Entkriminalisierung: Unterschied zwischen den Versionen

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==Erscheinungsformen==
==Erscheinungsformen==
Entkriminalisierung ist nicht immer gleichbedeutend mit Legalisierung. Legalisierende Entkriminalisierungen sind sogar relativ selten. Zwar gibt es Beispiele dafür, dass mit der Strafbarkeit eines Verhaltens auch das Verboten-Sein entfällt (Ende der Alkoholprohibition in den USA: was seit 1920 strafbar war, wurde ab 1933 wieder erlaubt). Häufiger als '''''legalisierende''' Entkriminalisierungen'' sind '''''transformierende''''', bei der zwar die Strafbarkeit, nicht aber das Verboten-Sein eines Verhaltens entfällt. Im Falle der Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit fällt zwar die Strafdrohung weg, nicht aber die Sanktionsdrohung (in Form von Bußgeld).  
Entkriminalisierung ist nicht immer gleichbedeutend mit Legalisierung. '''Legalisierende Entkriminalisierungen''' sind weniger häufig als '''transformierende''' (Kohl & Scheerer 1989), bei denen das Verhalten - z.B. als Ordnungswidrigkeit - verboten bleibt, aber nicht mehr mit Kriminalstrafe und dem mit ihr verbundenen sozialethischen Unwerturteil bedroht wird.


Für Wolfgang Naucke (1984: 169) sind alle transformierenden Entkriminalisierungen nur Augenwischerei. Er nennt sie "scheinbare Entkriminalisierungen" und führt als Beispiele den Ersatz der Kriminalstrafe durch Maßregeln der Besserung und Sicherung, durch Unterbringung oder durch Bußen nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht an. In all diesen Fällen ziehe man "die staatliche Strafe ab, wohl wissend, daß damit die Abweichung bleibt, und gibt die Lösung des Problems an die Gesellschaft zurück“. Alles, was hier passiert, ist: "Das Mittel der Unterdrückung wird umetikettiert." (Zur Entkriminalisierung im Sinne einer formal die Strafdrohung abschaffende Rechtsänderung, die aber aufgrund ihrer undurchschaubaren Regelungen in der Praxis gar nicht ankommt und insofern das Adjektiv 'scheinbar' verdient, vgl. Schäfer 2006).
Wolfgang Naucke (1984: 169) akzeptiert nur die Legalisierung eines bis dato strafbaren Verhaltens als "wirkliche Entkriminalisierung". Die Aufhebung von längst obsolet gewordenen Strafbestimmungen - z.B. betreffend den Zweikampf - denen keinerlei praktische Relevanz zukommt, nennt er "deklaratorische Entkriminalisierungen". Transformationen in das Ordnungswidrigkeitenrecht gelten ihm als bloß "scheinbare Entkriminalisierungen", weil das Verhalten weiter eine Abweichung darstellt und verboten bleibt. Die Kriminalstrafe kann durch Maßregeln der Besserung und Sicherung, durch Unterbringung oder durch Bußen nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht ersetzt werden - aber das ändert nichts daran, "daß damit die Abweichung bleibt". Man "gibt die Lösung des Problems an die Gesellschaft zurück“, aber letztlich bleibt doch alles beim Alten: "Das Mittel der Unterdrückung wird umetikettiert."  


Kohl und Scheerer (1989: 89) unterscheiden anders:  
Kohl & Scheerer (1989: 89) unterscheiden anders:  
*Wenn das Verhalten weiterhin einen Straftatbestand darstellt, die Sanktion aber nicht Strafe, sondern Maßregel heißt, liegt gar keine Entkriminalisierung vor. Denkbar wäre allenfalls, auch nicht unproblematisch, von einer Entpönalisierung zu sprechen, da die poena, die peinliche Kriminalstrafe, ja entfällt, wenn auch die Sanktionsdrohung erhalten bleibt.
#Wird ein strafbares Verhalten durch die Entkriminalisierung zum erlaubten Verhalten, liegt eine ersatzlose Entkriminalisierung vor.
*Wo hingegen das Verhalten vom Straftatbestand zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft wird, liegt eine ''echte'' - wenn auch nicht ''ersatzlose'' - Entkriminalisierung vor. Kohl und Scheerer schlugen vor, in solchen Fällen von einer ''transformierenden'' Entkriminalisierung zu sprechen: das Verhalten bleibt zwar verboten und das Verbot bleibt auch weiterhin sanktionsbewehrt, aber was Kriminalunrecht war, wird nun in Verwaltungsunrecht transformiert. Zuständigkeiten und Verfahrensweisen ändern sich und werden zumindest in einer Hinsicht milder: es entfällt bis auf Weiteres die Drohung mit der Kriminalstrafe und der Freiheitsstrafe und damit entfällt auch das Odium des Kriminellen, d.h. die besondere Intensität sozialer Ächtung für Tat und Täter. Der Vorwurf der bloßen Umetikettierung trifft diese Fälle nicht, weil sich mit der Rücknahme der Kriminalstrafe tatsächlich etwas ändert. - Beispiel ist die Umwandlung der strafbaren Straßenverkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten durch das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz vom 24.5.1968. Tatbestände werden formal aus dem Strafrecht ausgegliedert, um anschließend in einer anderen Rechtsmaterie, z. B. in einem Katalog für Ordnungswidrigkeiten, wieder aufzutauchen. Das ist eine tatsächliche Entkriminalisierung, die nicht dadurch weniger wirklich wird, dass sie die Rechtsmaterie "nur" verlagert. Denn immerhin fallen der spezifische Zwangscharakter und die spezifische Ächtung weg. Das Verhalten gilt nicht mehr als "crimen" mit all den Konsequenzen, die das hat.
#Wo das Verhalten vom Straftatbestand zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft wird, liegt eine ''echte'' - wenn auch nicht ''ersatzlose'' - Entkriminalisierung vor. Kohl und Scheerer schlugen vor, in solchen Fällen von einer ''transformierenden'' Entkriminalisierung zu sprechen: das Verhalten bleibt zwar verboten und das Verbot bleibt auch weiterhin sanktionsbewehrt, aber was Kriminalunrecht war, wird nun in Verwaltungsunrecht transformiert. Zuständigkeiten und Verfahrensweisen ändern sich und werden zumindest in einer Hinsicht milder: es entfällt bis auf Weiteres die Drohung mit der Kriminalstrafe und der Freiheitsstrafe und damit entfällt auch das Odium des Kriminellen, d.h. die besondere Intensität sozialer Ächtung für Tat und Täter. Der Vorwurf der bloßen Umetikettierung trifft diese Fälle nicht, weil sich mit der Rücknahme der Kriminalstrafe tatsächlich etwas ändert. - Beispiel ist die Umwandlung der strafbaren Straßenverkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten durch das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz vom 24.5.1968. Tatbestände werden formal aus dem Strafrecht ausgegliedert, um anschließend in einer anderen Rechtsmaterie, z. B. in einem Katalog für Ordnungswidrigkeiten, wieder aufzutauchen. Das ist eine tatsächliche Entkriminalisierung, die nicht dadurch weniger wirklich wird, dass sie die Rechtsmaterie "nur" verlagert. Denn immerhin fallen der spezifische Zwangscharakter und die spezifische Ächtung weg. Das Verhalten gilt nicht mehr als "crimen" mit all den Konsequenzen, die das hat.
#Wenn das Verhalten weiterhin einen Straftatbestand darstellt, die Sanktion aber nicht Strafe, sondern Maßregel heißt, liegt gar keine Entkriminalisierung vor. Denkbar wäre allenfalls, auch nicht unproblematisch, von einer Entpönalisierung zu sprechen, da die poena, die peinliche Kriminalstrafe, ja entfällt, wenn auch die Sanktionsdrohung erhalten bleibt.
 
Da auch in Fällen der "wirklichen" Entkriminalisierung andere Regelsysteme an die Stelle der kriminalrechtlichen treten können - man denke an die Regulierung des Alkoholmarktes durch das Wirtschafts- und Gewerberecht nach Aufhebung der Alkoholprohibition in den USA - ist "ersatzlos" kein unmissverständlicher Begriff für diese Art der Entkriminalisierung. Besser wäre es, in solchen Fällen von legalisierender Entkriminalisierung zu sprechen, um den entscheidenden Unterschied zur bloßen Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit herauszustellen. - Da andererseits die Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit tatsächlich vom Odium des Kriminellen befreit, ist auch der Begriff der "scheinbaren" Entkriminalisierung nicht glücklich gewählt. Letztlich genügt auf der begrifflichen Ebene wohl die Unterscheidung zwischen de jure und de facto Entkriminalisierungen einerseits und zwischen legalisierenden und transformierenden Entkriminalisierungen andererseits.  


Die '''Bestimmungsgründe''' von Entkriminalisierungen können zweck- oder wertrational sein. Der Europaratsbericht (Council of Europe 1980: 15) unterschied:
Die '''Bestimmungsgründe''' von Entkriminalisierungen können zweck- oder wertrational sein. Der Europaratsbericht (Council of Europe 1980: 15) unterschied:
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