ 130 Abs. 3 StGB) ===
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Die ehemaligen Verfassungsrichter Winfried Hassemer und Wolfgang Hoffmann-Riem kritisierten (2008) das Verbot der Holocaustleugnung: Die auf § 130 Absatz 3 StGB beruhende Rechtsprechung sei ungeeignet, die Menschenwürde der Opfernachfahren zu schützen. Die streitbare Demokratie solle es unterlassen, „durch Repression Märtyrer zu schaffen“.
Die ehemaligen Verfassungsrichter Winfried Hassemer und Wolfgang Hoffmann-Riem kritisierten (2008) das Verbot der Holocaustleugnung: Die auf § 130 Absatz 3 StGB beruhende Rechtsprechung sei ungeeignet, die Menschenwürde der Opfernachfahren zu schützen. Die streitbare Demokratie solle es unterlassen, „durch Repression Märtyrer zu schaffen“.
Zur Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens: siehe § 166 StGB.
Zu Gruppen, die in der Lage sind, eine solche Störung herzustellen: siehe Feest Meinungsfreiheit. Und:


'''Antikritik:'''
'''Antikritik:'''
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==Sexualität, Fortpflanzung, Sterben ==
==Sexualität, Fortpflanzung, Sterben ==
===Homosexualität (§ 175 StGB)===
===Homosexualität (§ 175 StGB)===
Der § 175 des deutschen Strafgesetzbuches (§ 175 StGB) existierte vom 1. Januar 1872 (Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches) bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Bis 1969 bestrafte er auch die „widernatürliche Unzucht mit Tieren“ (ab 1935 nach § 175b ausgelagert). Insgesamt wurden etwa 140.000 Männer nach den verschiedenen Fassungen des § 175 verurteilt. 1935 wurde die Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis angehoben. Außerdem wurde der Tatbestand von beischlafähnlichen auf sämtliche „unzüchtigen“ Handlungen ausgeweitet. Der neu eingefügte § 175a bestimmte für „erschwerte Fälle“ zwischen einem und zehn Jahren Zuchthaus.  
§ 175 StGB existierte von 1872 (Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches) bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Bis 1969 bestrafte er auch die „widernatürliche Unzucht mit Tieren“ (ab 1935 nach § 175b ausgelagert). Insgesamt wurden etwa 140.000 Männer nach den verschiedenen Fassungen des § 175 verurteilt. 1935 wurde die Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis angehoben. Außerdem wurde der Tatbestand von beischlafähnlichen auf sämtliche „unzüchtigen“ Handlungen ausgeweitet. Der neu eingefügte § 175a bestimmte für „erschwerte Fälle“ zwischen einem und zehn Jahren Zuchthaus.  
 
In der Bundesrepublik hielt man (anders als in der DDR, deren Oberstes Gericht den Homosexuellen gleiche Bürgerrechte zusprach und die den § 151 im Dezember 1988 mit Wirkung zum 1.7.1989 aufhob) an den §§ 175 und 175a aus der Zeit des Nationalsozialismus fest. Auch noch der E62 sprach sich nachdrücklich dafür aus. In der DDR hatte das Oberste Gericht schon 1987 festgestellt: „Homosexualität ebenso wie Heterosexualität eine Variante des Sexualverhaltens darstellt. Homosexuelle Menschen stehen somit nicht außerhalb der sozialistischen Gesellschaft, und die Bürgerrechte sind ihnen wie allen anderen Bürgern gewährleistet.“ Am 14. Dezember 1988 wurde § 151 mit Wirkung vom 1.7.1989 ersatzlos gestrichen, was blieb, war eine einheitliche Regelung des Schutzalters gegen sexuellen Missbrauch bei 16 Jahren. - Dann kam es in mehreren Schritten zur Entkriminalisierung. Am 23. November 1973 führte das Kabinett Brandt II (eine sozialliberale Koalition) eine umfassende Reform des Sexualstrafrechts durch. Der entsprechende Abschnitt im StGB wurde von „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ in „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ umbenannt. Ebenso wurde der Begriff der Unzucht durch den der „sexuellen Handlungen“ ersetzt. Im § 175 blieb nur noch der Sex mit Minderjährigen als qualifizierendes Merkmal zurück, wobei man das sogenannte Schutzalter von 21 auf 18 Jahre absenkte.  Ab 1975 kam es jährlich nur mehr zu maximal 200 Verurteilungen.
 
Das Wahlprogramm der FDP zur Bundestagswahl 1980 forderte, „um Homosexuelle rechtlich und gesellschaftlich gleichzustellen“, „§ 175 zu streichen. Für den Schutz von Kindern und Abhängigen reichen die übrigen Strafbestimmungen aus.“[33] Die FDP konnte diese Forderung in den Verhandlungen zur Regierungsbildung (Kabinett Schmidt III) nicht durchsetzen.[34][35][36]
 
Am 9. März 1989 brachten 40 Abgeordnete und die Fraktion Die Grünen einen Gesetzentwurf zur ersatzlosen Streichung des §§ 175 StGB im Deutschen Bundestag ein,[37] der jedoch sowohl von der Regierungskoalition aus CDU und FDP als auch von der SPD abgelehnt wurde.
 
Die Wiedervereinigung änderte zunächst nichts an der unterschiedlichen Behandlung der Homosexualität in Ost und West. Der Einigungsvertrag setzte zwar das Bundes-StGB im Beitrittsgebiet in Kraft, jedoch mit der Maßgabe, dass u. a. §§ 175, 182 und 236 (Entführung mit Willen der Entführten) nicht anzuwenden seien (Anlage I Kap. III Sachgebiet C Abschnitt III Nr. 1) und u. a. §§ 149, 153-155 StGB-DDR in Kraft blieben (Anlage II Kap. III Sachgebiet C Abschnitt I Nr. 1).Im Jahr 1994 beschloss der Bundestag mit dem 29. Strafrechtsänderungsgesetz vom 31. Mai 1994 die ersatzlose Aufhebung des § 175 StGB. Das absolute Schutzalter für sexuelle Handlungen wurde einheitlich auf 14 Jahre festgelegt (Sexueller Missbrauch von Kindern, § 176 StGB); zusätzlich wurde für besondere Fälle der Sexueller Missbrauch von Jugendlichen (§ 182 StGB) mit einem relativen Schutzalter von 16 Jahren ausgeweitet und geschlechtsneutral formuliert. Ein Verstoß gegen § 182 Abs. 3 StGB wird gemäß § 182 Abs. 5 StGB im Gegensatz zu einem Verstoß gegen § 176 StGB grundsätzlich nur auf Antrag verfolgt (relatives Antragsdelikt), es sei denn, dass die Staatsanwaltschaft ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung als gegeben ansieht.
 


Die Bundesrepublik Deutschland hielt zwei Jahrzehnte lang an den Fassungen der §§ 175 und 175a aus der Zeit des Nationalsozialismus fest.      Der E62 sprach sich nachdrücklich für die Beibehaltung aus. Begründung: „Vor allem stände auch für die Homosexuellen nichts im Wege, ihre nähere Umgebung durch Zusammenleben in eheähnlichen Verhältnissen zu belästigen.[23] […] Ausgeprägter als in anderen Bereichen hat die Rechtsordnung gegenüber der männlichen Homosexualität die Aufgabe, durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde.“[24]
'''Kritik:'''


und meinte weiterhin:
'''Antikritik:'''
Der E62 wandte sich Entkriminalisierungsforderungen mit der Begründung, dass im Falle einer Entkriminalisierung ja für die Homosexuellen nichts im Wege stünde, "ihre nähere Umgebung durch Zusammenleben in eheähnlichen Verhältnissen zu belästigen. […] Ausgeprägter als in anderen Bereichen hat die Rechtsordnung gegenüber der männlichen Homosexualität die Aufgabe, durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde.“ - Weiterhin: „Die von interessierten Kreisen in den letzten Jahrzehnten wiederholt aufgestellte Behauptung, dass es sich bei dem gleichgeschlechtlichen Verkehr um einen natürlichen und deshalb nicht anstößigen Trieb handele, kann nur als Zweckbehauptung zurückgewiesen werden. […] Wo die gleichgeschlechtliche Unzucht um sich gegriffen und großen Umfang angenommen hat, war die Entartung des Volkes und der Verfall seiner sittlichen Kraft die Folge.“[25] 1969 kam es zu einer ersten, 1973 zu einer zweiten Reform. Seitdem waren nur noch sexuelle Handlungen mit männlichen Jugendlichen unter 18 Jahren strafbar, wogegen das Schutzalter bei lesbischen und heterosexuellen Handlungen bei 14 Jahren lag. Erst nach der Wiedervereinigung wurde 1994 § 175 auch für das Gebiet der alten Bundesrepublik ersatzlos aufgehoben.


    „Die von interessierten Kreisen in den letzten Jahrzehnten wiederholt aufgestellte Behauptung, dass es sich bei dem gleichgeschlechtlichen Verkehr um einen natürlichen und deshalb nicht anstößigen Trieb handele, kann nur als Zweckbehauptung zurückgewiesen werden. [] Wo die gleichgeschlechtliche Unzucht um sich gegriffen und großen Umfang angenommen hat, war die Entartung des Volkes und der Verfall seiner sittlichen Kraft die Folge.“[25] 1969 kam es zu einer ersten, 1973 zu einer zweiten Reform. Seitdem waren nur noch sexuelle Handlungen mit männlichen Jugendlichen unter 18 Jahren strafbar, wogegen das Schutzalter bei lesbischen und heterosexuellen Handlungen bei 14 Jahren lag. Erst nach der Wiedervereinigung wurde 1994 § 175 auch für das Gebiet der alten Bundesrepublik ersatzlos aufgehoben.
Fazit: Der § 175 wäre ohne das Engagement der Betroffenen womöglich bis heute noch nicht abgeschafft. Das spricht dafür, auch in anderen Fällen - z.B. bei der Drogenentkriminalisierung - mit weniger Süffisanz zu reagieren, wenn unmittelbar Betroffene sich politisch engagieren. Weiterhin ist auch für andere Entkriminalisierungen beachtenswert, dass diejenigen entschädigt wurden, die aufgrund des Paragraphen im Gefängnis gesessen hatten. 2002 beschloss der Bundestag gegen Stimmen von CDU/CSU und FDP eine Ergänzung zum Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (BGBl. 2002 I S. 2714). Damit wurden Verurteilungen wegen homosexueller Handlungen und wegen Fahnenflucht in der Zeit des Nationalsozialismus für nichtig erklärt. Am 12. Oktober 2012 beschloss der Bundesrat auf Antrag der Länder Berlin, Brandenburg, Hamburg und Nordrhein-Westfalen eine Aufforderung an die Bundesregierung, „Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung für die nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen Verurteilten vorzuschlagen.“ Die Bundesregierung griff das Thema jedoch zunächst nicht mehr auf,[45] und der Bundestag lehnte die im selben Zeitraum eingereichten Anträge der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Linksfraktion ab.- Am 22. März 2017 beschloss das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Aufhebung der Urteile, die aufgrund des § 175 StGB gefällt wurden, und zur Entschädigung der noch lebenden Verurteilten. Der Gesetzentwurf wurde am 22. Juni 2017 in zweiter und dritter Beratung im Bundestag verabschiedet. Rehabilitiert wurden auf Drängen der CDU lediglich jene Opfer, deren Sexualpartner seinerzeit mindestens 16 Jahre alt gewesen waren. Die Einschränkung wurde in der SPD kritisiert, da die ursprünglich vorgesehene Altersgrenze dem geltenden allgemeinen Schutzalter von 14 Jahren entsprochen hatte, jedoch stimmte die Fraktion dem Gesetzentwurf zu.


In der DDR hatte das Oberste Gericht schon 1987 festgestellt: „Homosexualität ebenso wie Heterosexualität eine Variante des Sexualverhaltens darstellt. Homosexuelle Menschen stehen somit nicht außerhalb der sozialistischen Gesellschaft, und die Bürgerrechte sind ihnen wie allen anderen Bürgern gewährleistet.“ Am 14. Dezember 1988 wurde § 151 mit Wirkung vom 1.7.1989 ersatzlos gestrichen, was blieb, war eine einheitliche Regelung des Schutzalters gegen sexuellen Missbrauch bei 16 Jahren.
Das Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen (StrRehaHomG) trat am 22. Juli 2017 in Kraft.


Das Bundesjustizministerium schätzte Mitte 2017 die Zahl der noch lebenden Opfer der Strafnorm auf rund 5000. Sie sollen mit 3000 Euro pro Urteil und 1500 Euro pro angefangenem Jahr eines Freiheitsentzugs entschädigt werden.


===Pädophilie (§ 176 StGB)===
===Pädophilie (§ 176 StGB)===
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=== Exhibitionismus (§ 183 StGB) ===
=== Exhibitionismus (§ 183 StGB) ===
Deutschland muss den Strafparagraph Exhibitionismus (http://dejure.org/gesetze/StGB/183.html § 183 StGB) abschaffen! Grundsätzlich Antragsdelikt, bis zu einem Jahr.
Deutschland muss den Strafparagraph Exhibitionismus (http://dejure.org/gesetze/StGB/183.html § 183 StGB) abschaffen! Grundsätzlich Antragsdelikt, bis zu einem Jahr.
=== Stimulierende Kinderbilder (Posingmaterial; § 184b StGB von 2015) ===
Schon im November 2008 war durch Erweiterung des [https://dejure.org/gesetze/StGB/184b.html § 184b] die Straftat des Verbreitens, Erwerbs und Besitzes sog. Posing-Fotos geschaffen worden. Das setzte allerdings „sexuelle Handlungen von Kindern“ voraus; nunmehr geht es nicht mehr darum, sonderrn auch um Bilder von Kindern, die vielleicht nur schlafend daliegen oder um Nahaufnahmen des Gesäßes. Dazu kam die Strafbarkeit des Versuchs in Absatz 4. Inzwischen genügt der Versuch des Beschaffens stimulierender Kinderbilder für eine gehörige Strafbarkeit nach § 184b StGB (3 Monate bis zu 5 Jahren).
'''Kritik''': Nunmehr reicht für die Strafbarkeit, Pornolinks anzuklicken. Den Aufruf einer solchen Website rückgängig zu machen, befreit nicht von der Strafbarkeit. Hier wird ein massenhaftes Verhalten auch von jungen Menschen kriminalisiert - mit der absehbaren Folge von Denunziationen unliebsamer Bekannter und dass "Unschuldige ins Visier der Justiz geraten" (FAZ)."


=== Abtreibung (§ 218 bis 219a StGB) ===
=== Abtreibung (§ 218 bis 219a StGB) ===
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Liberalisierung des zuvor strikt geltenden  Abtreibungsverbots  von  vielen  angestrebt  wurde, blieb  der Weg  dahin  offen.  Selbst  im  
Liberalisierung des zuvor strikt geltenden  Abtreibungsverbots  von  vielen  angestrebt  wurde, blieb  der Weg  dahin  offen.  Selbst  im  
AE  der  „Alternativ-Professoren“  favorisierte  nur  eine  Mehrheit  eine  Fristenlösung,  die  Min-
AE  der  „Alternativ-Professoren“  favorisierte  nur  eine  Mehrheit  eine  Fristenlösung,  die  Min-
derheit dagegen eine Indikationslösung (zur Vorgeschichte BVerfGE 39, 1, 3). Die 1974 mit dem 5. StrRG eingeführte Fristenlösung wurde 1975 für verfassungswidrig erklärt (BVerfGE 39, 1), 1976 daraufhin eine Indikationenlösung verabschiedet. Da in der DDR eine Fristenlösung galt, die in der Bevölkerung wohl weitgehend akzeptiert war und aufgrund relativ guter Bedingungen für Kinder auch nicht zu einer Erhöhung  der Zahl der Schwangerschaftsabbrüche geführt hatte, sah der Einigungsvertrag zunächst eine Fortgeltung der geteilten Rechtslage  vor.  1992  wurde  erneut  eine  gesamtdeutsche  Fristenlösung  verabschiedet,  die  aber 1993  abermals  für  verfassungswidrig  erklärt  wurde  (BVerfGE  88,  203).  Beide  Entscheidungen waren innerhalb des BVerfG umstritten; das zeigen die Sondervoten (BVerfGE 39, 1, 683ff.; 88, 203, 338 ff.). 1994 wurde dann die heute geltende Fassung der §§ 218 ff. StGB verabschiedet  und  die  Nötigung  zu  einem  Schwangerschaftsabbruch  als  besonders  schwerer Fall in § 240 IV Nr. 2 StGB aufgenommen.   
derheit dagegen eine Indikationslösung (zur Vorgeschichte BVerfGE 39, 1, 3). Zwar stufte schon das erste StrRG von 1969 die Abtreibung vom Verbrechen zum Vergehen herab, doch die 1974 mit dem 5. StrRG eingeführte Fristenlösung wurde 1975 für verfassungswidrig erklärt (BVerfGE 39, 1) und es wurde dann 1976 eine Indikationenlösung verabschiedet. Da in der DDR eine Fristenlösung galt, die in der Bevölkerung wohl weitgehend akzeptiert war und aufgrund relativ guter Bedingungen für Kinder auch nicht zu einer Erhöhung  der Zahl der Schwangerschaftsabbrüche geführt hatte, sah der Einigungsvertrag zunächst eine Fortgeltung der geteilten Rechtslage  vor.  1992  wurde  erneut  eine  gesamtdeutsche  Fristenlösung  verabschiedet,  die  aber 1993  abermals  für  verfassungswidrig  erklärt  wurde  (BVerfGE  88,  203).  Beide  Entscheidungen waren innerhalb des BVerfG umstritten; das zeigen die Sondervoten (BVerfGE 39, 1, 683ff.; 88, 203, 338 ff.). 1994 wurde dann die heute geltende Fassung der §§ 218 ff. StGB verabschiedet  und  die  Nötigung  zu  einem  Schwangerschaftsabbruch  als  besonders  schwerer Fall in § 240 IV Nr. 2 StGB aufgenommen.   


Der  Hauptgrund  für  den  Grundsatzstreit  dürfte  darin  zu  sehen  sein,  dass  zwar  der  Schutz des  ungeborenen  Lebens  als Rechtsgut  unbestritten  ist,  anders  als  bei  anderen  Rechtsgütern  aber  sein  Erhalt  mit  der  Austragung  der  Schwangerschaft  durch  die  Schwangere  nicht nur ein Unterlassen eines Eingriffs erfordert (Nichtabtötung der Lebensfrucht), sondern darüber  hinaus  ein  längerfristiges  positives  Tun  (das weitere  Austragen  der  Schwangerschaft und die Geburt) sowie zumindest im Regelfall danach die Pflicht zu Unterhalt und Erziehung des Kindes. Während sich normalerweise der von einer Strafnorm ausgehende Rechtsgüterschutz  darin  erschöpft,  dass  die  (Handlungs-)Freiheit  des  Betroffenen  nur  insoweit  eingeschränkt  ist,  als  er  die  konkrete  Verletzung  des  Rechtsguts (eines  anderen)  zu  unterlassen hat, folgt  aus  einem  strafbewehrten  Abtreibungsverbot  nicht  nur  diese  Unterlassungspflicht, sondern eine Pflicht zu positivem Tun, die längerfristig die Handlungsfreiheit viel weitgehender einschränkt, als die bloße Pflicht eine konkrete Einzelhandlung nicht vorzunehmen.   
Der  Hauptgrund  für  den  Grundsatzstreit  dürfte  darin  zu  sehen  sein,  dass  zwar  der  Schutz des  ungeborenen  Lebens  als Rechtsgut  unbestritten  ist,  anders  als  bei  anderen  Rechtsgütern  aber  sein  Erhalt  mit  der  Austragung  der  Schwangerschaft  durch  die  Schwangere  nicht nur ein Unterlassen eines Eingriffs erfordert (Nichtabtötung der Lebensfrucht), sondern darüber  hinaus  ein  längerfristiges  positives  Tun  (das weitere  Austragen  der  Schwangerschaft und die Geburt) sowie zumindest im Regelfall danach die Pflicht zu Unterhalt und Erziehung des Kindes. Während sich normalerweise der von einer Strafnorm ausgehende Rechtsgüterschutz  darin  erschöpft,  dass  die  (Handlungs-)Freiheit  des  Betroffenen  nur  insoweit  eingeschränkt  ist,  als  er  die  konkrete  Verletzung  des  Rechtsguts (eines  anderen)  zu  unterlassen hat, folgt  aus  einem  strafbewehrten  Abtreibungsverbot  nicht  nur  diese  Unterlassungspflicht, sondern eine Pflicht zu positivem Tun, die längerfristig die Handlungsfreiheit viel weitgehender einschränkt, als die bloße Pflicht eine konkrete Einzelhandlung nicht vorzunehmen.   
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'''Antikritik 219a:'''
'''Antikritik 219a:'''
===Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB von 2015)===
Der am 10.12.2015 in Kraft getretene Straftatbestand ist überflüssig, weil man das Ziel einer Unterbindung problematischer Sterbehilfeorganisationen viel besser durch das Vereins- und Gewerberecht erreichen kann.
'''Kritik''': Verletzt das Recht des Menschen auf Selbstbestimmung am Lebensende; Wiederkehr moralisierenden Strafrechts; Unbestimmtheit bedroht auch ethisch einwandfreie Sterbebegleiter mit Strafe und bringt sie ohne Not in ein Dilemma zwischen Strafbarkeit wegen Suizidbeihilfe oder unterlassener Hilfeleistung. Beschäftigte in diesem Bereich werden verunsichert und müssen mit Denunziationen enttäuschter Angehöriger ebenso wie mit erniedrigenden polizeilichen Ermittlungen rechnen. Das Gesetz kann auch Ärzte treffen, die mehrere Schwerstkranke betreuen.
'''Antikritik''':


Pornographie: vgl. mit Kinderarbeit für Handys; distance principle Husak
Pornographie: vgl. mit Kinderarbeit für Handys; distance principle Husak
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Mit anderen Worten: "Strafrechtswissenschaft sollte gegenüber staatlicher Dispositionsfreiheit über das Strafrecht einen Gegenpol bilden. Sie sollte den Kriminalisierungswünschen der Politik den Grundsatz 'in dubio contra delictum' als eine Ausprägung des Grundsatzes 'in dubio pro libertate' entgegenhalten" (Vormbaum, aaO).
Mit anderen Worten: "Strafrechtswissenschaft sollte gegenüber staatlicher Dispositionsfreiheit über das Strafrecht einen Gegenpol bilden. Sie sollte den Kriminalisierungswünschen der Politik den Grundsatz 'in dubio contra delictum' als eine Ausprägung des Grundsatzes 'in dubio pro libertate' entgegenhalten" (Vormbaum, aaO).


Über den strafrechtlichen Abolitionismus kursieren ja manche kuriosen Vorstellungen. Dazu sei mit Vormbaum (1995: 43) nur folgendes gesagt: "Abolitionistische Perspektive setzt nicht die Annahme voraus, das gesamte System gesellschaftlichen bzw. staatlichen Strafens sei eine Veranstaltung, die auf bloßen Definitionsvorgängen beruhe, in denen an sich nichtssagende soziale Verhaltensweisen zu kriminellen hochdefiniert werden. Sicherlich gibt es schlecht begründete oder von durchsichtigen Interessen diktierte Kriminalisierungen. Jedoch: Unnatürliche Todesfälle, schwere Körperverletzungen, Gebäudezerstörungen, gewaltsame Entwendungen von Sachen - diese und manche andere Vorgänge werden die Gesellschaft allemal interessieren. Ist Kriminalität aber nicht bloß ein Definitionsresultat, dann kann man sie auch nicht insgesamt durch Streichung von Straftatbeständen einfach wegdefinieren. Vielmehr gehört zu einem Entkriminalisierungskonzept und damit zu den Anforderungen an eine Strafbegrenzungswissenschaft auch, dass Überlegungen angestellt werden, wie punitive Reaktionen durch andere ersetzt werden können. Um noch einmal Gustav Radbruch in Anspruch zu nehmen: Es muss darum gehen, Strafrecht durch etwas anders zu ersetzen, das besser ist als Strafrecht. Für mich steht dabei nicht (wie bei Radbruch) ein 'Besserungs- und Bewahrungsrecht' im Vordergrund, sondern es geht um Reaktionsformen, die weniger in die Autonomie von Bürgern und Bürgerinnen eingreifen als Strafen. (...) Strafnormen zu streichen bedeutet also nicht immer, freiheitsräume zu erweitern. Die Radbruchsche Forderung lässt isch demnach auch umkehren: Nur durch etwas Besseres sollte Strafrecht ersetzt werden."
Über den strafrechtlichen Abolitionismus kursieren ja manche kuriosen Vorstellungen. Dazu sei mit Vormbaum (1995: 43) nur folgendes gesagt: "Abolitionistische Perspektive setzt nicht die Annahme voraus, das gesamte System gesellschaftlichen bzw. staatlichen Strafens sei eine Veranstaltung, die auf bloßen Definitionsvorgängen beruhe, in denen an sich nichtssagende soziale Verhaltensweisen zu kriminellen hochdefiniert werden. Sicherlich gibt es schlecht begründete oder von durchsichtigen Interessen diktierte Kriminalisierungen. Jedoch: Unnatürliche Todesfälle, schwere Körperverletzungen, Gebäudezerstörungen, gewaltsame Entwendungen von Sachen - diese und manche andere Vorgänge werden die Gesellschaft allemal interessieren. Ist Kriminalität aber nicht bloß ein Definitionsresultat, dann kann man sie auch nicht insgesamt durch Streichung von Straftatbeständen einfach wegdefinieren. Vielmehr gehört zu einem Entkriminalisierungskonzept und damit zu den Anforderungen an eine Strafbegrenzungswissenschaft auch, dass Überlegungen angestellt werden, wie punitive Reaktionen durch andere ersetzt werden können. Um noch einmal Gustav Radbruch in Anspruch zu nehmen: Es muss darum gehen, Strafrecht durch etwas anders zu ersetzen, das besser ist als Strafrecht. Für mich steht dabei nicht (wie bei Radbruch) ein 'Besserungs- und Bewahrungsrecht' im Vordergrund, sondern es geht um Reaktionsformen, die weniger in die Autonomie von Bürgern und Bürgerinnen eingreifen als Strafen. (...) Strafnormen zu streichen bedeutet also nicht immer, freiheitsräume zu erweitern. Die Radbruchsche Forderung lässt isch demnach auch umkehren: Nur durch etwas Besseres sollte Strafrecht ersetzt werden.  
 
== Fazit ==
Entkriminalisierung hat immer dann eine Chance, wenn relevante Akteure in hinreichendem Maße:
*Zweifel an Eignung, Erforderlichkeit und/oder Verhältnismäßigkeit der Kriminalisierung eines Verhaltens hegen
*Vertrauen in alternative Kontrollen haben und
*politische Gewinne - vor allem in der Form von Wählerstimmen - aus der Entkriminalisierung erwarten.
Die Entkriminalisierungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre fanden vor dem Hintergrund eines gesamtgesellschaftlichen und keineswegs auf Deutschland beschränkten Wertwandels und Liberalisierungsschubes statt. Diese Tendenz wurde von einer Protagonisten - den sog. Alternativprofessoren - aufgegriffen, auf ihre Vorstellung von einem liberalisierten Strafrecht angewandt und Dank einer politischen Partei, die sich als Umsetzerin in die Welt der politischen Institutionen engagierte (und davon profitierte), auch in die real existierende Kriminalpolitik umgesetzt.
 
'''Kriterien aus der Verfassung.''' Das deutsche Verfassungsrecht kennt drei '''Kriterien''' der Verfassungsmäßigkeit von Strafgesetzen. Fällt ein Gesetz bei einem dieser drei Kriterien durch, ist es verfassungswidrig und eine Entkriminalisierung liegt in Reichweite.
 
#'''Ungeeignet''' ist ein Strafgesetz dann, wenn es den angestrebten Erfolg gar nicht erreichen kann. Das ist aus sozialwissenschaftlicher Sicht sicherlich beim strafrechtlichen Drogenverbot der Fall, harrt aber noch entsprechender Erkenntnisse des Verfassungsgerichts.
#Viele Strafgesetze sind - selbst wenn man ihre grundsätzliche Eignung zur Zielerreichung unterstellt - '''nicht erforderlich''', weil es andere und weniger einschneidende Mittel gibt. Denn nach dem Ultima-Ratio-Prinzip darf das Strafrecht als schwerstes staatliches Eingriffsinstrument nur eingesetzt werden, wenn andere gesellschaftliche oder gesetzliche Regulierungsmöglichkeiten unzureichend sind, um wichtige Rechtsgüter zu schützen. Das Ultima-Ratio-Prinzip ist leider nicht explizit im Grundgesetz zu finden, gilt aber allgemein als Ausfluss des Prinzips der Verhältnismäßigkeit und beruht auf einer starken aufklärerisch-utilitaristisch-liberalen Basis. Man denke an Montesquieu und Beccaria  ("Jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch"), an Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires“, an Mittermaiers Diagnose aus dem Jahre 1819, dass es der "Grundfehler" unserer Zeit sei, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen“, und an Franz von Liszts Postulat, ein Verhalten dürfe nur unter Strafe gestellt werden, wenn und soweit dafür eine Notwendigkeit bestehe: „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“.
#Schließlich ist ein Strafgesetz verfassungswidrig, wenn es allzu tief und '''unverhältnismäßig''' in die Grundrechte eingreift.
 
Andererseits ist die Verfassungswidrigkeit eines Strafgesetzes noch kein absoluter Grund für die Entkriminalisierung: das Gesetz kann ja ausgebessert und muss nicht gleich ersatzlos gestrichen werden. Kriterien der Entkriminalisierung müssen also tiefer liegen, fundamentaler sein.
 
Kriterien aus der Idee des Rechts. Hier gerät man unweigerliche in die Gefilde der Rechtsphilosophie und damit schnell zu Gustav Radbruchs Idee des Rechts mit ihren drei Elementen der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit und der Zweckmäßigkeit. Wo Strafrecht nicht alle drei Kriterien der Idee des Rechts erfüllen kann, da hat es sein Recht verloren.
 
#Gerechtigkeit
#Rechtssicherheit
#Zweckmäßigkeit
Nach dem Grad der Zustimmungsfähigkeit (und damit der politischen Durchsetzbarkeit im Sinn einer "realistischen" Kriminalpolitik) lassen sich unterscheiden:
#Entrümpelung = Abschaffung von obsoleten und unzweckmäßigen Kriminalisierungen; insbesondere von solchen, die aus anerkannten kriminalpolitischen Gründen geradezu kontraindiziert sind. Besonderes Augenmerk verdienen die sog. Buchstabenparagraphen (wie z.B. § 353d Nr. 3 StGB - Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen).
#Reformation - Abschaffung von Kriminalisierungen ohne Bezug zur freiheitssichernden Kernaufgabe des Strafrechts (Reduktion auf ein Kernstrafrecht, Verlagerung des Restes - soweit erforderlich - in nicht kriminalrechtliche Instrumente). Kritischer Durchsicht bedürfen auch die Tatbestände im Bereich der sog. organisierten Kriminalität, im Transplantationsgesetz und in anderen Bereichen des Nebenstrafrechts.
#Abolition - Abschaffung von Kriminalisierungen und Ersatz durch etwas Besseres (zivile Konfliktregelung im Schatten des Leviathan; Restorative Justice)
 
Kontinuität im Strafrecht bei politischer Diskontinuität. Nach 1945 geringe Entkriminalisierung durch die Alliierten. Der ganze Rest blieb zunächst unangetastet. Einschließlich § 175. Die Große Strafrechtsreform blieb Stückwerk. Eine Konstitutionalisierung des materiellen Strafrechts im Sinne einer kritischen Durchsicht des gesamten Bestands an Strafvorschriften im Haupt- und Nebenstrafrecht steht noch aus.
Ultima Ratio Prinzip wird nicht ernstgenommen. Subsidiarität auch nicht.
Kriminalisierungsinteressen sind ungebrochen und werden auch von der Politik eher bedient als kontrolliert.
Nicht sozialethisches Minimum, sondern Waffe im sozialen Konflikt. Status-Politik.
Es gibt viele Gründe für eine Beschränkung des Strafrechts auf das absolut Notwendige.
Eine Kriminalpolitik, die sich klassisch rechtsstaatlich versteht, würde das Strafrecht auf seinen Kern beschränken.
In manchen Fällen ist eine klare Legalisierung bisher strafbedrohten Verhaltens jeder anderen Lösung vorzuziehen.
In anderen Fällen kommt eine transformierende Entkriminalisierung im Sinne einer Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit in Betracht. 
Eine abolitionistische Perspektive sollte als Korrektiv zum aktuellen Aktionismus die Idee eines Abbaus des Strafrechts und seiner Ersetzung durch etwas Besseres in die Tagespolitik tragen.
Entkriminalisierung ist ''negative Kriminalpolitik''. Es geht in erster Linie nicht darum, das Strafrecht zu verbessern, sondern zu verkleinern. Es geht in den Worten von Gustav Radbruch um einen '''Abbau des Strafrechts''' zugunsten von mehr Freiheit einerseits und mehr Schutz von Freiheitsräumen durch geeignete und verhältnismäßige Formen der sozialen Kontrolle.
#Zunächst ist in Angriff zu nehmen, was schon lange diskutiert, aber bislang liegen gelassen wurde. Dazu gehört die Abschaffung des § 219a StGB im Abtreibungsrecht, dazu gehört auch in einem ersten Schritt die transformierende Entkriminalisierung des Umgangs mit Cannabis und anderen Freizeitdrogen in der Konsumsphäre, also bei Erwerb und Besitz zum Eigengebrauch - mit einem wachen Blick auf die konsequentere Gesetzgebung in Uruguay und einigen Bundesstaaten der USA. Entkriminalisierung bedeutet Rückkehr zum Rechtsgüterschutz und das wiederum bedeutet Verzicht auf strafrechtlichen Schutz vor sich selbst. Nichts anderes aber versucht das heutige Betäubungsmittelrecht im Namen des politischen Ziels (das fälschlich als Rechtsgut ausgegeben wird) der Volksgesundheit. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Jedenfalls geht es bei der Entkriminalisierung nicht um Zwangstherapie und auch nicht nur um die Zulassung medical marihuana, sondern um die Rückbesinnung auf das Selbstbestimmungsrecht erwachsener Bürger in Bezug auf ihr Entspannungs- und Freizeitverhalten, also um das Recht auf recreational use, bzw. adult use. - Die lanjährige Stagnation der Drogenpolitik in Deutschland hat den Vorteil, dass wir uns inzwischen nur umschauen müssen, um nachahmenswerte Modell der Entkriminallsierung zu finden. In einem ersten Schritt können wir uns mit Entkriminalisierung der Konsumsphäre bei weiterbestehender Prohibition befassen (soft prohibition). Also mit einer Art De-Radikalisierung der Prohibition à la Portugal oder Holland.
 
#Überall, wo das Vereins- und/oder Gewerberecht besser geeignet ist als das Strafrecht, hat das Strafrecht als ultima ratio zurückzutreten.
#Beachtung verdient das jüngste Zensurgesetz des Bundesjustizministers Maas, auch [[Netzwerkdurchsetzungsgesetz]] genannt. Im vergangenen Sommer mit symbolischer Bedeutung im Kampf gegen rechts aufgeladen und ohne nennenswerte Kritik durch die Legislative geschleust, bedroht es nicht nur Twitter, Facebook und andere mit saftigen Strafen, wenn sie "offensichtlich rechtswidrige Inhalte" nicht binnen 24 Stunden löschen, es bedroht vor allem die Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit, wie der erwartbare Skandal am ersten Tag nach seinem Inkrafttreten (um eine gelöschte Titanic-Satire) offenbarte. Historisch bewanderte Beobachter kann es das Fürchten lehren, wenn sie sehen, wie hemmungslos hier offenbar von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, anonym mit einem Mausklick Meinungsäußerungen zu denunzieren und damit kaum noch kontrollierbare zensurartige Lösch-Wellen auslösen, die unter Rechtsstaaten ihresgleichen suchen. Dass dabei ganze Bereiche kritischer Politik-Kommentierung im Netz in den Geruch der Illegitimität geraten, ist schlimm und sollte von niemadem, dem der Rechtsstaat etwas wert ist, auch nur billigend in Kauf genommen werden. Man denke hier etwa an die pauschale Verdächtigung von Kritikern der israelischen Besatzungspolitik als verkappte Antisemiten und die skandalösen Kündigungen von Bankkonten jüdischer Bürger, die sich für einen gerechten Frieden in Nahost einsetzen (Feest 2018). 
#Eigentums- und Vermögensdelikte: Erster Schritt wäre die Rücknahme der Strafverschärfung von 2017 beim Tatbestand des Einbruchs in Privatwohnungen. Aus dem Verbrechen mit einer Mindeststrafe von einem Jahr ist wieder ein Vergehen zu machen; auch ist der eklatante Widerspruch zum bandenmäßigen Einbruchsdiebstahl (wo es weiterhin die minder schweren Fälle mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten gibt) durch Wiedereinführung des minder schweren Falles zu beseitigen. Zweiter Schritt wäre die Herabstufung der Massenbagatelldelinquenz in diesem Bereich zu Ordnungswidrigkeiten. 
#Sexualdelikte. Bloß moralwidriges Handeln, das nicht auch sozialschädlich ist, ist nicht strafwürdig. Schon Gustav Radbruch hatte gefordert, bloße Moralverstöße aus dem Strafrecht zu eliminieren, also die Tatbestände des Ehebruchs, der Sodomie, der einfachen Homosexualität und der sogenannten Verlobtenkuppelei, und nach einem halben Jahrhundert hatte das dann auch funktioniert. Dann die Frage, ob das Gewicht der Handlung tatsächlich eine Reaktion mit einer Kriminalstrafe als unverzichtbar erscheinen lässt. Dass das heutige Sexualstrafrecht nach Radbruch'schen Kriterien kritisch durchzumustern ist insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt des Vorrangs des Verwaltungsrechts, steht außer Frage. Erneut auf die Tagesordnung gehört auch die freiheitliche und die Freiheit aller Beteiligten schützende Regulierung der Prostitution - vor allem auf dem Wege des Gewerberechts. Monika Frommel meint: "zurück zum alten Recht des § 177, nur § 177 Abs. 1 Nr. 3 etwas weiter fassen, damit die dusselige Rechtsprechung zu den Überrumpelungsfällen entfällt und diese Konstellation gut erfasst wird. Die Missbrauchsfälle (etwa von Jugendlichen) im Neuen Recht 2016 sind akzeptabel. - Die sog. Freierbestrafung muss weg."
 
In der Gegenwart (2018) nimmt die Attraktivität der liberalen Demokratie weltweit ab. Populistischer Autoritarismus hingegen zu. Im weltweiten Konflikt zwischen einem liberalen und einem autoritären Traum vom gesellschaftlichen Zusammenleben hat der Autoritarismus seine Nase nicht nur in Mittelamerika, in Zentral- und Südostasien, in weiten Teilen Afrikas und im gesamten Nahen Osten vorn, sondern auch in Europa. Auch wo populistische, respektive autoritäre Parteien nicht schon an der Macht sind, ist ihre jüngste Stärkung doch ein unmissverständliches Zeichen für die Tendenz der Zeit - den "democratic disconnect" (Foa & Mounk 2016).
[http://www.zeit.de/politik/2016-12/harvard-studie-demokratie-junge-menschen-autoritarismus/komplettansicht Wenn jetzt gerade die Jugend das Vertrauen in die Demokratie verliert und andere Systeme attraktiver zu finden beginnt], dann ist es ein schwacher Trost, dass autoritäre Gesellschaftssysteme in der Geschichte sowieso der Normalfall waren und sind - liberale Systeme mit direkter oder repräsentativer Demokratien einst wie jetzt hingegen die große Ausnahme.
 
Kriminalpolitische Prioritätenbildung:
#Kriminologisch. Erst kontraproduktive Kriminalisierungen zurücknehmen, dann die ineffektiven, dann die ineffizienten, dann die unverhältnismäßig eingreifenden, und schließlich die durch "etwas Besseres als das Strafrecht" ersetzbaren. Das ließe sich in einem Dreischritt unterbringen: erstens das Unzweckmäßige entrümpeln ('''Bereinigung'''), zweitens Zurückschneiden der Vielstraferei auf ein liberal-rechtsstaatliches Kernstrafrecht ('''Reformation'''), und drittens die Ersetzung des Strafrechts durch bessere Formen der Regulation sei es in Form autonomer gesellschaftlicher Konfliktregelung (im Schatten des Leviathan: Stichwort "regulierte Selbstregulation"), sei es auf dem Wege der Restorative Justice oder der Transformative Justice ('''Abolition'''). Was den Unterschied zwischen Kontraproduktivität, Ineffektivität und Ineffizienz angeht, so werden die Kategorien nicht immer scharf voneinander zu unterscheiden sein. Aber kontraproduktiv dürften vor allem diejenigen Strafnormen sein, bei denen die Strafdrohung nicht zur Eindämmung des Verhaltens geführt hat, sondern bei denen sich die Abweichung von der Norm zur Massendelinquenz entwickelt hat. In solchen Fällen, wo das Verhalten trotz einer dauerhaften Verstärkung der Sanktionsanstrengungen - wie im "War on Drugs" - den Charakter der Massenkriminalität angenommen hat, bleibt nur noch die Option, das massenhafte Handeln zu entkriminalisieren, will man die Norm nicht endgültig der Lächerlichkeit preisgeben. (Auch Albrecht spricht sich ausdrücklich für die Entkriminalisierung von Massendelikten aus, sofern diese vergleichsweise geringe Schäden erzeugen.)
#Sozialpolitisch. Erst die Strafgesetze aufheben, mit denen die Interessen privilegierter Gruppen geschützt werden sollen, und danach erst die Gesetze, mit denen bislang unterprivilegierte Gruppen ihren Anspruch auf Gleichheit ("black lives matter") zur Geltung bringen. Also nicht zuerst Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung entkriminalisieren, die vor allem dem Gleichberechtigungsstreben von Frauen Ausdruck verleihen - auch dann, wenn nichtstrafrechtliche Mittel prinzipiell gleich guten Schutz gewährleisten könnten.
#Pragmatisch. Erst die konsensfähigsten Themen bearbeiten, dann die weniger konsensfähigen, auch wenn die entsprechenden Strafgesetze unter strafrechtswissenschaftlichen und kriminologischen Fach-Gesichtspunkten vielleicht dramatischere Begründungsmängel aufweisen.
#Strafrechtstheoretisch. Erst diejenigen, die mit dem idealen liberalen Strafrecht - dem Kernstrafrecht - am wenigsten vereinbar sind.


==Weblinks und Literatur==
==Weblinks und Literatur==
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*[https://epetitionen.bundestag.de/index.php?action=petition;sa=details;petition=14613 Petition]
*[https://epetitionen.bundestag.de/index.php?action=petition;sa=details;petition=14613 Petition]
*Reindl, Richard/Kawamura, Gabriele/Nickolai, Werner (Hrsg.) (1995): Prävention, Entkriminalisierung, Sozialarbeit. Alternativen zur Strafverschärfung.Freiburg i. Breisgau: Lambertus-Verlag
*Reindl, Richard/Kawamura, Gabriele/Nickolai, Werner (Hrsg.) (1995): Prävention, Entkriminalisierung, Sozialarbeit. Alternativen zur Strafverschärfung.Freiburg i. Breisgau: Lambertus-Verlag
*Reuter, Dirk (2005) Verbotene Symbole. Eine strafrechtsdogmatische Untersuchung zum Verbot von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen in § 86a StGB. Baden-Baden: Nomos.
*[http://facstaff.bloomu.edu/jleitzel/classes/adolesnt/rind_et_al.pdf Rind, Bruce & Philip Tromovitch & Robert Bauserman (1998) A Meta-Analytic Examination of Assumed Properties of Child Sexual Abuse Using College Samples. Psychological Bulletin Vol. 124, No. 1, 22-53]
*[http://facstaff.bloomu.edu/jleitzel/classes/adolesnt/rind_et_al.pdf Rind, Bruce & Philip Tromovitch & Robert Bauserman (1998) A Meta-Analytic Examination of Assumed Properties of Child Sexual Abuse Using College Samples. Psychological Bulletin Vol. 124, No. 1, 22-53]
*Roos, Gerhard (1981): Entkriminalisierungstendenzen im Besonderen Teil des Strafrechts. Frankfurt/M.: Verlag Peter Lang
*Roos, Gerhard (1981): Entkriminalisierungstendenzen im Besonderen Teil des Strafrechts. Frankfurt/M.: Verlag Peter Lang
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== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
*[[Abolitionismus]]
*[[Abolitionismus]]
*[https://de.wikipedia.org/wiki/Beschimpfung_von_Bekenntnissen,_Religionsgesellschaften_und_Weltanschauungsvereinigungen Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen, in: de.wikipedia]
*[http://www.strafverteidigervereinigungen.org/Material/Stellungnahmen/Bremer%20Erklaerung%202017.pdf Bremer Erklärung des Strafverteidigertags 2017]
*[http://www.strafverteidigervereinigungen.org/Material/Stellungnahmen/Bremer%20Erklaerung%202017.pdf Bremer Erklärung des Strafverteidigertags 2017]
*[http://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-01/blasphemie-charlie-hebdo-bosbach Charlie Hebdo: Grüne gegen Diskussion um Blasphemie-Paragrafen, DIE ZEIT Januar 2015]
*[[Diversion]]
*[[Diversion]]
*[http://de.wikipedia.org/wiki/Entkriminalisierung Entkriminalisierung in: de.wikipedia]
*[http://de.wikipedia.org/wiki/Entkriminalisierung Entkriminalisierung in: de.wikipedia]
*[https://weltanschauungsrecht.de/meldung/Abschaffung-§166-StGB-Jamaika Institut für Weltanschauungsrecht (2017) Abschaffung des § 166 StGB am #BlasphemyDay ...]
*[[Netzwerkdurchsetzungsgesetz]]
*[[Netzwerkdurchsetzungsgesetz]]
*[https://en.wikipedia.org/wiki/Rind_et_al._controversy Rind et al. controversy, in: en.wikipedia]
*[https://en.wikipedia.org/wiki/Rind_et_al._controversy Rind et al. controversy, in: en.wikipedia]
*[[Schwarzfahren]]
*[[Schwarzfahren]]
*[[Unfallflucht]]
*[[Unfallflucht]]
Diskussionen um Kriminalisierung und Entkriminalisierung spiegeln nicht nur unterschiedliche juristische Auffassungen über die Aufgaben und Grenzen des Strafrechts, über Moralität und Rechtsgüterschutz und über Legitimität und Effektivität von Gesetzesverkündung und Implementierung wider. Sie markieren auch soziale Konfliktlinien und können als Indikatoren für ungelöste sozio-politische Themen gedeutet werden. Folgt man dieser Hypothese, dann sind es vor allem diese Bereiche, mit denen Gegenwartsgesellschaft ihre liebe Not hat:
# Mobilität und Konsum
# Leben, Fortpflanzung, Sterben
# Kommunikation
# Herrschaft
Dissens über Gerümpel. Die höchste Entkriminalisierungs-Evidenz müsste eigentlich mit dem Argument der Unzweckmäßigkeit und Ineffektivität verbunden sein. Da, wo sich das Instrument der Kriminalisierung als untaugliches Mittel zu einem an sich legitimen Zweck darstellt, müsste leicht Konsens über die Abschaffung entsprechender Gesetze herzustellen sein. Wer ein modernes und effizientes Strafrecht will, darf keine Angst vor der Entrümpelung haben. Solche Gesetze gehören auf den Sperrmüll.
Das geschulte Auge von Strafrechtswissenschaftlern und Kriminologen erkennt in manchen Gesetzen schon den Gerümpelcharakter zur Zeit ihrer Zusammengeschustertwerdens im Ministerium. Das war zum Beispiel bei der Gleichstellung sexueller '''Übergriffe''' "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person" mit Vergewaltigungen im neuen § 177 StGB von 2016 (Frommel, Kreuzer, Hörnle: Rückfall in "Strafrechtsmoralismus und Prüderie" - Tatjana Hörnle) der Fall, einem Massendelikt, das voraussehbar manche Betroffene, aber auch viele nicht Betroffene zu Anzeigen verleiten wird. Kreuzer erwartet folgenlose Verfahrenseinstellungen; er fordert mit Monika Frommel: "Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte werden am besten von Familiengerichten geregelt." (Auch das Gewaltschutzgesetz böte hier bessere Ansätze), aber auch bei der Verschlimmbesserung des § 244 StGB aus dem Jahr 2017 durch die Aufwertung des Einbruchs in '''Privatwohnungen''', bei dem es nicht einmal mehr eine Strafminderung für minder schwere Fälle geben soll, obwohl diese sogar für den schwereren Tatbestand des bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls existiert. Eine Entrümpelung durch Rücknahme der Neuerungen würde hier nicht zur Entkriminalisierung führen, wohl aber eine Abkehr von der jetzigen Überpönalisierung bedeuten.  Sind die [[Unfallflucht]] und das [[Schwarzfahren]] Fälle für die Entrümpelung? In beiden Fällen wird immer wieder eine Entkriminalisierung gefordert - und in beiden Fällen könnte man vermuten, dass der Erfolg ausblieb, weil die Entkriminalisierungsseite noch über allzu wenig Einfluss verfügt, obwohl sie die besseren Argument auf ihrer Seite hat. Doch sehen wir uns die Sache genauer an.
== Manuskript 20.02.2018 ==
Entkriminalisierung und Entrümpelung
Sebastian Scheerer, 20.02.2018
1. Vorbemerkungen
Der Begriff der Entkriminalisierung wird in verschiedenen Bedeutungen gebraucht und ist für Missverständnisse anfällig. So kann man zum einen zwischen einer tatbestands- und einer personenbezogenen Verwendung unterscheiden. Tatbestandsbezogen ist der Begriff, wenn Entkriminalisierung die Aufhebung eines Strafgesetzes bezeichnet, sei es durch Legalisierung eines bis dato strafbedrohten Verhaltens (Beispiel: Entkriminalisierung homosexueller Handlungen§ 175 StGB, Homosexualität) oder z.B. auch durch Überführung von Strafunrecht in Verwaltungsunrecht (Beispiel: Transformation ehemaliger strafrechtlicher Übertretungen in Ordnungswidrigkeiten). Letzteres kann man für eine bloße Umbenennung und eine Art Etikettenschwindel halten (so Naucke 1984), aber da auch in so einem Fall die Zuordnung zum Bereich des crimen und die Stigmatisierung des Missetäters als Krimineller entfällt, spricht doch wohl mehr dafür, sowohl in der Legalisierung von Handlungstypen als auch in der Transformation eines bestehen bleibenden Verbots wirkliche, bzw. echte Entkriminalisierungen zu sehen. Personenbezogen ist hingegen ein Verständnis von Entkriminalisierung, das bei bestehenbleibender Strafbarkeit des Verhaltenstyps auf die Vermeidung der Bezeichnung und/oder Behandlung von Personen als kriminell abstellt. So kann z.B. der Umgang mit Heroin weiterhin strafbar sein, aber Süchtige können nach „Therapie-statt-Strafe“-Bestimmungen und/oder Substitutionsbehandlungen oder (sonstige) Diversionsmöglichkeiten vor dem Strafvollzug und vielleicht auch vor dem Stigma des „Kriminellen“ bewahrt oder davon befreit (also „entkriminalisiert“) werden. Auf begrifflicher Ebene kann man fragen, ob in solchen Fällen nicht besser von Entpoenalisierung zu sprechen wäre und auf sachlicher, für wen sich durch Pathologisierung statt Kriminalisierung etwas verändert oder gar verbessert. Aber weder das eine noch das andere muss hier entschieden werden, geht es im Folgenden doch ausschließlich um Entkriminalisierung im tatbestandsbezogenen Verständnis, also um Legalisierungen und um Transformationen vom Strafrecht in nichtstrafrechtliche Rechtsgebiete. Entrümpelung ist zwar kein terminus technicus, aber eine anschauliche Bezeichnung für das, was mit „entbehrlichen Tatbeständen“ geschehen sollte (Hoven 2017) – nicht nur, aber auch mit „toten Tatbeständen“ oder mit massenhafter Bagatelldelinquenz, die sowohl zu einer unwürdigen Vielstraferei als auch zu bedenklichen Massen-Erledigungs-Routinen führt, die Polizei und Justiz von Wichtigerem abhält und doch nur notdürftig kaschieren kann, dass sich vieles in diesem Bereich sogar besser außerhalb als innerhalb des Strafrechts lösen ließe. Während das Wort von der Entrümpelung vor allem Assoziationen an Altes und Verstaubtes weckt, findet sich im Strafgesetzbuch und im Nebenstrafrecht aber oftmals auch unter dem, was neu ist, schon viel Unbrauchbares. Jedenfalls könnte man bei der Lektüre von Arthur Kreuzers (2017) Sündenregister des Heiko Maas auf den Gedanken kommen, dass es gut sein könnte, erst einmal dieses Gerümpel schnell wieder wegzuschaffen, bevor man sich an die verstaubten Paragrafen aus früheren Zeiten macht.
Erster Fall: Kriminalisierung des sog. Eigendopings (§ 4 AntiDopG, 2015). Nach Kreuzer ein Verstoß gegen das Ultima-Ratio-Prinzip; dem Gesetz fehlen Eignung und Erforderlichkeit: „Der Gesetzgeber hat ignoriert, dass sportmoralische Normen ebenso wie die in den Wissenschaften zuvörderst von Fachverbänden erarbeitet und kontrolliert werden können und müssen. Er hat Doping unter Strafe gestellt, obwohl die Strafbarkeit nutzlos ist. Die Regierung hat selbst in einer Anfrage bei allen Nachbarländern, die seit Längerem solche Verbote kennen, erfahren: Nirgendwo ist auch nur ein einziger Sportler wegen Dopings strafrechtlich verurteilt worden. -  Sportverbände selbst sind es, die über einzig wirksame Mittel verfügen: Anlasslose Dopingkontrollen – der Polizei wären sie versagt.“ – Zweiter Fall: Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften (§ 184b StGB). Erst 2008 verschärft („Posing“); anlässlich des Falles Edathy 2015 über das Ziel hinausgeschossen. Jetzt genügen Bilder schlafender Kinder. Kreuzer: hier wird doch schon beim bloßen Anklicken von solchen Webseiten „ein massenhaftes Verhalten kriminalisiert. Gerade junge Menschen kann das angesichts weit verbreiteten Sextings – des Verschickens aufreizender Fotos über Messenger – zur Denunziation unliebsamer Bekannter verleiten. Deswegen werden unzählige ‚Unschuldige ins Visier der Justiz geraten‘ (FAZ). Das Ganze war eine hektische, untaugliche Reaktion auf die Causa des SPD-Politikers Sebastian Edathy. Die Berliner Strafrechtlerin Tatjana Hörnle rügt einen Rückfall ‚in Strafrechtsmoralismus und Prüderie‘.“ – Thomas Fischer (2014) sprach provozierend von einer „Erkenntnis über Strafgesetz und Strafverfolgung, die verwirrender nicht sein könnte“, - der Erkenntnis nämlich, dass das Strafrecht „zur sogenannten Bekämpfung von sogenannter Kinderpornografie ebenso nutzlos wie legitimationslos“ sei. Trotzdem wird’s gemacht. Dritter Fall: die sogenannte Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§ 89a). Gemeint sind so triviale Dinge wie das Buchen eines Flugtickets in politisch unwillkommener Absicht. Selbst der BGH zeigte sich irritiert von diesem Tatbestand, handele es sich doch in Wirklichkeit allenfalls um den "Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung" – daraus eine eigenständige Straftat zu machen, bewege sich im "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen". Kreuzer: „Ohne dass hier eine wirkliche Straftat vorliegt, will man Tatgeschehen künstlich behaupten, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen." Er meint: das wäre doch wohl eher ein Fall für ein ordnungsbehördliches Ausreiseverbot. Vierter Fall: geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung (§ 217 n.F.; wir befinden uns immer noch im Jahre 2015). Entgegen seiner erklärten Absicht, die eigenverantwortliche Entscheidung am Lebensende gegenüber Einflussnahmen Dritter zu stärken, schwächt das Gesetz genau diese, und zwar recht konsequent. Es nimmt hilfesuchenden Suizidwilligen die Chance auf erfahrene Unterstützung und professionelle Hilfe und zwingt Sterbebegleiter in eine Situation zwischen der Skylla einer Strafbarkeit aufgrund des neuen § 217 und der Charybdis einer Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c). – Warum hat der Gesetzgeber nicht einfach die Strafbarkeit der Hilfeleistung ausgeschlossen für die Fälle, in denen alles unter Respektierung des Willens der Betroffenen abläuft – nach dem Vorbild der Artikel 293 II und 294 II nlStGB (Arztvorbehalt, Hinterfragen des Suizidentschlusses, Beratung unter Erörterung von Alternativen, Kontrolle des Prozesses durch eine zweite, nicht beteiligte Person)? Warum genügt es nicht, problematische Organisationen per Vereins- und Gewerberecht auszurangieren? – Da muss man wohl die Kirchen fragen und den Ethikrat. Die pauschal formulierten Einwände nennen Sorgen über mögliche Vollzugsschwierigkeiten bei einer solchen holländischen Lösung. Und sie drücken die Befürchtung aus, Suizidbeihilfe könne in Außendarstellungen wie eine normale Dienstleistung erscheinen. Das wirkt alles etwas vorgeschoben – und solange die Selbstbestimmung am Lebensende respektiert wird, lässt sich auch aus der Zunahme assistierter Suizide (Boer 2018) kein überzeugendes Argument gegen die holländische Verfahrenslösung machen (aA offenbar: Sahm 2018). Zumal sich das Bedauern über die Kriminalisierung von Palliativmedizinern bei manchen Autoren in Grenzen zu halten scheint.  – Fünfter Fall: die Gleichstellung sexueller Übergriffe mit der Vergewaltigung im neuen § 177 (und die Einführung des Tatbestands der sexuellen Belästigung, § 164i) bringt uns nach der Silvesternacht in das Jahr 2016. § 177 Abs. 2 Nr. 2 bestraft die Ausnutzung einer erheblichen Einschränkung in der Bildung oder Äußerung des Opferwillens aufgrund seines körperlichen oder psychischen Zustands. Warnungen vor strafgesetzlichem Moralisieren und vor der Fokussierung auf beweisrechtlich kaum zu fassende Gefühlslagen von möglichen Opfern in einem von Fachleuten als populistisch qualifizierten Gesetz blieben wirkungslos. Kreuzer: „Ein Massendelikt, das voraussehbar zwar manche Betroffene, leider auch viele nicht Betroffene zu Anzeigen verleiten wird. Folgenlose Verfahrenseinstellungen sind zu erwarten. Verurteilungsquoten bei Sexualdelikten werden weiter sinken. Frauenverbände werden erst recht rügen, die Justiz nehme solches Verhalten nicht ernst. Indes lässt die bekannte Aussage-gegen-Aussage-Konstellation nichts anderes zu. Die Kieler Strafrechtlerin Monika Frommel bringt es auf die Formel: ‚Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte werden am besten von Familiengerichten geregelt.‘ Das Gewaltschutzgesetz bietet sinnvolle Ansätze.“ - Der Sinn des Gesetzes lag wohl weniger im postulierten Sinn als vielmehr in der Symbolkraft, dass der Gesetzgeber selbst allgemeingültig und mit Strafbarkeitsdrohung erklärte: es ist Schluss mit dem einst (angeblich) selbstverständlichen Verfügungsrecht des Mannes über den Körper der Frau (grundsätzlichere Fragen: Hörnle 2018; Fischer 2016). - Sechster Fall: 2017 brachte dann noch die Streichung des minder schweren Falles beim Einbruch in Privatwohnungen und dessen Aufwertung zum Verbrechen (§ 244 IV). Im Verhältnis zum bandenmäßigen Einbruchdiebstahl systemwidrig (bei §§ 244 I Nr. 2, 244a gibt es die minder schweren Fälle noch). Dass irrige Annahmen über die Deliktsrealitäten und die hohe Mindeststrafe noch erhebliche Folgeprobleme generieren werden, nimmt populistische Kriminalpolitik in Kauf, solange sie einem breiten Laienpublikum imponiert. – Wie gut, dass Gustav Radbruch als der große sozialdemokratische Vorgänger von Justizminister Maas seinen heutigen Nachfolger nicht mehr bei der Gesetzesproduktion beobachten muss – er würde die Welt nicht mehr verstehen. - Fazit: Es ist der Grundfehler unserer Zeit, die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen. Dieses Zitat trifft den Nagel auf den Kopf. Auch wenn es nicht aus Arthur Kreuzers ZEIT-Artikel aus dem vergangenen Jahr, sondern von C.J.A. Mittermaier aus dem Jahr 1819 stammt. - Nebenbei: Mit Schwarz-Gelb-Grün hätte es vielleicht eine Chance für Korrekturen gegeben; die GroKo hingegen dürfte eine deutlich punitivere Linie einschlagen, als es eine Jamaike-Koalition je getan hätte (Kubiciel 2018). Und da ist es auch nicht beruhigend, dass wirklich große Reformen sowieso ganz anderer Anstöße bedürfen, wie die Geschichte lehrt: die Emminger-Reform von 1924 hätte es ohne Hyperinflation und Finanzkrise nicht gegeben, die Entkriminalisierung durch das Kontrollratsgesetz Nr. 11 von 1946 nicht ohne den Untergang des Deutschen Reiches  und die Strafrechtsreformgesetze von 1969 ff. nicht ohne das kollektive Erwachen aus der restaurativen Nachkriegsstarre.
2. Entrümpelung: Ärgernisse in Massenverkehr und Massenkonsum
Bei den Massendelikten mit geringem Unrechts- und Schuldgehalt fehlt dem Gesetzgeber der Mut zu klaren Schnitten. Stattdessen genehmigt er der Justiz einen immer bunteren Strauß prozessualer Erledigungsmöglichkeiten. Der raschere Fallumsatz kann aber nur durch Verzicht auf alte rechtsstaatliche Förmlichkeiten erkauft werden. Hier wäre mit Thomas Vormbaum dafür zu plädieren, grundsätzlich klaren materiellrechtlichen Tatbestandslösungen den Vorzug zu geben.
Ansonsten sei hier auf die Reformkommissionen in Hessen und Niedersachsen aus den frühen Neunzigerjahren verwiesen (Albrecht, Hassemer, Voss 1992; Albrecht 1996) und auf den Antrag von Volker Beck, Joseph Fischer, Kerstin Müller und Fraktion B90/DIE GRÜNEN zur Entkriminalisierung von Schwarzfahren, Ladendiebstahl und Fahrerflucht bei Sachbeschädigung aus dem Jahre 1995 (BT-DS 13/2005).  - Schwarzfahrer (§ 265a StGB, Erschleichen von Leistungen) haben nach Ansicht des Berliner Richters Ulf Buermeyer nicht mehr kriminelle Energie (aber häufig weniger Geld) als Falschparker. Dennoch gilt Falschparken (das Delikt mit dem Mittelschichts-Touch) als Ordnungswidrigkeit. Schwarzfahren hingegen (das Delikt mit dem Unterschichts-Touch) als Straftat. Das kann man für ungerecht halten. Oder als typischen Fall eines Lobby-Tatbestands für ein Unding (Hoven 2018: 173).  Oder auch nur für verrückt angesichts der Relationen zwischen Schaden und Verfolgungsaufwand.  - Warum ist Schwarzfahren dann immer noch strafbar? Aus Bayern erklärt Justizminister Bausback (CSU): Wiederholungstaten sind keine Bagatellen. Aus Berlin hieß es noch 2017: Entkriminalisierung ist "im Hinblick auf die Wertbildungsfunktion des Strafrechts und den Schutz fremden Vermögens nicht angezeigt". Im Februar 2018 gab es dann auch andere Töne.  Ladendiebstahl (AE-GLD) wird spätestens seit dem AE-GLD von 1974 unter dem Gesichtspunkt der unverhältnismäßigen Sanktionierung eines Massendelikts von typischerweise geringem Unrechtsgehalt und Schaden durch mittellose Täter diskutiert (vgl. u.a. Kreuzer 1994).  – Kann es wirklich sein, dass die Einzelhandelsverbände und die Polizei zusammen ihre Lobbymacht ausspielen, um eine Entkriminalisierung zu verhindern? Für die Polizei ist der Tatbestand (> 95% Aufklärungsquote) vor allem zur Verschönerung der Gesamt-Aufklärungsquote (2016: 56%) nützlich. Medien und konservative Parteien fürchten zudem eine Kapitulation vor der Einstiegskriminalität und eine allgemeine Aufweichung des Respekts vor dem Eigentum. - Das unerlaubte Entfernen vom Unfallort, auch als Unfallflucht oder Fahrerflucht (§ 142 StGB) bekannt, ist seit 1909 strafbar (§ 22 GFK), wurde unter den Nazis verschärft (1940: § 139a RStGB), um die Feigheit des vom Unfallort Fliehenden zu ächten, danach aber vom Bundesgesetzgeber  unverändert als §142 StGB übernommen; spätere Basteleien am Text vermochten die Bedenken wegen der Verletzung des nemo tenetur- und des Bestimmtheits-Grundsatzes nicht zu entkräften. Immerhin kommt es in jedem Jahr zu mehreren Hunderttausend Fällen von Unfallflucht nach kleineren Parkrempeleien und ähnlichem. Hohe Einstellungsquoten bei Gericht indizieren jedenfalls, dass viele Verfahren gar nicht vor Gericht gehören.  - Jan Zopfs von der Universität Mainz schlägt ein neutrales Online-Melderegister vor, das man mit seinem Handy erreichen kann, ohne notwendigerweise am Unfallort warten zu müssen: so müsste sich der Verursacher nicht direkt einer Strafverfolgung aussetzen, aber der Geschädigte würde trotzdem seinen Schaden ersetzt bekommen: "Es geht also darum, beim Unfallfluchtparagrafen ein paar Dinge anzustoßen und geradezuziehen. Die Sache zu entkriminalisieren, zu vereinfachen und effektiver zu gestalten."  Sinnvoll wäre es auch, in Europa nach der best practice zu suchen und diese dann zu verallgemeinern – und das wäre dann wohl unterhalb der Ebene des Strafrechts.  - Gegnern einer Entkriminalisierung geht es ums Prinzip und die hohen Werte. Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD) ist gegen die Lockerung der Strafe bei Fahrerflucht, weil jedem klar sein muss, dass er nach einem Unfall nicht einfach davonfahren darf: „Natürlich gebe es einen Unterschied zwischen einem Kratzer am Auto und einem schweren Unfall. Aber das Prinzip sei dasselbe: Wer am Straßenverkehr teilnehme, müsse sein Verhalten auch verantworten“ (23.01.2018, NDR 1). - Die Strafbarkeit privater nicht-kommerzieller Urheberrechtsverletzungen (§§ 106 ff. UrhG) kann man, wenn man der Analyse von Gregor Albach (2015) folgt, wohl nur als Überkriminalisierung bezeichnen. Erstens gäbe es zivilrechtliche Alternativen,  zweitens fehle es nicht nur an der Verhältnismäßigkeit der Mittel, sondern auch an deren Eignung und Erforderlichkeit. 2012 wollte die Piratenpartei die Strafbarkeit auf gewerbsmäßiges Handeln beschränken, § 107 UrhG streichen und die übrigen Straftatbestände reformieren. Ansonsten blieb es aber ziemlich ruhig. - Warum wird nicht entkriminalisiert? Interesselosigkeit. Und Widerstand von organisationsfähigen Musikverlagen und Filmverleihern - man erinnere sich an die aufwendige, schon im Jahre 2003 gestartete Kampagne unter dem Titel "Raubkopierer sind Verbrecher".
Die Kriminalisierung von Cannabis in Deutschland begeht im Jahre 2025 ihren 100. Geburtstag. Zu verhindern, dass es soweit kommt, war das Ziel vieler Initiativen, angefangen mit dem Vorlagebeschluss des LG Lübeck aus dem Jahre 1992, der mit dem Beschluss des BVerfG vom 9.3.1994 endete, welcher das Verbot von Cannabis für vereinbar mit dem Grundgesetz hielt. Dogmatisch war das nicht überzeugend (Husak 1992, Nestler 1998, 2017), zumal sich die Drogenbekämpfung auch empirisch in Bezug auf Verfügbarkeit, Preis und Reinheitsgrade als wirkungslos erwies (Werb et. al 2013).  2014 stimmten Juristen, Suchtexperten und Mediziner auf einer Tagung in Frankfurt in ihrem Ruf nach schneller Entkriminalisierung überein. Immerhin setzten sich 12% der Deutschen, die angaben, im Verlaufe des vergangenen Jahres mindestens einmal konsumiert zu haben, den Risiken des Schwarzmarktes und der Strafverfolgung aus (laut dem Bund Deutscher Kriminalbeamter werden zwar die meisten der jährlich 145 000 Cannabisdelikte – von insgesamt 250 000 Drogendelikten – eingestellt, doch entstehen unnötige Kosten gerade dadurch, dass Beamte für den Papierkorb arbeiten). Der 2015 von den Grünen eingebrachte und von der Linken unterstützte Entwurfs für ein Cannabiskontrollgesetz (CannKG, BT-DS 18/4204), das legalen Zugang zu Cannabis als Genussmittel für Erwachsene forderte, wurde am 2.6.2017 mit der Mehrheit von Union und SPD abgelehnt (18/12476).
Dabei könnte man in Deutschland von Portugal, Uruguay und anderen Staaten lernen. Portugal stufte 2001 alle Drogenvergehen in der Konsumsphäre zu Ordnungswidrigkeiten herab. Uruguay legalisierte Cannabis 2013 – und inzwischen haben acht US-Bundesstaaten nachgezogen: neben Kalifornien (seit 2016) auch Alaska, Colorado, Maine, Massachusetts, Oregon, Washington und Nevada.
Warum ist in Deutschland nichts geschehen? Die SPD wollte weitere Erfahrungen und Erkenntnisse abwarten, während die CDU/CSU die Befürchtung äußerte, „die Debatte um die Legalisierung des Cannabiskonsums führe bei der Bevölkerung und insbesondere bei Jugendlichen zu dem Eindruck, Cannabis sei harmlos. Cannabis sei aber nicht harmlos. In der Argumentation verschiedener Gruppen, die ebenfalls das Ziel der Legalisierung verfolgten, werde wenig glaubhaft behauptet, der Jugendschutz stehe im Fokus. Dieses Argument sei schief. Die Verbesserung des Jugendschutzes durch die Legalisierung einer Droge gehe nicht zusammen. Auch die Behauptung, der Schwarzmarkt werde durch eine regulierte Abgabe von Cannabis eingedämmt, sei nicht überzeugend. Minderjährige würden sich weiterhin illegal Cannabis auf dem Schwarzmarkt besorgen. Durch den erlaubten Eigenanbau sowie durch die Höchstmenge von 30 Gramm bestehe natürlich die Möglichkeit, Cannabis an andere Konsumenten, auch Jugendliche, weiterzugeben. Da die Zahl der Drogentoten gestiegen sei, werde es in der nächsten Wahlperiode darum gehen, die Drogenpolitik weiterzuentwickeln. Ein Ansatz sei die Substitutionstherapie z. B. nach der Haftentlassung.“
Entkriminalisierung setzt die Bereitschaft zur Entrümpelung voraus, sollte sich darin aber nicht erschöpfen. Die Frage ist dann nur: welchen Prinzipien kann oder sollte eine Entkriminalisierung jenseits der Entrümpelung folgen?
Wer im Strafrecht eine beliebig einsetzbare Allzweckwaffe zur Gefahrenabwehr sieht – was in etwa die Sicht der aktuellen Strafrechtspolitik sein dürfte (Stichworte: zunehmende Strafbarkeit im Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen; Aufstieg abstrakter Gefährdungsdelikte, strafrechtliche Sicherung des Funktionierens gesellschaftlicher Subsysteme) – wird Entkriminalisierungen vielleicht da fordern oder akzeptieren, wo eine evidenzbasierte kriminologische Forschung die Ineffektivität der Norm belegen kann. Gesagt ist das aber nicht, denn die „positive Generalprävention“ und der symbolische Eigenwert strafgesetzlicher Botschaften entziehen sich ja gerade der empirischen Sozialforschung, so dass sich immer argumentieren lässt, man solle Normgeltung und Wertordnung nicht vorschnell aufweichen oder durch missverständliche Signale gefährden.
Wer hingegen im Strafrecht eine immanent problematische Institution des Subordinationsstaates sieht – so wie es der Wahrnehmung der Strafrechtskritiker seit der Aufklärung entspricht, wie sie bei Montesquieu, Voltaire, Beccaria oder auch in Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789 zum Ausdruck kam und was in Deutschland in die Form des Ultima-Ratio-Grundsatzes und des Prinzips der Verhältnismäßigkeit gegossen wurde, wird überall dort Entkriminalisierungsbedarf sehen, wo bessere Lösungen durch außerstrafrechtliche Maßnahmen der Verhaltenssteuerung vorhanden oder herstellbar sind.
Gewiss: modern und effektiv sollte das Strafrecht sein. Das muss aber nicht heißen, der herrschenden Tendenz hinterherzulaufen, das abstrakte Gefährdungsdelikt zum herrschenden Deliktstypus zu promovieren und schlichtweg allen Rechtsgutsverletzungen durch ein lückenloses Risikostrafrecht vorzubeugen. Modern und effektiv kann auch heißen, das Strafen als Relikt des Autoritären Staates auf das – noch - absolut unverzichtbare Maß zu beschränken und nur dort zuzulassen, wo es mangels besserer Möglichkeiten vorläufig noch um der Erhaltung der Freiheit der Individuen willen erforderlich ist. Mindestens drei Gesichtspunkte sprechen für eine abolitionistische Perspektive als Fluchtpunkt kriminalpolitischen Nachdenkens und Handelns (vgl. Vormbaum 2011: 41f.):
• Es gibt keine allseits anerkannte Begründung für die mit staatlichem Strafen verbundenen Bedrängnisse, Beschränkungen und Leiden. Im Gegenteil: es gibt immer mehr und vielfältigere Einwände gegen die „strafende Vernunft“
• Im freiheitlich-demokratischen und sozialen Rechtsstaat verlangt die Menschenwürde, Eingriffe in die Freiheitssphäre der Bürger so gering wie möglich zu halten und nur als letztes Mittel zuzulassen (ultima ratio).
• Im Strafjustizsystem kann die Menschenwürde nur gewahrt bleiben, wenn das Fallaufkommen unter Wahrung hoher Standards gut bewältigt werden kann und es keine Massenabfertigung gibt, bei der Standards gesenkt, Beschuldigtenrechte verletzt und schützende Formen preisgegeben werden.
Thomas Vormbaum destillierte daraus die Devise: „Strafrechtswissenschaft sollte gegenüber staatlicher Dispositionsfreiheit über das Strafrecht einen Gegenpol bilden. Sie sollte den Kriminalisierungswünschen der Politik den Grundsatz 'in dubio contra delictum' als eine Ausprägung des Grundsatzes 'in dubio pro libertate' entgegenhalten."
3. Sexualität, Fortpflanzung, Sterben
Seit 1969 gilt als Konsens, dass das Strafrecht nicht dazu da ist, bloße Moralvorstellungen zu schützen, sondern nur klar benennbare und legitime Rechtsgüter. Im Bereich der Sexualität ist nicht die Sittlichkeit zu schützen, sondern die sexuelle Selbstbestimmung. Dementsprechend benannte man 1973 die „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ in „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ um. Seither wurde schon wieder viel hin- und zurückreformiert und noch immer ist keine Ruhe eingekehrt. Das hat auch damit zu tun, dass  die sozialen Konflikte um Grade und Grenzen sexueller Selbstbestimmung seit 1969 an Schärfe eher noch zugenommen haben. Wo es um Jugendliche geht, besteht ein schwieriges Spannungsverhältnis zwischen Jugendschutz und subjektiven Rechten, das hier nicht bis in die letzten Konsequenzen möglicher Entkriminalisierungs-Optionen oder –Notwendigkeiten analysiert werden kann (dazu aber Lenz 2017).
Unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes ist das strafrechtliche Verbot des vaginalen Beischlafs zwischen einvernehmlich agierenden volljährigen Voll- oder Halbgeschwistern nach wie vor umstritten (Inzestverbot § 173; acht bis zwölf Verurteilungen pro Jahr). Für eine Entkriminalisierung spricht, dass es erstens Staaten gibt, in denen der einvernehmliche Inzest nicht strafbar ist. Das gilt für Frankreich, die Niederlande, Portugal, Spanien, die Türkei, Russland, China und die Elfenbeinküste. (Anderes gilt natürlich für sexuelle Übergriffe innerhalb der Familie), und dass durch den einvernehmlichen Geschlechtsverkehr volljähriger Geschwister zweitens nach der gut begründeten abweichenden Meinung von Winfried Hassemer gar kein Rechtsgut verletzt wird.
Parteiprogramme der Grünen und der Piratenpartei forderten jeweils 2012 die Abschaffung des § 173 – wobei selbstverständlich der Fall des Beischlafs von z.B. Elternteilen und minderjährigen Kindern davon unberührt bleiben sollte (§ 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Jerzy Montag von den Grünen erklärte dazu, die strafrechtliche Verfolgung vom Beischlaf unter Verwandten und Geschwistern sei ein Anachronismus; moralische Tabus dürften nicht mit dem Strafrecht durchgesetzt werden. 2014 empfahl der Deutsche Ethikrat mehrheitlich, den Geschwisterinzest zu entkriminalisieren und § 173 StGB abzuschaffen: das Grundrecht der erwachsenen Geschwister auf sexuelle Selbstbestimmung sei stärker zu gewichten als das abstrakte Schutzgut Familie.
Warum ist das nicht geschehen? Das Bundesverfassungsgericht erklärte 2008, sowohl der Schutz von Ehe und Familie und Schutz der sexuellen Selbstbestimmung gegenüber spezifischen, durch die Nähe in der Familie bedingte oder in der Verwandtschaft wurzelnde Abhängigkeiten, rechtfertige die Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit als auch der Schutz vor Erbschäden. Die CDU/CSU befürchtete "ein falsches Signal"; eine Entkriminalisierung laufe dem Schutz der unbeeinträchtigten Entwicklung von Kindern in ihren Familien zuwider. In fast allen Fällen gehe Inzest mit der Abhängigkeit eines Partners und äußerst schwierigen Familienverhältnissen einher. Nach dem BVerfG bescheinigte auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Inzestverbot die Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht (2012). Justizminister Maas lehnte 2014 sowohl die Abschaffung als auch eine Reform des § 173 ab.
Die Entkriminalisierung funktionierte im Fall der Homosexualität (§ 175 StGB) nach 122 Jahren (1.1.1872-11.6.1994). Zunächst bedrohte er neben sexuellen Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts auch die „widernatürliche Unzucht mit Tieren“ (ab 1935 nach § 175b ausgelagert). 1935 wurde die Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis angehoben. Außerdem wurde der Tatbestand von beischlafähnlichen auf sämtliche „unzüchtigen“ Handlungen ausgeweitet. Der neu eingefügte § 175a bestimmte für „erschwerte Fälle“ zwischen einem und zehn Jahren Zuchthaus. In der BRD hielt man daran zunächst fest.  Die sozialliberale Koalition ersetzte den Begriff der Unzucht am 23.11.1973 durch den der „sexuellen Handlung“. Im § 175 blieb nur noch der Sex mit Minderjährigen als qualifizierendes Merkmal zurück, wobei man das sogenannte Schutzalter von 21 auf 18 Jahre absenkte. Die Zahl der Verurteilungen ging auf jährlich höchstens 200 zurück.
1980 forderte die FDP in ihrem Wahlprogramm die Streichung des § 175, „um Homosexuelle rechtlich und gesellschaftlich gleichzustellen“: „Für den Schutz von Kindern und Abhängigen reichen die übrigen Strafbestimmungen aus.“ – Sie konnte sich aber damit in den Koalitionsverhandlungen nicht durchsetzen. 1989 lehnte die schwarz-gelbe Regierungskoalition mit den Stimmen der SPD die Forderung der Grünen zu einer ersatzlosen Streichung ab. 1994 war es dann doch soweit. Das 29. Strafrechtsänderungsgesetz hob den § 175 dann ersatzlos auf. Das absolute Schutzalter für sexuelle Handlungen wurde einheitlich auf 14 Jahre festgelegt (Sexueller Missbrauch von Kindern, § 176 StGB); zusätzlich wurde für besondere Fälle der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen (§ 182 StGB) mit einem relativen Schutzalter von 16 Jahren ausgeweitet und geschlechtsneutral formuliert.
Im Jahre 2002 erklärte der Bundestag Verurteilungen nach § 175 während der Nazizeit für nichtig. 2012 beantragte der Bundesrat, die Bundesregierung möge Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung für die nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen Verurteilten vorschlagen. Entsprechende Anträge der Grünen und der Linken im Bundestag wurden zunächst abgelehnt. Am 22.7.2017 trat das Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen (StrRehaHomG) in Kraft. Von den insgesamt etwa 140.000 nach den verschiedenen Fassungen des § 175 verurteilten Männern lebten um die Zeit vielleicht noch 5000. Sie sollen nun mit 3000 Euro pro Urteil und 1500 Euro pro angefangenem Jahr eines Freiheitsentzugs entschädigt werden.
Ganz im Gegensatz zur Homosexualität hat die Entkriminalisierung der Pädophilie (§ 176 StGB) nicht funktioniert – ganz im Gegenteil. Pädophilie als sexuelle Orientierung ist nicht strafbar; wohl aber jeder Versuch, sie auszuleben – einschließlich des Versuchs, sich z.B. zwecks Selbstbefriedigung kinderpornographisches Material zu beschaffen. Pädophile werden vom Gesetz mit Freiheitsstrafe bis zu 10 Jahren (und Sicherungsverwahrung) bedroht.
Entkriminalisierungsforderungen gab es in den 1980er Jahre – aber auch nur in kleineren Zirkeln. 1985 nahm der Parteitag der Grünen in Lüdenscheid (NRW) mit 73 zu 53 Stimmen bei 7 Enthaltungen das Arbeitspapier "Sexualität und Herrschaft" in das Landtagswahlprogramm auf. Danach sollte jede Form von „gewaltfreiem“ Sexualverkehr - auch zwischen Kindern und Erwachsenen - straffrei bleiben,  wobei die Forderung nach ersatzloser Streichung der Schutzaltersgrenze umstritten blieb. Hauptargument für die Entkriminalisierung war die Disproportionalität der gesellschaftlichen Reaktion auf Kindesmisshandlung und sexuelle Gewalt an Kindern einerseits (wo man gerne wegschaut und milde sanktioniert) und auf gewaltfreie Sexualität andererseits, bei der man Pädophile, die "die sexuellen Wünsche von Kindern und Jugendlichen ernst nehmen und liebevolle Beziehungen zu ihnen unterhalten, mit Gefängnis bis zu zehn Jahren bestraft."
Zu den Protagonisten gehörten damals u.a. Dany Cohn-Bendit und Volker Beck. Letzterer ging in einer Publikation von 1988 von der relativen Harmlosigkeit von einvernehmlichem Sex mit Kindern aus – eine Einschätzung, die in der Wissenschaft Bestätigung findet (Sandfort 1986, 1987, Sandfort et al. 1991, Rind et al. 1998, Ulrich 2005). Beck selbst bezeichnet seine eigene damalige Position als „abwegigen Stuss“ und „großen Fehler“ und reagiert, wenn er daran erinnert wird, seit 1993 überaus allergisch.
Dem Schutz vor unerwünschter Konfrontation mit sexualbezogenen Betätigungen dienen die Tatbestände Exhibitionistische Handlungen (§ 183 StGB) und Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183a StGB). Nach § 183 StGB macht sich ein Mann strafbar, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt. § 183a StGB bedroht mit Strafe, wer öffentlich sexuelle Handlungen vornimmt und dadurch absichtlich oder wissentlich ein Ärgernis erregt. Auf diese Delikte entfallen rund 15% aller Verurteilungen wegen Sexualdelikten.
Entkriminalisierungsforderungen werden mit einer Veränderung der Toleranz gegenüber abweichenden Formen der Sexualität und einer geringeren Vulnerabilität der Öffentlichkeit durch solche Konfrontationen sowie mit der geringen Schädigung von Opfern und der Existenz erfolgversprechender Therapiemöglichkeiten begründet.
Warum ist es dann noch nicht zu einer Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit gekommen? Wohl aus drei Gründen: nur mittels einer Strafdrohung ließe sich erstens das Schamgefühl der Allgemeinheit schützen, zweitens eine mögliche Eskalation zu gravierenderen Sexualdelikten frühzeitig stoppen und drittens Behandlungs-Bereitschaft fördern.
Die alte Forderung nach einer Entkriminalisierung der Abtreibung (§ 218 bis 219a StGB) wird trotz einer gewissen Beruhigung der Lage durch die Herabstufung zum Vergehen im Jahre 1969 und durch die seit 1994 geltende Beratungspflicht-und-Wartefrist-und-Fristenlösung auch heute noch (vor allem von der LINKEN) erhoben. Seit 2014 unterstützt z.B. Sahra Wagenknecht das Berliner „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“, und im Themenpapier Schwangerschaftsabbruch der Partei hieß es im Jahre 2017: „Wir wollen die ersatzlose Streichung des §218. Wir wollen ebenso den §219 StGB abschaffen, in dem ein sogenanntes Werbeverbot festgeschrieben ist, bei dem es sich jedoch eigentlich um ein Informationsverbot handelt. Stattdessen wollen wir Angebote der freiwilligen Beratung ausbauen und Plankrankenhäuser dazu verpflichten, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, damit eine wohnortnahe Versorgung sichergestellt werden kann.“ In Bezug auf § 219a steht die Linke nicht allein. Unterstützt wird die Forderung auch vom Deutschen Juristinnenbund (2017) und von den Grünen, der FDP und der SPD („Der Paragraf 219a passt nicht mehr in die Zeit“, 11.12.2017). Nur die Union stellt sich noch quer.
Warum konnte sich die Forderung nach ersatzloser Streichung des § 218 bis heute nicht durchsetzen? Da spielen staatliche Bevölkerungspolitik und christliche Ethik eine große Rolle. Das BVerfG kippte die Fristenlösung gleich zweimal: 1975 und 1993. Auf der anderen Seite sind Frauen durch diese Kriminalisierung in ihrer Existenz betroffen und können schon deshalb keine Ruhe geben. Denn anders als bei anderen Straftatbeständen wird die Frau ja in diesem Fall nicht nur dazu aufgefordert, eine isolierte Schädigung zu unterlassen (wie beim Verbot von Mord, Totschlag oder Körperverletzung), sondern die Unterlassung der Abtreibung bedeutet zugleich auch die Selbstverpflichtung zu einer das ganze Leben bestimmenden Tätigkeit: nicht abzutreiben heißt, die Schwangerschaft weiter austragen, die Geburt durchmachen, ein Baby zu versorgen und ein Kind großziehen.
4. Dissens und Opposition
Im politischen Strafrecht geht es um Grenzziehung zwischen der Freiheit der Bürger einerseits und den Interessen des Staates, sich nicht durch allzu viel und allzu radikale Fundamentalopposition destabilisieren zu lassen, andererseits. Hier gibt es drei komplizierende Besonderheiten. Erstens schützt der Staat hier nicht die Rechtsgüter anderer, sondern ziemlich direkt seine eigene aktuelle Macht- und Herrschaftsordnung. Das weckt Zweifel an Unbefangenheit und Unparteilichkeit des Gesetzgebers. Zweitens tendiert der staatliche Selbstschutz in Krisensituationen zu Überreaktionen – und die führen u.U. zu Reaktanz und Eskalation. Man denke an die politische Justiz gegen Kommunisten von 1949 bis 1968 oder aber auch an die jungen Leute, die in den frühen Siebzigerjahren aus Empörung über die Isolationshaft der ersten Generation der RAF in die Komitees gegen die Isolationsfolter eintraten, in Einzelfällen dann den Mitleids- und Gefangenenbefreiungs-Terrorismus der zweiten und dritten Generation bildeten und den bewaffneten Konflikt verlängerten. Drittens kollidieren hier nicht selten fachliche und tagespolitische Motive von Befürwortern und Gegnern von Entkriminalisierungen. Wer zum Beispiel bei manchen Gesetzen für eine Entkriminalisierung eintritt und das mit der Illegitimität einer Kriminalisierung weit im Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen begründet, sollte seinen Argumenten auch dann treu bleiben, wenn es um Straftatbestände geht, die genauso aufgebaut sind, nach seinem politischen Verständnis aber „die Richtigen“ treffen.
Ein erstes Beispiel für das letztgenannte Problem ist die Forderung nach der Entkriminalisierung der Verbreitung von Propagandamitteln und der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§§ 86 und 86a StGB). - Ursprünglich handelte es sich um eine Vorschrift des Versammlungsrechts: § 4 i.V.m. § 28 des Versammlungsgesetzes (VersG) von 1953 stellte das Zeigen von Kennzeichen ehemaliger nationalsozialistischer Organisationen unter Strafe. 1960 Aufwertung zum Staatsschutzrecht als § 96a StGB. 1968 Ersetzung durch das Kennzeichenverbot des § 86a StGB und damit Einordnung in den Bereich der Parteien- und Vereinigungsverbote. Neu war ansonsten nur, dass der § 86a StGB die Strafbarkeit ausdrücklich auf den räumlichen Geltungsbereich des Strafgesetzbuchs beschränkte und den Tatbestand um das „Verbreiten“ verfassungsfeindlicher Kennzeichen erweiterte. 1985 kam die Ausdehnung auf Vorbereitungshandlungen wie das Herstellen, Vorrätighalten und Einführen von entsprechenden Kennzeichen ausgedehnt. 1994 wurde das alles dann im Rahmen des Verbrechensbekämpfungsgesetzes um die Fälle erweitert, in denen es nicht um die Originalzeichen, sondern „ähnliche Kennzeichen“ geht. Schutzgüter sind der politische Frieden, die freiheitliche demokratische Grundordnung, der Gedanke der Völkerverständigung und das Ansehen Deutschlands im Ausland. Das Verbot soll verhindern, dass die verbotenen Organisationen oder die von ihnen verfolgten Bestrebungen wiederbelebt werden, und dass aufgrund der Präsenz der entsprechenden Symbole der Eindruck entsteht, solche Bestrebungen würden geduldet (Trips-Hebert 2014).
Das Schutzgut des öffentlichen Friedens ist nicht unproblematisch (Hörnle NStZ 2002, 114 Fn. 16); die Berufung auf die Erfordernisse des Staatsschutzes ist ebenfalls nicht sehr tragfähig – und dazu handelt es sich um eine weit ausgreifende Vorfeldkriminalisierung: § 86a StGB setzt ja bekanntlich weder eine tatsächliche Verletzung dieser Rechtsgüter noch deren konkrete Gefährdung voraus (abstraktes Gefährdungsdelikt). Da § 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB zudem allein einen Bezug zum Gedankengut einer nicht mehr existenten nationalsozialistischen Organisation herstellt und es keinen fassbaren Organisationsbezug gibt, werden mit diesen Vorschriften letztlich nur – entgegen Art. 5 GG - politische Meinungen bekämpft (Lüttger JR 1969, 19). - Entkriminalisierungsforderungen kommen aber anscheinend vorwiegend oder ausschließlich von ganz rechts (angeblich soll Bernd Höcke in einer internen e-mail 2014 die Abschaffung von § 86 und § 130 gefordert haben). Ansonsten ist Kritik weitgehend auf die wissenschaftliche Literatur beschränkt (Eidem 2015: 100).
Ganz anders sieht es, wegen der politischen Stoßrichtung, bei der Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter (§ 103 StGB) aus. Hier war man sich angesichts des Skandals um das Schmähgedicht von Jan Böhmermann auf den türkischen Staatspräsidenten schnell einig, dass der eigentliche Bösewicht Erdogan hieß, dem man so viel Ehrenschutz nun auch wieder nicht angedeihen lassen wollte. Schnell waren Gründe zur Hand, die für die Abschaffung des Straftatbestands sprachen. SPD und Grüne machten noch Druck, als die Aufhebung des Gesetzes schon beschlossene Sache war. Über den Bundesrat forderten sie eine Vorverlegung des Inkrafttretens. In seiner 954. Sitzung schlug der am 10. März 2017 vor, das Datum des Inkrafttretens vorzuverlegen auf den Tag nach der Verkündung im Bundesgesetzblatt. Begründung: „Es besteht kein sachlicher Grund, den Wegfall der Norm hinauszuzögern." Das Gesetz vom 17.7.2017 trat dann aber doch erst zum 1.1.2018 in Kraft.
Einschränkungen der Meinungsfreiheit wird auf der linken Seite des politischen Spektrums größere Bedeutung zugemessen als auf der rechten. Bei dem Straftatbestand der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§§ 129a,b StGB) liegt immerhin ein Organisationsbezug vor –trotzdem bot er Anlass für wiederholte Abschaffungsforderungen.
1997 forderte die Bundestagsfraktion von B90/DIE GRÜNEN die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der "zumindest" die Streichung des Tatbestandes der terroristischen Vereinigung (§ 129a), des gesamten Kronzeugengesetzes, des Kontaktsperregesetzes und des Verbots der Mehrfachverteidigung vorsehen sollte (BT-DS 13/9460: 3). Die Konturlosigkeit des Organisationsdelikts kollidiere mit dem Bestimmtheitsgebot des Artikel 103 II GG und dem Schuld- und Tatstrafrecht gem. Art. 2 I GG. Paragraf 129 a bedrohe auch diejenigen, die sich der öffentlichen Diskussion stellen und sich mit den Ursachen des Terrorismus auseinandersetzten (Autoren, Verlage, Buchhändler). Man kritisierte die Vielzahl von ergebnislosen, aber einschüchternden Verfahren (1980-1996: mehr als 6000, davon 4985 Verfahren wegen des Verdachtes des Werbens und Unterstützens einer terroristischen Vereinigung – aber nur 6 Urteile stützten sich auf diesen Paragrafen).
2008 äußerte sich die SPD-Juristin Franziska Drohsel Bezug auf §§ 129 a und b StGB: "Der Umgang mit politisch Andersdenkenen ist symptomatisch für den Zustand eines freiheitlichen und rechtsstaatlichen Landes. .. Kommt es tatsächlich zu terroristischen Straftaten, werden die Delikte durch den Straftatbestand selbst erfasst. Jedoch können über die Konstruktion des § 129 a StGB auch Personen belangt werden, denen keine konkrete Beteiligung nachgewiesen werden kann. § 129 a, b StGB stellt einen Fremdkörper im deutschen Strafrecht dar, da eine konkrete Tat des Beschuldigten nicht erforderlich ist, sondern die angebliche Gesinnung des Beschuldigten ausreicht. Es liegt mit dem § 129 a, b StGB eine Kollision mit dem Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG und des Schuld- und Tatstrafrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG vor. § 129 a, b StGB ist eine Norm des Strafrechts, die „eine Strafbarkeit bereits weit im Vorfeld der Vorbereitung konkreter strafbarer Handlungen“ (BGH 28, 148, 11.10.1978) begründet. Bei Handlungen, die „normalerweise“ keine Strafbarkeit begründen, handelt es sich z.B. um Reden, Treffen, etc. Die Strafbarkeit wird also in ein Stadium vorverlagert, in dem ein konkreter Bezug zur Verwirklichung einer individuellen Rechtsverstoßes noch nicht gegeben ist. Es verschwimmt die Abgrenzung zwischen legalem Handeln und Delikt. Elemente des repressiven Strafrechts werden mit denen der präventiven Gefahrenabwehr vermischt. So wird § 129 a, b Strafprozessordnung auch als „Schnüffelparagraph“ bezeichnet, da er weitreichende Möglichkeiten zur staatlichen Überwachung in einem vom Staat zu definierenden Personenkreis beinhaltet, gegen die sich der/die Betroffene mangels Kenntnis des Verfahrens nicht wehren kann. Hier sind insbesondere auch die weitreichenden Ermittlungsmaßnahmen der StPO zu nennen. Faktisch fungiert der § 129 a, b StGB als „Einschüchterungsparagraph“, der mit schnelleren Hausdurchsuchungen, erleichterte Untersuchungshaft, höheren Kontrollmöglichkeiten etc. massive Grundrechtseingriffe ermöglicht. Ausdruck liberalen Gedankenguts war die Begrenzung strafrechtlichen Staatsschutzes auf die Verteidigung der staatlichen Ordnung und Integrität. Autoritäre Strömungen versuchten stets, den Präventivkampf gegen politische Abweichler-Innen mit vordemokratischen Elementen, wie der Vorverlagerung von Strafbarkeit, zu führen.“
Viel Angriffsfläche bietet der auch als Blasphemie- oder Gotteslästerungs-Paragraf bekannte § 166 StGB, im Schönfelder "Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen" genannt. Die Vorschrift bedroht mit Geldstrafe oder Gefängnis bis zu drei Jahren, wer "in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören", eine Religion oder eine Kirche beschimpft. Geschütztes Rechtsgut ist der öffentliche Frieden. Es geht nicht um das Bekenntnis als solches oder die bloßen Gefühle seiner Anhänger. Beschimpfen ist eine besonders gravierende herabsetzende Äußerung. Die beschimpfenden Äußerungen müssen nicht an die Kreise gerichtet sein, in denen sie zur Störung des öffentlichen Friedens führen können. Es genügt, wenn zu befürchten ist, dass sie dort bekannt werden. § 166 StGB ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt, d.h. der öffentliche Frieden muss durch die Beschimpfung nicht tatsächlich gefährdet sein, sondern berechtigte Gründe für die Befürchtung, der öffentliche Frieden könnte gestört werden, reichen aus. Die Beurteilung, ob das der Fall ist, soll aus der Perspektive eines objektiven, nicht besonders empfindlichen Beobachters erfolgen. Jährlich kommt es zu ca. 15 Verurteilungen.
Die Abschaffung von § 166 forderte z.B. die FDP im Wahlkampf 2017: der Staat solle die Kunstfreiheit schützen - und nicht die Gefühle religiöser Fanatiker. "Auch wenn absichtliche Schmähungen Andersgläubiger oder Andersdenkender nicht förderlich für ein friedliches Miteinander sind, halten wir den Blasphemie-Paragraphen 166 StGB für überflüssig und wollen ihn abschaffen." Damit spricht die FDP auch der Giordano-Bruno-Stiftung aus dem Herzen, die den Anschlag auf  'Charlie Hebdo' am 8.1.2015 zum Anlass für dieselbe Forderung nahm, und auch dem Grünen Volker Beck, der ebenfalls für die Abschaffung plädiert. Nach Einschätzung des Instituts für Weltanschauungsfragen (ifw) vom 30.9.2017 war die rechtspolitische Ausgangslage für eine Abschaffung des Blasphemieparagrafen während der Jamaika-Verhandlungen zwischen Union, FDP und Grünen  so gut wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr.
Gründe für diese Forderung gibt es viele. Da gibt es den Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip und den Bestimmtheitsgrundsatz. „Gemäß Grundgesetz Art. 103 Abs. 2 muss die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt sein, bevor die Tat begangen wurde. Jedoch wird nach § 166 StGB die Meinungsäußerung erst nachträglich durch das Handeln des "Opfers" zu einer Straftat, nämlich, wenn das "Opfer" für eine Störung des öffentlichen Friedens sorgt oder damit droht oder einer Religionsgruppe angehört, bei der die deutschen Strafverfolgungsbehörden mit einer Störung des öffentlichen Friedens rechnen können. Zudem ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten der Bestimmtheitsgrundsatz einzuhalten. Der "öffentliche Friede", definiert als Zustand allgemeiner Rechtssicherheit ermöglicht keine Abgrenzung straflosen und strafbewehrten Verhaltens. Als Unrechtsbegründung bleibt der Hinweis auf eine drohende Trübung der Sicherheitserwartungen zirkulär: Der öffentliche Frieden soll nur durch eine Unrechtstat gestört werden können, die gerade deswegen Unrechtstat ist, weil sie den öffentlichen Frieden störe. Der Ansatz setzt den Unrechtsgehalt der Handlung voraus, den es erst noch zu begründen gilt. Nicht das Unrecht des potenziellen Gefährdungserfolges, sondern der Tat (des Beschimpfens) muss begründet werden. (Stübinger, Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 166 Rn. 2)“ – so Jacqueline Neumann, wissenschaftliche Koordinatorin des ifw.
Letztlich widerspricht § 166 zentralen Merkmalen der Aufklärung und insbesondere dem Grundsatz, „alles hinterfragen zu dürfen. Das Licht der Vernunft soll in jeden Winkel scheinen, um Unterdrückung, Aberglaube, Intoleranz und Vorurteile zu überwinden. (...) Der Staat macht sich mit solchen Gesetzen zum Unterstützer der Feinde des offenen Diskurses. Vertreter jedweder Ideologie, ob politisch oder religiös, müssen es schlicht ertragen können, dass ihre Weltanschauung hinterfragt, kritisiert und, ja, auch lächerlich gemacht wird“ (Markus Becker, Spiegel-Online, 9.1.2015).
§ 166 erlaubt es, aus Opfern einer Einschränkung der Meinungsfreiheit Täter einer Störung der öffentlichen Ordnung zu machen – nur weil diejenigen, die kritisiert werden, als Reaktion auf die Kritik, mit der sie nicht anders umgehen können, die öffentliche Ordnung stören. Charlie Hebdo war und ist eine Zeitschrift, die kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es um die Kritik des Islam geht. Der Philosoph Michael Schmidt-Salomon meinte, der Paragraf habe „zu einer völligen Verkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses geführt“. Letztlich bestrafe er Kritiker, weil die Kritisierten Kritik nicht aushielten. 
Von ähnlichem Zuschnitt: Volksverhetzung (§ 130 StGB) und darin die Sondervorschrift über die Leugnung des Holocaust (§ 130 Abs. 3 StGB).  Wie beim Blasphemie-Paragrafen auch hier wieder ein abstraktes Gefährdungsdelikt und der problematische Rekurs auf die Eignung, die öffentliche Ordnung zu stören. Hinzu kommt noch die Tatsache, dass es sich um ein Sondergesetz über Meinungsäußerungen über spezifische historische Ereignisse handelt. Die Probleme des § 166 finden sich hier alle wieder, aber dadurch noch verschärft.
Im Kaiserreich waren es noch bis zu 2 Jahre Gefängnis, wenn man "in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden" Weise "verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewalttätigkeiten gegen einander" anreizte. Jetzt genügt die „Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören“ – abstraktes Gefährdungsdelikt – und das Bestreiten oder Verharmlosen nationalsozialistischer Makrokriminalität, in der Regel durch Spinner, die man ignorieren könnte anstatt sie ins Gefängnis zu stecken und damit Märtyrer der Meinungsfreiheit zu produzieren (Hassemer/Hoffmann-Riem 2008). Zumal das Grundgesetz eine Beschränkung des Rechts auf Meinungsfreiheit nur bei Verleumdung, übler Nachrede und Betrug sowie zum Jugendschutz kennt, nicht aber zur Absicherung des Inhalts von Geschichtsbüchern gegen Dissidenten.
Das BVerfG hatte demgegenüber am 13.4.1994 entschieden, dass Holocaustleugnung gar nicht unter das Grundrecht der Meinungsfreiheit fiele, da es sich dabei um eine unwahre Tatsachenbehauptung handele, die per se nicht zur Meinungsbildung beitragen könne. Sie komme also nicht einmal als eine im Prinzip schutzwürdige Meinung im Sinne des Art. 5 GG in Betracht. Daraufhin wurde der § 130 am 28.10.1994 um den Absatz 3 ergänzt, der nach Meinung des BVerfG kein Sonderrecht gegen bestimmte Meinungsinhalte darstellt, weil eine direkt zu Hass, Gewalt oder Willkür aufstachelnde Äußerung eine nicht von der Meinungsfreiheit gedeckte Straftat darstelle, die weiteres illegales Handeln bewirken, dazu aufrufen oder anstiften könne. – Allerdings gab es heftige und berechtigte Kritik an der Strafvorschrift.
Warum gibt es den § 130 III noch? Vielleicht befürchtet man bei Abschaffung dieser Vorschrift eine dem Ansehen der Bundesrepublik abträgliche Skandalisierung.
Fazit
Entrümpelung ist jeder Mühe wert. Die Abschaffung von obsoleten und unzweckmäßigen Kriminalisierungen und insbesondere von solchen, die aus anerkannten kriminalpolitischen Gründen geradezu kontraindiziert sind, steht als Punkt 1 auf der Tagesordnung einer um Modernität und Effizienz bemühten Kriminalpolitik.
Ein Indiz für Entrümpelungsbedarf sind hohe Einstellungsquoten. Sie zeigen oft, dass Strafgesetze nicht bestimmt genug sind, dass sie nicht strafwürdige Bagatellen umfassen und deshalb von der Praxis notdürftig abgemildert werden. Hier wäre der Politik Mut zu materiellrechtlichen Einschränkungen, Herabstufungen zu Ordnungswidrigkeiten oder ggf. Streichungen zu wünschen.
Dabei haben die Befürworter einer Entkriminalisierung immer dasselbe Problem: die Verteidiger des Status Quo machen eine andere Kosten-Nutzen-Rechnung auf. Ein unwirksames Gesetz ist immer noch eine symbolische Bekräftigung bestimmter Werte – seine Abschaffung könnte als Distanzierung von diesen Werten missverstanden werden. Deshalb ist sein Nutzen trotz der Unwirksamkeit immer noch groß genug. Und seine Beibehaltung ist es wert, einiges an negativen Folgen in Kauf zu nehmen.
Jenseits der Entrümpelung geht es um die Beschränkung auf das Wesentliche und deshalb in erster Linie um eine Auslagerung von Steuerungsbedürfnissen in das Recht der Ordnungswidrigkeiten. Ein modernes und effizientes Strafrecht ist ein Kernstrafrecht: „klug begrenzt auf jene Taten, die, weil sie die vitalen Güter des einzelnen Menschen, seine Freiheit überhaupt, verletzen, mit Sicherheit strafwürdig sind“ (Naucke 1981: 94).
Das spricht dafür, Strafgesetze, deren Rechtsgut die „öffentliche Ordnung“ oder die „Funktionsfähigkeit“ eines gesellschaftlichen Subsystems oder das „Vertrauen“ in eine bestimmte Institution ist, grundsätzlich zu entkriminalisieren und in das Recht der Ordnungswidrigkeiten zu verlagern.
Jenseits dessen ist in der Tradition der Aufklärung jede Reform auf einen Abbau des Strafrechts (Radbruch 1927) hin zu orientieren. Das heißt nichts anderes, als das Ultima Ratio Prinzip und die Subsidiarität des Strafrechts ernst zu nehmen. Auch und gerade gegenüber weniger belastenden Mitteln der Wiedergutmachung und der autonomen Konfliktregelung. Eine selbstbewusste Gesellschaft wird in vielen Fällen in der Lage sein, Ausgleichsmechanismen an die Stelle paternalistischer Kriminalstrafen zu setzen. Stichworte sind hier Mediation, Conferencing und Restorative Justice. Unwillkürlich denkt man an Franz von Liszts Postulat, dass nur dann ein Verhalten unter Strafe gestellt werden dürfe, wenn und soweit dafür eine Notwendigkeit bestehe: „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“. Und natürlich denkt man auch an Gustav Radbruchs vielzitierte Devise, dass das letzte Ziel der Kriminalpolitik nicht in einem besseren Strafrecht, sondern in etwas Besserem als dem Strafrecht liegen müsse. Während Radbruch dieses Bessere freilich in einem Besserungs- und Bewahrungsrecht vermutete, wird man heute eher an ächtungsfreie Steuerungsinstrumente im außerstrafrechtlichen Bereich und in einem wohlverstandenen Sinne auch an regulierte Formen der Selbstregulierung denken.
Dazu darf es freilich eines Erwachsenwerdens der Gesellschaft und der Fähigkeit und Bereitschaft, zivile Auseinandersetzungen und Lösungssuchen an die Stelle obrigkeitlicher Autoritäten zu setzen. Wächst das Selbstbewusstsein eines Gemeinwesens, dann drückt sich das – jedenfalls nach Friedrich Nietzsche – immer auch in einer Milderung des Strafrechts aus. Und ihm zufolge wäre auch „ein Machtbewußtsein der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie gibt – ihren Schädiger straflos zu lassen.“ Dann nämlich, so ließe sich ergänzen, wenn die Gesellschaft in der Lage ist, der Desavouierung der Norm durch diejenigen, die sie verletzen, durch zivilisatorische Mittel effektiver entgegenzutreten als das Strafrecht, das seine begrenzten Effekte doch meist nur zu erreichen vermag, indem es auf Unbotmäßigkeit mit intentionaler Leidzufügung reagiert. 
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