Entkriminalisierung und Entrümpelung: Unterschied zwischen den Versionen

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§ 175 StGB existierte von 1872 (Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches) bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Bis 1969 bestrafte er auch die „widernatürliche Unzucht mit Tieren“ (ab 1935 nach § 175b ausgelagert). Insgesamt wurden etwa 140.000 Männer nach den verschiedenen Fassungen des § 175 verurteilt. 1935 wurde die Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis angehoben. Außerdem wurde der Tatbestand von beischlafähnlichen auf sämtliche „unzüchtigen“ Handlungen ausgeweitet. Der neu eingefügte § 175a bestimmte für „erschwerte Fälle“ zwischen einem und zehn Jahren Zuchthaus.  
§ 175 StGB existierte von 1872 (Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches) bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Bis 1969 bestrafte er auch die „widernatürliche Unzucht mit Tieren“ (ab 1935 nach § 175b ausgelagert). Insgesamt wurden etwa 140.000 Männer nach den verschiedenen Fassungen des § 175 verurteilt. 1935 wurde die Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis angehoben. Außerdem wurde der Tatbestand von beischlafähnlichen auf sämtliche „unzüchtigen“ Handlungen ausgeweitet. Der neu eingefügte § 175a bestimmte für „erschwerte Fälle“ zwischen einem und zehn Jahren Zuchthaus.  


In der Bundesrepublik hielt man (anders als in der DDR, deren Oberstes Gericht den Homosexuellen gleiche Bürgerrechte zusprach und die den § 151 im Dezember 1988 mit Wirkung zum 1.7.1989 aufhob) an den §§ 175 und 175a aus der Zeit des Nationalsozialismus fest. Auch noch der E62 sprach sich nachdrücklich dafür aus. In der DDR hatte das Oberste Gericht schon 1987 festgestellt: „Homosexualität ebenso wie Heterosexualität eine Variante des Sexualverhaltens darstellt. Homosexuelle Menschen stehen somit nicht außerhalb der sozialistischen Gesellschaft, und die Bürgerrechte sind ihnen wie allen anderen Bürgern gewährleistet.“ Am 14. Dezember 1988 wurde § 151 mit Wirkung vom 1.7.1989 ersatzlos gestrichen, was blieb, war eine einheitliche Regelung des Schutzalters gegen sexuellen Missbrauch bei 16 Jahren.
In der Bundesrepublik hielt man (anders als in der DDR, deren Oberstes Gericht den Homosexuellen gleiche Bürgerrechte zusprach und die den § 151 im Dezember 1988 mit Wirkung zum 1.7.1989 aufhob) an den §§ 175 und 175a aus der Zeit des Nationalsozialismus fest. Auch noch der E62 sprach sich nachdrücklich dafür aus. In der DDR hatte das Oberste Gericht schon 1987 festgestellt: „Homosexualität ebenso wie Heterosexualität eine Variante des Sexualverhaltens darstellt. Homosexuelle Menschen stehen somit nicht außerhalb der sozialistischen Gesellschaft, und die Bürgerrechte sind ihnen wie allen anderen Bürgern gewährleistet.“ Am 14. Dezember 1988 wurde § 151 mit Wirkung vom 1.7.1989 ersatzlos gestrichen, was blieb, war eine einheitliche Regelung des Schutzalters gegen sexuellen Missbrauch bei 16 Jahren. - Dann kam es in mehreren Schritten zur Entkriminalisierung. Am 23. November 1973 führte das Kabinett Brandt II (eine sozialliberale Koalition) eine umfassende Reform des Sexualstrafrechts durch. Der entsprechende Abschnitt im StGB wurde von „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ in „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ umbenannt. Ebenso wurde der Begriff der Unzucht durch den der „sexuellen Handlungen“ ersetzt. Im § 175 blieb nur noch der Sex mit Minderjährigen als qualifizierendes Merkmal zurück, wobei man das sogenannte Schutzalter von 21 auf 18 Jahre absenkte.  Ab 1975 kam es jährlich nur mehr zu maximal 200 Verurteilungen.
 
Das Wahlprogramm der FDP zur Bundestagswahl 1980 forderte, „um Homosexuelle rechtlich und gesellschaftlich gleichzustellen“, „§ 175 zu streichen. Für den Schutz von Kindern und Abhängigen reichen die übrigen Strafbestimmungen aus.“[33] Die FDP konnte diese Forderung in den Verhandlungen zur Regierungsbildung (Kabinett Schmidt III) nicht durchsetzen.[34][35][36]
 
Am 9. März 1989 brachten 40 Abgeordnete und die Fraktion Die Grünen einen Gesetzentwurf zur ersatzlosen Streichung des §§ 175 StGB im Deutschen Bundestag ein,[37] der jedoch sowohl von der Regierungskoalition aus CDU und FDP als auch von der SPD abgelehnt wurde.
 
Die Wiedervereinigung änderte zunächst nichts an der unterschiedlichen Behandlung der Homosexualität in Ost und West. Der Einigungsvertrag setzte zwar das Bundes-StGB im Beitrittsgebiet in Kraft, jedoch mit der Maßgabe, dass u. a. §§ 175, 182 und 236 (Entführung mit Willen der Entführten) nicht anzuwenden seien (Anlage I Kap. III Sachgebiet C Abschnitt III Nr. 1) und u. a. §§ 149, 153-155 StGB-DDR in Kraft blieben (Anlage II Kap. III Sachgebiet C Abschnitt I Nr. 1).Im Jahr 1994 beschloss der Bundestag mit dem 29. Strafrechtsänderungsgesetz vom 31. Mai 1994 die ersatzlose Aufhebung des § 175 StGB. Das absolute Schutzalter für sexuelle Handlungen wurde einheitlich auf 14 Jahre festgelegt (Sexueller Missbrauch von Kindern, § 176 StGB); zusätzlich wurde für besondere Fälle der Sexueller Missbrauch von Jugendlichen (§ 182 StGB) mit einem relativen Schutzalter von 16 Jahren ausgeweitet und geschlechtsneutral formuliert. Ein Verstoß gegen § 182 Abs. 3 StGB wird gemäß § 182 Abs. 5 StGB im Gegensatz zu einem Verstoß gegen § 176 StGB grundsätzlich nur auf Antrag verfolgt (relatives Antragsdelikt), es sei denn, dass die Staatsanwaltschaft ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung als gegeben ansieht.




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