Diversion

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Begriff

Diversion
[lat.] "diversus" Angriff von der Seite, Ablenkung
[eng.] "diversion" Kurswechsel, Umleitung


Mit "Diversion" werden kriminalpolitische Strategien und Tendenzen bezeichnet, die die "Ablenkung", "Umlenkung" oder "Wegführung" des Täters vom System formeller Sozialkontrolle bezwecken, nachdem eine strafrechtliche Normverletzung amtlich festgestellt wurde. Diversion zielt auf die Bewältigung der Kriminalität, insbesondere der Jugend- und Bagatellkriminalität, außerhalb der Justiz und der justiziellen Instanzen. Es geht weiterhin um die Ablenkung bestimmter Rechtsfälle von förmlichen Verfahren und die Zuführung der Betroffenen in Alternativprogramme der informellen Sozialkontrolle. (Kaiser, 1993)

International maßgeblich ist die Definition des japanischen Strafrechtslehrers Hirano. Er versteht unter Diversion „jede Abweichung von dem normalen Strafverfahren vor der gerichtlichen Schuldfeststellung, die zur Teilnahme des Verdächtigen in einem nicht- strafrechtlichen Programm führt, dessen Zweck nicht in der Bestrafung des Verbrechers sondern in seiner Resozialisierung oder in der Lösung des Konflikts, aus dem die Straftat entstanden ist, besteht“ (Hirano, 1981).

Ursprung der Diversion

In dem 1967 veröffentlichten Schlussbericht der vom amerikanischen Präsidenten eingesetzten „Commission on Law Enforcement and Administration of Justice“ wurde die Bezeichnung „Diversion“ zu einem grundlegenden Begriff und in die kriminalpolitische Diskussion eingeführt.

In den USA entstanden vier verschiedene Diversionsebenen:

  • Diversion im vorstaatlichen Bereich durch Nichtanzeige und Wiedervergesellschaftung des Strafrechts („neighborhood justice“)
  • Diversion durch die Polizei, bei der die Ablenkung bereits in der ersten Kontrollinstanz erfolgt. Diese Form von Diversion beruht auf den besonderen Handlungsspielräumen der Polizei in der angloamerikanischen Justizpraxis („police diversion“)
  • Diversion durch die Staatsanwaltschaft, als Einstellung („diversion to nothing“) oder bedingte Aussetzung der Strafverfolgung unter bestimmten Auflagen
  • Diversion durch den Richter, die oft im Vorfeld des förmlichen Hauptverfahrens entwickelt wird („court- based diversion“)

Diversion wurde zur Lösungsstrategie unterschiedlicher personenbezogener und systembezogener Probleme. So ist beispielsweise die Entlastung der amerikanischen Justiz ein Grund für die starke Ausbreitung von Diversionsprogrammen in den 70er Jahren.

Inzwischen wird die Diversion in ihrem Ursprungsland als Randphänomen bezeichnet. Dafür verantwortlich ist das Aufkommen neoklassischer Tendenzen in der amerikanischen Strafrechtslehre und Kriminalpolitik. Auch die restriktive Finanzpolitik der Reagan- Administration in den 80er Jahren sorgte für die Schließung vieler lokaler Diversionsprogramme wegen Streichung von Bundesmitteln.

Im Zeitpunkt des Rückganges der Diversionspolitik in den USA, wuchs die internationale Beachtung und Anerkennung verschiedener Diversionsstrategien. Heute richtet sich die überwiegende Zahl der internationalen Diversionsprogramme auf die Bekämpfung der Bagatell- und Jugendkriminalität.

Entwicklung in Deutschland

Der Gedanke des Verzichts auf ein förmliches Jugendstrafverfahren als Reaktion auf Jugendkriminalität ist nicht neu. Er findet sich schon in der berühmten Vermutung von Liszts, es sei unter dem Aspekt der Rückfallverhütung besser, einen jungendlichen Straftäter „laufen zu lassen“, als ihn dem Gesetz entsprechend zu bestrafen. (Von Liszt 1905) Bereits aus der Verordnung des sächsischen Justizministers vom 25.03.1895 geht hervor, dass insbesondere bei jugendlichen Straftätern die Durchführung eines förmlichen Strafverfahrens mehr Schaden als Nutzen bewirken kann.

In § 32 „Reichsjugendgerichtsgesetz“ (RJGG) von 1923 und in § 30 RJGG von 1943 war die Möglichkeit der Verfahrenseinstellung bereits auf staatsanwaltlicher Ebene vorgesehen. Im JGG von 1953 wurden die entsprechenden Möglichkeiten, ein Verfahren gegen einen Jugendlichen anders als durch Urteil zu beenden, in den §§ 45 und 47 verankert. 1990 gab es eine strukturelle Umstellung der §§ 45 und 47 JGG in dem „ersten Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes“ (1. JGGÄndG). Darin verdeutlicht der Gesetzgeber seinen Willen, den eingriffsschwächsten Maßnahmen und den informellen Reaktionsmöglichkeiten von Jugendstaatsanwaltschaft und Jugendrichtern Vorrang einzuräumen. Die Nichtverfolgungsermächtigung der §§ 45 und 47 JGG bilden die wichtigste Grundlage für Diversion im Jugendstrafverfahren und sind Ausdruck des Erziehungsgedankens.

Um in der gesamten Bundesrepublik eine gleichmäßige Anwendung von Diversion zu fördern, wurden in allen Bundesländern Richtlinien zur Bearbeitung von Verfahren im Rahmen von § 45 JGG erlassen.

Diversionsrichtlinien

Diversionsmöglichkeiten im Jugendsttrafrecht und im allgemeinen Strafrecht

Unter den Rahmenbedingungen der deutschen Rechtsordnung (Prinzip der Unschuldsvermutung, Schuldgrundsatz und Legalitätsprinzip) sind solche Diversionsstrategien möglich, die die Verfahrenseinstellung im staatsanwaltlichen Vorverfahren oder im gerichtlichen Zwischen- und Hauptverfahren nutzen. Als Diversionsmöglichkeiten kommen folgende in Betracht:

  • Diversion durch Staatsanwaltschaft oder Gericht in Verfahren wegen Bagatellstraftaten (§§ 153, 153a StPO)
Die Staatsanwaltschaft kann das Strafverfahren einstellen, wenn die Schuld gering ist und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht oder dieses nach § 153a StPO dadurch beseitigt werden kann, dass dem Täter Auflagen und Weisungen, wie z. B. Schadenwiedergutmachung, Geldbuße oder gemeinnützige Arbeit auferlegt werden.
Das mit der Reform des BtMG eingeführte aber auch umstrittene Prinzip „Therapie statt Strafe“ hat ermöglicht, die angestrebte Rehabilitation ohne Durchführung eines Gerichtsverfahrens zu erreichen.
  • Staatsanwaltliche oder richterliche Diversion im Verfahren gegen Jugendliche oder Heranwachsende (§§ 45, 47 JGG)
Das Überwiegen spezialpräventiv- erzieherischer Gesichtspunkte des Jugendstrafverfahrens hat der Diversion einen großen Anwendungsbereich eröffnet. § 45 Abs. 1 und 2 JGG, die auf die Voraussetzungen des § 153 StPO verweisen, erlauben die Einstellung des Verfahrens durch den Staatsanwalt. § 45 Abs. 3 JGG stellt innerhalb des Systems abgestufter Reaktionsmöglichkeiten nach § 45 JGG die nach der Reaktionsschwere höchste Stufe dar. Er kommt dann in Betracht, wenn der Beschuldigte geständig ist, der Jugendstaatsanwalt die Beteiligung des Richters sowie die beantragte Maßnahme für erforderlich, die Erhebung der Anklage aber nicht für geboten hält. Aber auch nach der Erhebung der Anklage, im Hauptverfahren, kann die Einstellung des Verfahrens durch den Richter erfolgen.

Die Rechtslage in der Bundesrepublik schließt andere Diversionsmöglichkeiten - wie z.B. die so genannte „police- diversion“ - aus. Auf polizeilicher Ebene herrscht das strenge Legalitätsprinzip. Die Polizei kann keine divertierenden Maßnahmen treffen, sondern muss jeden Fall an die Staatsanwaltschaft weiterleiten.

Kriminalpolitische Ziele

Folgende Zielvorstellungen werden in Deutschland mit Diversion verbunden:

  • Entlastungsmotivation:
Die durch die Diversion angestrebte Selektion führt zur Entlastung der Justiz von Bagatellverfahren. Dadurch werden Strafverfahren beschleunigt und deren Kosten und die der Verbrechensbekämpfung im allgemeinen eingespart. Die knappen Ressourcen der Justiz können neu verteilt werden und ermöglichen die Konzentration auf schwierigere Fälle.
  • Kriminologische Motivation
Die kriminologischen Erkenntnisse zu Ursachen und Verlauf des besonderen Phänomens von Jugend- und Bagatellkriminalität und zur Wirkung justitieller Maßnahmen waren und sind diejenigen, die das Reformprogramm „Diversion“ begründen und tragen.
Diversion war eine Reaktion auf die Labeling- Theorie, „der zufolge Kriminalität nichts Originäres, sondern ein Etikett, ein Label ist, dass die Gesellschaft einem Abweichler aufklebt“ (Blau 1985)
Wenn Kriminalität durch Kriminalisierung mittels Zuschreibung durch justitielle Kontrollinstanzen entsteht, so erscheint kriminologisch richtiger, durch Verzicht auf solche Zuschreibungen „kriminalpräventiv“ zu wirken.
Es ist rechtsstaatlich geboten, die für den Straftäter am wenigsten belastende Sanktion zu wählen. Dies gilt insbesondere für die Jugendkriminalität, bei der es sich überwiegend um passagere Entwicklungskriminalität handelt. Das Jugendstrafverfahren stellt in diesen Fällen oft eine Überreaktion dar. Die Vermeidung scharfer Sanktionsmittel, insbesondere der Freiheitsbeschränkung, führt zu einer Humanisierung des Strafrechts.
  • Pädagogische und therapeutische Motivation
Die schnelle Reaktion auf Jugendkriminalität in einem „formlosen Erziehungsverfahren“ hat eine erhebliche Bedeutung für ihre pädagogische Wirkung. Tat und Reaktion bleiben in einem engen Zusammenhang. Die außergerichtliche, informelle und flexible Gestaltung der Diversionsprogramme verspricht ferner Erfolg bei der Bekämpfung von Drogenkriminalität.

Kritische Einwände

Literatur

ACHENBACH, D. (2000): Der Diversionstag, DVJJ- Journal Nr. 170, S.384ff

ALBRECHT, H.-J. (1982): Legalbewährung bei zu Geldstrafe und Freiheitsstrafe Verurteilten, in KAISER, G. (Hrsg.) Kriminologische Forschungsberichte aus dem Max- Planck- Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Band 9, S. 229ff

ALBRECHT, H.-J./ KICHLING, M. (Hrsg.): Jugendstrafrecht in Europa (2002)

BLAU, G. (1985): Diversion unter nationalem und internationalem Aspekt, in Kury , H. (Hrsg.) Kriminologische Forschung in der Diskussion: Berichte, Standpunkte, Analysen, S.311ff

BMJ (Hrsg.): Diversion im deutschen Jugendstrafrecht- informelle Erledigung und ambulante Maßnahmen auf dem Prüfstand (1989)

BMJ (Hrsg.): Diversion im deutschen Jugendstrafrecht- Thesen, Empfehlungen, Bibliographie (1989)

FASOULA, E. (2003): Rückfall nach Diversionsentscheidungen im Jugendstrafrecht und im allgemeinen Strafrecht

HEINZ, W. (1992): Diversion im Jugendstrafverfahren, ZstW 104, S. 591

HEINZ, W./ STORZ, R. (1992): Diversion im Jugendstrafverfahren der BRD

HERING, E./ SESSAR, K. (1990): Praktizierte Diversion

HIRANO, S. (1981): Diversion und Schlichtung, ZstW 93, S. 1085

KAISER, G. (1978): Möglichkeiten der Bekämpfung der Bagatellkriminalität, ZstW 90, S. 877ff

KAISER, G. (1993): Intensivtäter, in KKW, S. 178ff

KALPERS- SCHWADERLAPP, M. (1989): Diversion to nothing, Dissertation

KERNER, H.-J. (Hrsg.): Diversion statt Strafe? (1983)

KIRCHHOFF, G.- F. (1981): Diversionsprogramme in den USA, in KURY, H./ LERCHENMÜLLER, H. (Hrsg.) Diversion. Alternativen zu klassischen Sanktionsformen, Band 1, S. 246ff

KURY, H./ LERCHENMÜLLER, H. (Hrsg.): Diversion. Alternativen zu klassischen Sanktionsformen, Band 1 und Band 2 (1981)

LUDWIG, W. (1989): Diversion statt Strafe

MESSNER, C. (1996): Recht im Streit

PFEIFFER, Ch. (1979): Das Projekt der Brücke e.V. München, ein Beitrag zur „inneren Reform“ des Jugendkriminalrechts und zur Sanktionsforschung im Bereich der Weisungen und Zuchtmittel, KrimJ, S. 261Ff

PFEIFFER, Ch. (1983): Kriminalprävention im Jugendgerichtsverfahren. Jugendrichterliches Handeln vor dem Hintergrund des Brücke- Projekts

VON LISZT, F. (1905): Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Band 2, S. 331ff

WÖLFELL, G. (1993): Diversion im Hamburger Jugendstrafverfahren: Jugendbewährungshilfe als neuer Diversionsagent.