Entkriminalisierung und Entrümpelung: Unterschied zwischen den Versionen

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Nach dem Bremer Strafverteidigertag 2017 auf die Reform des Strafprozesses und des Sanktionenwesens - etwa auf die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe und die  Ersetzung der lebenslangen durch eine höchstens 15 Jahre dauernde Freiheitsstrafe - gedrungen hatte, geht es 2018 nicht zuletzt um eine "sinnvolle und effiziente Modernisierung des Strafrechts". Dazu will man sich auch der zeitgeschichtlichen Dimension versichern und fragt: ''Wann sind Forderungen zur Entkriminalisierung von wem und mit welchen Gründen erhoben worden und warum sind sie gescheitert? Welche Ideen sind es nach wie vor wert, umgesetzt zu werden?'' Die Devise heißt: Entkriminalisierung und Entrümpelung.
Nachdem der Bremer Strafverteidigertag 2017 auf die Reform des Strafprozesses und des Sanktionenwesens - insbesondere auf die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe und die  Ersetzung der lebenslangen durch eine Höchststrafe von 15 Jahren - gedrungen hatte, geht es 2018 nicht zuletzt um eine "sinnvolle und effiziente Modernisierung des Strafrechts". Dazu will man sich auch der zeitgeschichtlichen Dimension versichern und fragt: ''Wann sind Forderungen zur Entkriminalisierung von wem und mit welchen Gründen erhoben worden und warum sind sie gescheitert? Welche Ideen sind es nach wie vor wert, umgesetzt zu werden?'' Die Devise heißt: Entkriminalisierung und Entrümpelung.
 
Diskussionen um Kriminalisierung und Entkriminalisierung spiegeln nicht nur unterschiedliche juristische Auffassungen über die Aufgaben und Grenzen des Strafrechts, über Moralität und Rechtsgüterschutz und über Legitimität und Effektivität von Gesetzesverkündung und Implementierung wider. Sie markieren auch soziale Konfliktlinien und können als Indikatoren für ungelöste sozio-politische Themen gedeutet werden. Folgt man dieser Hypothese, dann sind es vor allem diese Bereiche, mit denen Gegenwartsgesellschaft ihre liebe Not hat:
# Mobilität und Konsum
# Leben, Fortpflanzung, Sterben
# Kommunikation
# Herrschaft


===Unfallflucht (§ 142 StGB)===
===Unfallflucht (§ 142 StGB)===
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*[[Unfallflucht]]
*[[Unfallflucht]]


Diskussionen um Kriminalisierung und Entkriminalisierung spiegeln nicht nur unterschiedliche juristische Auffassungen über die Aufgaben und Grenzen des Strafrechts, über Moralität und Rechtsgüterschutz und über Legitimität und Effektivität von Gesetzesverkündung und Implementierung wider. Sie markieren auch soziale Konfliktlinien und können als Indikatoren für ungelöste sozio-politische Themen gedeutet werden. Folgt man dieser Hypothese, dann sind es vor allem diese Bereiche, mit denen Gegenwartsgesellschaft ihre liebe Not hat:
# Mobilität und Konsum
# Leben, Fortpflanzung, Sterben
# Kommunikation
# Herrschaft


Dissens über Gerümpel. Die höchste Entkriminalisierungs-Evidenz müsste eigentlich mit dem Argument der Unzweckmäßigkeit und Ineffektivität verbunden sein. Da, wo sich das Instrument der Kriminalisierung als untaugliches Mittel zu einem an sich legitimen Zweck darstellt, müsste leicht Konsens über die Abschaffung entsprechender Gesetze herzustellen sein. Wer ein modernes und effizientes Strafrecht will, darf keine Angst vor der Entrümpelung haben. Solche Gesetze gehören auf den Sperrmüll.
Dissens über Gerümpel. Die höchste Entkriminalisierungs-Evidenz müsste eigentlich mit dem Argument der Unzweckmäßigkeit und Ineffektivität verbunden sein. Da, wo sich das Instrument der Kriminalisierung als untaugliches Mittel zu einem an sich legitimen Zweck darstellt, müsste leicht Konsens über die Abschaffung entsprechender Gesetze herzustellen sein. Wer ein modernes und effizientes Strafrecht will, darf keine Angst vor der Entrümpelung haben. Solche Gesetze gehören auf den Sperrmüll.


Das geschulte Auge von Strafrechtswissenschaftlern und Kriminologen erkennt in manchen Gesetzen schon den Gerümpelcharakter zur Zeit ihrer Zusammengeschustertwerdens im Ministerium. Das war zum Beispiel bei der Gleichstellung sexueller '''Übergriffe''' "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person" mit Vergewaltigungen im neuen § 177 StGB von 2016 (Frommel, Kreuzer, Hörnle: Rückfall in "Strafrechtsmoralismus und Prüderie" - Tatjana Hörnle) der Fall, einem Massendelikt, das voraussehbar manche Betroffene, aber auch viele nicht Betroffene zu Anzeigen verleiten wird. Kreuzer erwartet folgenlose Verfahrenseinstellungen; er fordert mit Monika Frommel: "Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte werden am besten von Familiengerichten geregelt." (Auch das Gewaltschutzgesetz böte hier bessere Ansätze), aber auch bei der Verschlimmbesserung des § 244 StGB aus dem Jahr 2017 durch die Aufwertung des Einbruchs in '''Privatwohnungen''', bei dem es nicht einmal mehr eine Strafminderung für minder schwere Fälle geben soll, obwohl diese sogar für den schwereren Tatbestand des bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls existiert. Eine Entrümpelung durch Rücknahme der Neuerungen würde hier nicht zur Entkriminalisierung führen, wohl aber eine Abkehr von der jetzigen Überpönalisierung bedeuten.  Sind die [[Unfallflucht]] und das [[Schwarzfahren]] Fälle für die Entrümpelung? In beiden Fällen wird immer wieder eine Entkriminalisierung gefordert - und in beiden Fällen könnte man vermuten, dass der Erfolg ausblieb, weil die Entkriminalisierungsseite noch über allzu wenig Einfluss verfügt, obwohl sie die besseren Argument auf ihrer Seite hat. Doch sehen wir uns die Sache genauer an.
Das geschulte Auge von Strafrechtswissenschaftlern und Kriminologen erkennt in manchen Gesetzen schon den Gerümpelcharakter zur Zeit ihrer Zusammengeschustertwerdens im Ministerium. Das war zum Beispiel bei der Gleichstellung sexueller '''Übergriffe''' "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person" mit Vergewaltigungen im neuen § 177 StGB von 2016 (Frommel, Kreuzer, Hörnle: Rückfall in "Strafrechtsmoralismus und Prüderie" - Tatjana Hörnle) der Fall, einem Massendelikt, das voraussehbar manche Betroffene, aber auch viele nicht Betroffene zu Anzeigen verleiten wird. Kreuzer erwartet folgenlose Verfahrenseinstellungen; er fordert mit Monika Frommel: "Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte werden am besten von Familiengerichten geregelt." (Auch das Gewaltschutzgesetz böte hier bessere Ansätze), aber auch bei der Verschlimmbesserung des § 244 StGB aus dem Jahr 2017 durch die Aufwertung des Einbruchs in '''Privatwohnungen''', bei dem es nicht einmal mehr eine Strafminderung für minder schwere Fälle geben soll, obwohl diese sogar für den schwereren Tatbestand des bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls existiert. Eine Entrümpelung durch Rücknahme der Neuerungen würde hier nicht zur Entkriminalisierung führen, wohl aber eine Abkehr von der jetzigen Überpönalisierung bedeuten.  Sind die [[Unfallflucht]] und das [[Schwarzfahren]] Fälle für die Entrümpelung? In beiden Fällen wird immer wieder eine Entkriminalisierung gefordert - und in beiden Fällen könnte man vermuten, dass der Erfolg ausblieb, weil die Entkriminalisierungsseite noch über allzu wenig Einfluss verfügt, obwohl sie die besseren Argument auf ihrer Seite hat. Doch sehen wir uns die Sache genauer an.
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