Entkriminalisierung: Unterschied zwischen den Versionen

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==Gegenwart==
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=== Der Aufruf: "Reformiert endlich das Strafrecht!"===
=== Der Aufruf: "Reformiert endlich das Strafrecht!"===
Im Dezember 2017 veröffentlichte DIE ZEIT online einen Aufruf von Arthur Kreuzers, der dazu aufforderte, endlich dasd Strafrecht zu reformieren. Kreuzer stieß sich vor allem an der aktionistischen, auf jeden Skandal und auf jede Skandalisierung mit einem Strafgesetz reagierenden Politik des aktuellen Justizministers - einer Politik, auf die wegen ihrer Geringschätzung von Fachlichkeit und Expertenwissen und wegen ihres Schielens auf reflexhafte Zustimmung bei großen Teilen der (uninformierten) Bevölkerung auch der Begriff des Populismus Anwendung finden könnte.
Im Dezember 2017 veröffentlichte DIE ZEIT online einen Aufruf von Arthur Kreuzers, der dazu aufforderte, endlich dasd Strafrecht zu reformieren. Kreuzer stieß sich vor allem an der aktionistischen, gleichsam auf jeden Skandal und auf jede Skandalisierung mit einem Strafgesetz reagierenden Politik der symbolischen bzw. der Schaufenstergesetzgebung:


*Statt die Existenz problematischer Sterbehilfeorganisationen im Vereins- und Gewerberecht zu unterbinden, ist seit 2015 die "geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" ein eigener Straftatbestand. Arthur Kreuzer stimmt dem Urteil des Strafrechtlers Henning Rosenau aus Halle zu, für den der Gesetzesbeschluss "der schwarze Freitag für die Selbstbestimmung am Lebensende" war. Kreuzer: "Man glaubte die Zeiten moralisierenden Strafrechts überwunden. Überdies ist die Regelung höchst unbestimmt. Mit Strafverfolgung muss bereits rechnen, wer in Palliativstationen oder Hospizen einen Sterberaum und Sterbebegleitung jemandem zusagt, der sich in einer unerträglichen Krankheitssituation bewusst etwa für das Sterbefasten entscheidet. Sterbebegleiter sehen sich dem Dilemma ausgesetzt: zwischen einer Strafbarkeit wegen Suizidbeihilfe und unterlassener Hilfeleistung. Das politische Ziel, die Palliativmedizin zu stärken, wird in sein Gegenteil verkehrt: In Palliativ- und Hospizarbeit Tätige werden verunsichert. Denunziationen enttäuschter Angehöriger von Verstorbenen sind absehbar, ebenso peinliche und erniedrigende polizeiliche Ermittlungen in den sensiblen intimsten Bereichen des Lebens und Sterbens. Dabei ist vorauszusehen, dass wegen zu erwartender Nachweisprobleme solche Verfahren später eingestellt werden." (Kreuzer 2017).
*Statt die Existenz problematischer Sterbehilfeorganisationen im Vereins- und Gewerberecht zu unterbinden, ist seit 2015 die "geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" ein eigener Straftatbestand. Arthur Kreuzer stimmt dem Urteil des Strafrechtlers Henning Rosenau aus Halle zu, für den der Gesetzesbeschluss "der schwarze Freitag für die Selbstbestimmung am Lebensende" war. Kreuzer: "Man glaubte die Zeiten moralisierenden Strafrechts überwunden. Überdies ist die Regelung höchst unbestimmt. Mit Strafverfolgung muss bereits rechnen, wer in Palliativstationen oder Hospizen einen Sterberaum und Sterbebegleitung jemandem zusagt, der sich in einer unerträglichen Krankheitssituation bewusst etwa für das Sterbefasten entscheidet. Sterbebegleiter sehen sich dem Dilemma ausgesetzt: zwischen einer Strafbarkeit wegen Suizidbeihilfe und unterlassener Hilfeleistung. Das politische Ziel, die Palliativmedizin zu stärken, wird in sein Gegenteil verkehrt: In Palliativ- und Hospizarbeit Tätige werden verunsichert. Denunziationen enttäuschter Angehöriger von Verstorbenen sind absehbar, ebenso peinliche und erniedrigende polizeiliche Ermittlungen in den sensiblen intimsten Bereichen des Lebens und Sterbens. Dabei ist vorauszusehen, dass wegen zu erwartender Nachweisprobleme solche Verfahren später eingestellt werden." (Kreuzer 2017).
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*Statt gegen ausreise- und möglicherweise auch kampfwillige Islamisten polizeiliche Ausreiseverbote zu erlassen, betreibt man seit 2015 mit dem Tatbestand der "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat" polizeiliche Gefahrenabwehr in strafrechtlichem Gewand. Die künstliche Konstruktion von Tatgeschehen durch den Strafgesetzgeber kriminalisiert - wie selbst der BGH mit großen Bauchschmerzen feststellte - faktisch "den Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung". Das noch dem "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" zuzuordnen, ist gewagt. Kreuzer: "Strafbar ist bereits, wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden lassen kann, die es ihm ermöglichen, später islamistische Aktionen zu unterstützen. Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Ohne dass hier eine wirkliche Straftat vorliegt, will man Tatgeschehen künstlich behaupten, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen. Das Recht, polizeiliche Gefährderbekämpfung im vor-strafrechtlichen Bereich zu betreiben, hat die Polizei als Institution der Gefahrenabwehr. Ausreiseverbote hätten Vorrang und könnten wirksamer sein, zumal man deren Verletzung dann als Straftat ausgestalten könnte. Wo sich aber das Strafrecht so weit ins Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen vorwagt, mündet es letztlich in ein Gesinnungsstrafrecht. Das ist weder rechtsstaatlich noch verhältnismäßig.
*Statt gegen ausreise- und möglicherweise auch kampfwillige Islamisten polizeiliche Ausreiseverbote zu erlassen, betreibt man seit 2015 mit dem Tatbestand der "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat" polizeiliche Gefahrenabwehr in strafrechtlichem Gewand. Die künstliche Konstruktion von Tatgeschehen durch den Strafgesetzgeber kriminalisiert - wie selbst der BGH mit großen Bauchschmerzen feststellte - faktisch "den Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung". Das noch dem "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" zuzuordnen, ist gewagt. Kreuzer: "Strafbar ist bereits, wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden lassen kann, die es ihm ermöglichen, später islamistische Aktionen zu unterstützen. Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Ohne dass hier eine wirkliche Straftat vorliegt, will man Tatgeschehen künstlich behaupten, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen. Das Recht, polizeiliche Gefährderbekämpfung im vor-strafrechtlichen Bereich zu betreiben, hat die Polizei als Institution der Gefahrenabwehr. Ausreiseverbote hätten Vorrang und könnten wirksamer sein, zumal man deren Verletzung dann als Straftat ausgestalten könnte. Wo sich aber das Strafrecht so weit ins Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen vorwagt, mündet es letztlich in ein Gesinnungsstrafrecht. Das ist weder rechtsstaatlich noch verhältnismäßig.


*Entkriminalisierungen forderte Kreuzer (2017) vor allem im Bereich des symbolischen Strafrecht. Offensichtlichstes Beispiel socher Schaufenstergesetzgebung sei die Strafbarkeit von Pornografie:
*Statt angesichts von Boulevard-Skandalen wie dem um den Politiker Sebastian Edathy die Ruhe zu bewahren, sind seit 2015 sogar der versuchte Besitz oder Erwerb von höchst unbestimmt definiertem Posingmaterial strafbar. Kreuzer: "Es reicht, Pornolinks anzuklicken. Den Aufruf einer solchen Website rückgängig zu machen, befreit nicht von der Strafbarkeit. Hier wird zudem ein massenhaftes Verhalten kriminalisiert. Gerade junge Menschen kann das angesichts weit verbreiteten Sextings – des Verschickens aufreizender Fotos über Messenger – zur Denunziation unliebsamer Bekannter verleiten. Deswegen werden unzählige "Unschuldige ins Visier der Justiz geraten" (FAZ)." Ein solcher Rückfall "in Strafrechtsmoralismus und Prüderie" (Tatjana Hörnle) war auch die Gleichstellung sexuellen Handelns "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person" mit einer Vergewaltigung (2016). Kreuzer: "Ein Massendelikt, das voraussehbar zwar manche Betroffene, leider auch viele nicht Betroffene zu Anzeigen verleiten wird. Folgenlose Verfahrenseinstellungen sind zu erwarten. Verurteilungsquoten bei Sexualdelikten werden weiter sinken. - Frauenverbände werden erst recht rügen, die Justiz nehme solches Verhalten nicht ernst. Indes lässt die bekannte Aussage-gegen-Aussage-Konstellation nichts anderes zu. Die Kieler Strafrechtlerin Monika Frommel bringt es auf die Formel: "Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte werden am besten von Familiengerichten geregelt." Auch das Gewaltschutzgesetz böte hier sinnvollere Ansätze als das Strafrecht.
:"Seit 2015 sind sogar versuchter Besitz oder Erwerb von höchst unbestimmt definiertem Posingmaterial strafbar. Es reicht, Pornolinks anzuklicken. Den Aufruf einer solchen Website rückgängig zu machen, befreit nicht von der Strafbarkeit. Hier wird zudem ein massenhaftes Verhalten kriminalisiert. Gerade junge Menschen kann das angesichts weit verbreiteten Sextings – des Verschickens aufreizender Fotos über Messenger – zur Denunziation unliebsamer Bekannter verleiten. Deswegen werden unzählige "Unschuldige ins Visier der Justiz geraten" (FAZ). Das Ganze war eine hektische, untaugliche Reaktion auf die Causa des SPD-Politikers Sebastian Edathy. Die Berliner Strafrechtlerin Tatjana Hörnle rügt einen Rückfall "in Strafrechtsmoralismus und Prüderie". Ähnliches gilt für die 2016 der Vergewaltigung in der Strafbarkeit gleichgestellte Tat sexuellen Handelns "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person". Ein Massendelikt, das voraussehbar zwar manche Betroffene, leider auch viele nicht Betroffene zu Anzeigen verleiten wird. Folgenlose Verfahrenseinstellungen sind zu erwarten. Verurteilungsquoten bei Sexualdelikten werden weiter sinken. - Frauenverbände werden erst recht rügen, die Justiz nehme solches Verhalten nicht ernst. Indes lässt die bekannte Aussage-gegen-Aussage-Konstellation nichts anderes zu. Die Kieler Strafrechtlerin Monika Frommel bringt es auf die Formel: "Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte werden am besten von Familiengerichten geregelt." Das Gewaltschutzgesetz bietet sinnvolle Ansätze."


*Ähnlich verhalte es sich mit dem Phänomen populistischer Strafrechtsausweitung etwa im Fall der Verschärfung des Straftatbestands eines Einbruchs in Privatwohnungen:
*Statt sich angesichts zunehmender Wohnungseinbrüche aufverbesserte Kriminalistik zu verlassen, machte man Mitte 2017 aus dem Straftatbestand des Einbruchs in Privatwohnungen einen Verbrechenstatbestand mit einer Mindeststrafe von einem Jahr. "Minder schwere Fälle" mit herabgesetzter Strafe sind gestrichen. - Entgegen kriminologischen Erkenntnissen wurde suggeriert, es handele sich vornehmlich um organisierte Taten. Tatsächlich spielt sich vieles im Nahraum ab, wenn etwa ehemalige Partner, Angestellte oder Nachbarn in die Wohnung einsteigen, um sich vermeintlich Ihnen Zustehendes zurückzuholen. - Jetzt aber drohen Übermaßstrafen, die das Verfassungsgericht auf den Plan rufen werden, oder Umgehungsstrategien in der Justiz provozieren. Obendrein widerspricht die Regelung der Gesetzessystematik: Jeder Verbrechenstatbestand sieht "minder schwere Fälle" vor, weil es solche erfahrungsgemäß immer geben kann. Sie widerspricht sogar eklatant dem noch schwereren Tatbestand bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls. Dafür gibt es weiterhin "minder schwere Fälle" mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten.
:"Seit Mitte 2017 ist es ein Verbrechen mit Mindeststrafe von einem Jahr. "Minder schwere Fälle" mit herabgesetzter Strafe sind gestrichen. - Entgegen kriminologischen Erkenntnissen wurde suggeriert, es handele sich vornehmlich um organisierte Taten. Tatsächlich spielt sich vieles im Nahraum ab, wenn etwa ehemalige Partner, Angestellte oder Nachbarn in die Wohnung einsteigen, um sich vermeintlich Ihnen Zustehendes zurückzuholen. - Jetzt aber drohen Übermaßstrafen, die das Verfassungsgericht auf den Plan rufen werden, oder Umgehungsstrategien in der Justiz provozieren. Obendrein widerspricht die Regelung der Gesetzessystematik: Jeder Verbrechenstatbestand sieht "minder schwere Fälle" vor, weil es solche erfahrungsgemäß immer geben kann. Sie widerspricht sogar eklatant dem noch schwereren Tatbestand bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls. Dafür gibt es weiterhin "minder schwere Fälle" mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten.


Seine Forderungen:  
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1.841

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