Differenzierung im Strafvollzug

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Differenzierung im Strafvollzug

Bezug und Relevanz Franz von Liszts kriminalpolitische Forderungen bezogen sich neben der Verbesserung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse insbesondere auf ein auf die konkrete Resozialisierung des Täters ausgestalteten Strafvollzug, der eine Differenzierung der Spezialprävention nach Tätertypen voraussetzt: „Gelegenheitstäter“ sollten eine Bewährungsstrafe als Denkzettel erhalten, „verbesserliche Hangtäter“ eine Freiheitsstrafe, die von Maßnahmen der „Resozialisierung“ begleitet sein sollte, „unverbesserliche Hangtäter“ sollten dauerhaft verwahrt werden. In der vollzuglichen Praxis hat sich bis heute durchweg bestätigt, dass nicht für alle Insassen identische vollzugliche Bedingungen passend sind, dass z. B. suchtmittelabhängige Gefangene und Insassen, denen Vollzugslockerungen gewährt werden oder neu aufgenommene und solche Gefangene, die kurz vor der Entlassung stehen oder zu Gewalttätigkeit Neigende und solche Gefangenen, die nur eine kurze Ersatzfreiheitsstrafe zu verbüßen haben, hinsichtlich der Betreuungsstandards, aber auch hinsichtlich der Sicherungsstandards einerseits unterschiedlich behandelt werden können und andererseits unterschiedlich behandelt werden müssen, da in Zeiten knapper Ressourcen diese effizient und zielgerichtet einzusetzen sind.

Entwicklung aus der Praxis Dieses Grundprinzip der Binnendifferenzierung innerhalb einer Justizvollzugsanstalt des geschlossenen Vollzuges soll am Beispiel der in Hamburg neu errichteten JVA Billwerder in seiner Entwicklung veranschaulicht werden. In der zwischenzeitlich abgerissenen Justizvollzugsanstalt Vierlande (Anstalt IX), einer Anstalt des geschlossenen Vollzuges mit 223 Haftplätzen, war ab 2002 ein Binnendifferenzierungskonzept erprobt worden, dass den unterschiedlichen Bedarfen verschiedener Gefangenengruppen durch unterschiedliche vollzugliche Bedingungen Rechnung trug: Alle Gefangenen waren fortan nicht denselben Betreuungs- und Sicherungsstandards unterworfen. Viel mehr unterschieden sich die vollzuglichen Standards je nach Länge der zu verbüßenden Strafen, nach Kooperationsbereitschaft und nach der Eignung der Gefangenen für die ihnen schrittweise gewährte Öffnung innerhalb des Vollzuges bzw. für die Gewährung von Vollzugslockerungen. Dieses Konzept der Binnendifferenzierung ist anschließend z. B. auch in der JVA Fuhlsbüttel in Hamburg weiter entwickelt worden. In der JVA Billwerder, die die zwischenzeitlich abgerissene JVA Vierlande ersetzte, ist das dort entworfene Konzept anknüpfend an die dort gemachten Erfahrungen fortgeschrieben worden.

Systematik der Differenzierung Nach Abschluss des Aufnahmeverfahrens werden die Gefangenen durch eine der beiden Zugangsabteilungen einer Behandlungsgruppe zugewiesen: Basisgruppe, Entwicklungsgruppe und Bewährungsgruppe unterscheiden sich hinsichtlich aller den Gefangenen gewährten vollzuglichen Angebote. • In der BASISGRUPPE wird wenig Aufschluss gewährt, in der Regel wird den Gefangenen zunächst noch keine Arbeit zugewiesen. Die Gefangenen erhalten zwei Stunden Besuch im Monat. Es werden nur wenige Sport- und Freizeitangebote gemacht. • In der ENTWICKLUNGSGRUPPE können die Gefangenen neben dem vierzehntägigen Regelbesuch monatlich einmal auch am unüberwachten Langzeitbesuch teilnehmen. In der Regel nehmen die Gefangenen dieser Gruppe an Schulungs- oder Qualifizierungsangeboten teil oder gehen zur Arbeit; sie haben doppelt soviel Sportmöglichkeiten wie die Gefangenen in der Basisgruppe. Daneben werden weitere Freizeitmöglichkeiten angeboten. • In der BEWÄHRUNGSGRUPPE können die Gefangenen drei Stunden Regelbesuch jeden Monat sowie ebenfalls einen, ggf. auch zwei unüberwachte Langzeitbesuche erhalten. Alle Gefangenen sind in der Regel in Arbeit oder nehmen an Schulungs- oder Qualifizierungsangeboten teil. Arbeitende bzw. zur Schule gehende Gefangene haben doppelt soviel Sport- und Freizeitangebote. Die Gefangenen in der Bewährungsgruppe können Ausgang und Urlaub erhalten bzw. unter Aufsicht von Mitarbeitern zur Außenarbeit eingesetzt werden.

Dieses System der stationsgebundenen Binnendifferenzierung sieht horizontale und vertikale Mobilität vor: Mit horizontaler Mobilität ist gemeint, dass Gefangene aus dem Zugangsbereich in jede einzelne der Vollzugsgruppen zugewiesen werden können. Gefangene, die in die Basis- oder Entwicklungsgruppe eingewiesen worden sind, können von dort nach angemessener Beobachtungs- und erfolgreicher Erprobungszeit in die nächste Gruppe eingewiesen werden, gleichsam „aufrücken“. Soweit längere Freiheitsstrafen zu verbüßen sind, durchlaufen Gefangene also nacheinander möglicherweise alle drei Vollzugsgruppen.

Nachdrückliche vollzugliche Auffälligkeiten führen dazu, dass Insassen aus der Bewährungsgruppe wieder zurück in die Entwicklungsgruppe oder zurück in die Basisgruppe verlegt werden können. Für die Gefangenen ist damit verbunden, dass sie einzelne, ihnen zuvor gewährte Spielräume und Freizügigkeiten wieder einbüßen.

Nachteilige Konsequenzen und Nutzen Damit ist verbunden, dass sich Gefangene mit jedem Wechsel der Vollzugsgruppe mit neuen Mitarbeitern vertraut machen bzw. jeweils Mitarbeiter sich von neuem mit dem einzelnen Gefangenen vertraut machen müssen, was regelmäßig zu Unterbrechungen der Betreuungskontinuität führt.

Dieser Nachteil wird aufgewogen durch die Möglichkeit, dass Gefangene durch eigene Kooperationsbereitschaft schrittweise an ihrem vollzuglichen Fortkommen aktiv mitwirken, ihnen also ihre vollzugliche Weiterentwicklung nicht in den Schoß fällt. Zugleich wird vermieden, dass Gefangene sich allzu lange im Stationsgefüge eingewöhnen. Die Erfahrung in der Praxis hat gezeigt, dass durch die dem Gefangenen abverlangte vertikale Mobilität bzw. die Notwendigkeit, sich auf neue Mitarbeiter, aber auch auf neue Mitgefangene einzustellen, die Entstehung typischer subkultureller Strukturen vermeiden hilft. Solche hafttypischen subkulturellen Muster profitieren nach aller Erfahrung naturgemäß von statischen und über die Zeit stabilen Strukturen. Vertikale Mobilität verhindert genau solche statischen Strukturen und entzieht damit anstaltsüblichen subkulturellen Mustern den Nährboden. Zudem ermöglicht vertikale Mobilität mit dem Weichsel von einer Vollzugsgruppe in die nächste, dass Insassen dann, wenn sie mit einzelnen Mitarbeitern nicht sachgerecht zusammenarbeiten können bzw. subjektiv Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit Mitarbeitern erlebten, nicht für lange Zeit auf diese Mitarbeiter fixiert bleiben, sondern sich alsbald im Zuständigkeitsbereich anderer Mitarbeiter untergebracht sehen.

Fazit Die skizzierte Abstufung vollzuglicher Standards muss einerseits differenziert genug sein, um Unterschiede hinsichtlich Betreuung und Sicherung erkennbar werden zu lassen. Andererseits darauf die Differenzierung nicht zu feingliederig sein, damit sie für Gefangene (und gleichermaßen für Mitarbeiter) noch transparent und nachvollziehbar bleibt.

Die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre haben gezeigt, dass sich dieses Prinzip der stationsgebundenen Binnendifferenzierung Betreuungsmöglichkeiten gezielt hilft, gefängnistypische Subkultur spürbar zu begrenzen und zugleich vermeiden hilft, einzelne Gefangene zu übersichern.


Literaturhinweis/ weblinks Franz von Liszt: Der Zweckgedanke im Strafrecht, 1882/83 [1] 17.10., 14.30 h [2]