Entkriminalisierung: Unterschied zwischen den Versionen

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==Begriff==
Entkriminalisierung bezeichnet den Vorgang der Rücknahme einer Kriminalisierung. Durch die Entkriminalisierung entfällt die Strafbarkeit eines Verhaltens. Der ''Report on Decriminalisation'' (Council of Europe 1980: 13) definiert Entkriminalisierung als die Gesamtheit der Prozesse, mittels derer bestimmte Verhaltensweisen dem Zuständigkeitsbereich des Strafrechts entzogen werden, bzw. „by which the 'competence' of the penal system to apply sanctions as a reaction to a certain form of conduct is withdrawn“.
Entkriminalisierung bezeichnet den Vorgang der Rücknahme einer Kriminalisierung. Durch die Entkriminalisierung entfällt die Strafbarkeit eines Verhaltens. Der ''Report on Decriminalisation'' (Council of Europe 1980: 13) definiert Entkriminalisierung als die Gesamtheit der Prozesse, mittels derer bestimmte Verhaltensweisen dem Zuständigkeitsbereich des Strafrechts entzogen werden, bzw. „by which the 'competence' of the penal system to apply sanctions as a reaction to a certain form of conduct is withdrawn“.


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'''Ungeeignet''' ist ein Strafgesetz dann, wenn es den angestrebten Erfolg gar nicht erreichen kann. Dass es auch dann verfassungswidrig ist, wenn es zwar zur Erreichung des Erfolgs geeignet, aber dazu gar '''nicht erforderlich''' ist, weil es andere und weniger einschneidende Mittel gibt, ist ein an der Aufklärung orientiertes Denken des politischen Liberalismus und des philosophischen Utilitarismus. Nicht ohne Grund schlug schon Cesare Beccaria in seiner kleinen, aber Epoche machenden Schrift über Verbrechen und Strafen aus dem Jahre 1764 einen hohen Ton an, als er postulierte (1764/1966: 52) "Jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, sagt der große Montesquieu, ist tyrannisch; ein Satz, der wie folgt sich verallgemeinern läßt: jeder Akt der Herrschaft eines Menschen über einen Menschen, der nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch." Dieser Gedanke tauchte dann sogar in Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789 wieder auf, wo es hieß: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires.“ - In Deutschland erklärte es Mittermaier im Jahre 1819 zum "Grundfehler" seiner Zeit, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“ - Kein geringerer als Franz von Liszt (zit. n. Roos 1981: 7f.) forderte in seiner Strafzweckslehre, dass ein Verhalten nur unter Strafe gestellt werden dürfe, wenn und soweit es dafür eine Notwendigkeit bestehe: „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“ (zit. nach Roos 1981: 7 f.). Gustav Radbruch erklärte 1927 in seiner Schrift „Abbau des Strafrechts“, dass das Ziel der strafrechtlichen Entwicklung nicht die Verbesserung des Strafrechts sei, sondern das Ersetzen des Strafrechts durch etwas Besseres. Seitdem wurde eine Begrenzung des Strafrechts immer wieder gefordert (Roos 1981: 8 ff.). - Eine Ausprägung findet das Kriterium der Notwendigkeit im Ultima-Ratio-Prinzip. Dieses besagt: Strafrecht darf als schwerstes staatliches Eingriffsinstrument nur eingesetzt werden, wenn andere gesellschaftliche oder gesetzliche Regulierungsmöglichkeiten unzureichend sind, um wichtige Rechtsgüter zu schützen. - Schließlich kann ein Strafgesetz verfassungswidrig sein, weil es allzu tief und '''unverhältnismäßig''' in die Grundrechte eingreift.  
'''Ungeeignet''' ist ein Strafgesetz dann, wenn es den angestrebten Erfolg gar nicht erreichen kann. Dass es auch dann verfassungswidrig ist, wenn es zwar zur Erreichung des Erfolgs geeignet, aber dazu gar '''nicht erforderlich''' ist, weil es andere und weniger einschneidende Mittel gibt, ist ein an der Aufklärung orientiertes Denken des politischen Liberalismus und des philosophischen Utilitarismus. Nicht ohne Grund schlug schon Cesare Beccaria in seiner kleinen, aber Epoche machenden Schrift über Verbrechen und Strafen aus dem Jahre 1764 einen hohen Ton an, als er postulierte (1764/1966: 52) "Jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, sagt der große Montesquieu, ist tyrannisch; ein Satz, der wie folgt sich verallgemeinern läßt: jeder Akt der Herrschaft eines Menschen über einen Menschen, der nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch." Dieser Gedanke tauchte dann sogar in Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789 wieder auf, wo es hieß: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires.“ - In Deutschland erklärte es Mittermaier im Jahre 1819 zum "Grundfehler" seiner Zeit, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“ - Kein geringerer als Franz von Liszt (zit. n. Roos 1981: 7f.) forderte in seiner Strafzweckslehre, dass ein Verhalten nur unter Strafe gestellt werden dürfe, wenn und soweit es dafür eine Notwendigkeit bestehe: „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“ (zit. nach Roos 1981: 7 f.). Gustav Radbruch erklärte 1927 in seiner Schrift „Abbau des Strafrechts“, dass das Ziel der strafrechtlichen Entwicklung nicht die Verbesserung des Strafrechts sei, sondern das Ersetzen des Strafrechts durch etwas Besseres. Seitdem wurde eine Begrenzung des Strafrechts immer wieder gefordert (Roos 1981: 8 ff.). - Eine Ausprägung findet das Kriterium der Notwendigkeit im Ultima-Ratio-Prinzip. Dieses besagt: Strafrecht darf als schwerstes staatliches Eingriffsinstrument nur eingesetzt werden, wenn andere gesellschaftliche oder gesetzliche Regulierungsmöglichkeiten unzureichend sind, um wichtige Rechtsgüter zu schützen. - Schließlich kann ein Strafgesetz verfassungswidrig sein, weil es allzu tief und '''unverhältnismäßig''' in die Grundrechte eingreift.  


== Voraussetzungen ==
== Voraussetzungen ==
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Weniger ethischen Grundsätzen als vielmehr einer deutlichen Entlastung des Kriminaljustizsystems - nun allerdings wieder auf dem regulären parlamentarischen Weg - diente auch die '''Herabstufung''' der strafgesetzlichen Tatbestände der sog. Übertretungen auf das Niveau von Ordnungswidrigkeiten (1975) - teils aber auch Aufwertung zu Vergehen (vgl. Baumann JZ 72, 2ff., Dencker JZ 73, 144 ff.).
Weniger ethischen Grundsätzen als vielmehr einer deutlichen Entlastung des Kriminaljustizsystems - nun allerdings wieder auf dem regulären parlamentarischen Weg - diente auch die '''Herabstufung''' der strafgesetzlichen Tatbestände der sog. Übertretungen auf das Niveau von Ordnungswidrigkeiten (1975) - teils aber auch Aufwertung zu Vergehen (vgl. Baumann JZ 72, 2ff., Dencker JZ 73, 144 ff.).


Einem sozialen und ethischen Wandel entsprang allerdings die sozial-liberale Strafrechtsreform der 1960er und 1970er Jahre. Bei der Strafrechtsreform der 1960er und frühen 1970er Jahre gab es Vereinigungen wie die Humanistische Union und unter tatkräftiger Anführung durch den Strafrechtsprofessor Jürgen Baumann auch den Klub der sog. Alternativprofessoren, so benannt nach ihren einen dezidiert liberalen Geist atmenden Alternativ-Entwürfen zum geltenden Strafrecht und zum offiziösen Entwurf zu einer Großen Strafrechtsreform aus dem Jahre 1962 (E 62). Zu ihrem Glück hatten diese Akteure, getragen von einer Welle der allgemeinen gesellschaftlichen Liberalisierung, auch beste Kontakte zu einer relevanten politischen Partei - der damaligen FDP - die das, was da geplant und gefordert wurde, auch institutionell umsetzen konnte, die also als ''institutioneller Umsetzer'' (Hubert Treiber) der Reformprojekte fungierte. Die Grundidee war hier, dass ein Verhalten, das nicht erheblich sozialschädlich ist, auch dann nicht strafbar gemacht oder bleiben darf, wenn es von großen Teilen der Bevölkerung als moralisch anstößig bzw. unsittlich angesehen wird. So kam es zur Einschränkung oder manchmal auch Streichung von Tatbeständen wie denen in §§ 172 a.F.(Ehebruch), 175b a.F. (Unzucht zwischen Männern), 175b a.F. (Widernatürliche Unzucht), 180 a.F. (Kuppelei) und 180a I, 181a II (Prostitution).
Einem '''liberalen Wertwandel''' entsprang die Strafrechtsreform der 1960er und 1970er Jahre. Vereinigungen wie die Humanistische Union und vor allem die sog. Alternativprofessoren verbündeten sich in ihrer Opposition zum konservativ-reaktionären Strafgesetzbuch-Entwurf von 1962 (E 62) und fanden in der FDP (Wahlspruch: "Wir schneiden die alten Zöpfe ab") einen geeigneten ''institutionellen Umsetzer'' (Hubert Treiber). Nur moralwidriges oder sittenwidriges, aber nicht in erheblichem Maße sozialschädliches Verhalten sollte nicht mehr strafbar sein. Auch dann nicht, wenn es von großen Teilen der Bevölkerung als anstößig bzw. unsittlich angesehen werde. So kam es zur Einschränkung oder manchmal auch Streichung von Tatbeständen wie denen in §§ 172 a.F.(Ehebruch), 175b a.F. (Unzucht zwischen Männern), 175b a.F. (Widernatürliche Unzucht), 180 a.F. (Kuppelei) und 180a I, 181a II (Prostitution).


Der zähe Kampf um die Reform des § 218 StGB zeigte gleich mehreres:  
Der zähe Kampf um die Reform des § 218 StGB zeigte gleich mehreres:  
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