Differenzierung im Strafvollzug

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Unterschiedliche Zuständigkeiten sind nicht dasselbe wie Differenzierung

In Deutschland weisen die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften Justizvollzugsanstalten unterschiedliche Zuständigkeiten zu: Danach sind Untersuchungsgefangene von Strafgefangenen zu trennen -entweder in gesonderten Untersuchungshaftanstalten (z. B. die Untersuchungshaftanstalt Hamburg oder die JVA Braunschweig) oder zumindest in räumlich abgetrennten Untersuchungshaftabteilungen (z. B. in der JVA Hannover). Frauen werden -von seltenen Ausnahmeeinrichtungen wie z. B. das zwischenzeitlich geschlossene Moritz-Liepmann-Haus in Hamburg oder die zwischenzeitlich ebenfalls geschlossene Sozialtherapeutische Anstalt Altengamme in Hamburg abgesehen- von Männern getrennt in gesonderten Einrichtungen untergebracht. Jugendliche dürfen nicht gemeinsam mit Erwachsenen zusammen inhaftiert werden und sind in gesonderten Jugendanstalten wie z. B. der Jugendanstalt Hameln oder der JVA Hahnöfersand in Hamburg. Solche gesetzlich normierten Zuständigkeiten schreiben den Justizvollzugsanstalten als Ganzes unterschiedliche Gruppen von Gefangenen zu. Innerhalb der Anstalten wird zudem definiert, welche Teilgruppen nach welchen evtl. unterschiedlichen Arbeitskonzepten betreut werden sollen. Das ist mit dem Stichwort "Binnendifferenzierung" beschrieben.


Begriffsklärung: Differenzierung

Der Duden übersetzt Differenzierung mit "Unterscheidung", "Sonderung", "Abstufung", "Aufgliederung". Differenzierung innerhalb einer Justizvollzugsanstalt heißt: Nicht alle Gefangenen sind zu völlig gleichen Bedingungen untergebracht, sondern es wird absichtsvoll unterschieden und die bewussten Unterschiede sind Konzept.


Bezug und Relevanz: Wozu Differenzierung? Müssen nicht alle Gefangene gleich behandelt werden?

Einrichtungen, in denen Menschen in Freiheitsentzug untergebracht werden, haben sich stets je nach Zielgruppe an unterschiedlichen Schwerpunkten auszurichten gehabt. Manche Differenzierung erigbt sich aus den einschlägigen gesetzlichen Vorschriften, die die Gestaltungd des Freiheitsentzuges regeln: Jugendliche sind von Erwachsenen getrennt unterzubringen und hr Vollzug ist erzieherisch zu gestalten; Untersuchungsgefangene sind i. d. R. von Strafgefangenen zu trennen, für sie gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung die Unschuldsvermutung, daher verbietet sich jede behandlerische Einflussnahme; Frauen und Männer sind i. d. R. in getrennten Einrichtungen, mindestens in von einander getrennten Abteilungen unterzubringen usw.

So wie sich Gefängnisse, forensisch-psychiatrische Krankenhäuser usw. in ihrer äußeren Organisationsform unterscheiden, hat sich in der vollzuglichen Praxis als erfolfreich erwiesen, die Organisation eines Gefängnisses pp. auch nach innen zu untergliedern. Nicht für alle Insassen sind identische vollzugliche Bedingungen passend, weil z. B. suchtmittelabhängige Gefangene und Insassen, denen Vollzugslockerungen gewährt werden, unterschiedliche Freiräume brauchen. Oder neu aufgenommene und solche Gefangene, die kurz vor der Entlassung stehen oder zu Gewalttätigkeit Neigende und solche Gefangenen, die nur eine kurze Ersatzfreiheitsstrafe zu verbüßen haben, müssen hinsichtlich der Betreuungsstandards, aber auch hinsichtlich der Sicherungsstandards einerseits unterschiedlich behandelt werden können und andererseits unterschiedlich behandelt werden müssen, da in Zeiten knapper Ressourcen diese effizient und zielgerichtet einzusetzen sind.

Naturgemäß gibt es ganz verschiedene Binnendifferenzierungkonzepte in Justizvollzugsanstalten, die sich je nach Zuständigkeit und Betreuungskonzept der Anstalt unterscheiden. In der Hochsicherheitsanstalt Celle z. B. sind seit jeher verschiedene Sicherheitsstufen unterschieden worden. In der Jugendanstalt Hameln ist hinsichtlich der Betreuung und Erziehung der jungen Gefangenen zwischen Untersuchungs- und Jugendstrafgefangenen und sodann innerhalb der letzten Gruppe z. B. je nach Mitarbeitsbereitschaft unterschieden worden. Nachfolgend soll ein Binnendifferenzierungskonzept am Beispiel der JVA Billwerder vorgestellt werden, das nach Inbetriebnahme dieser neuen Anstalt 2003 entworfen wurde und unterschiedlichen Betreuungsbedarfen, aber auch den begrenzten personellen Ressourcen Rechnung tragen sollte.


Binnendifferenzierung: Die JVA Billwerder in Hamburg als Praxisbeispiel

Entwicklung aus der Praxis

In der zwischenzeitlich abgerissenen Justizvollzugsanstalt Vierlande (Anstalt IX), einer Anstalt des geschlossenen Vollzuges mit 223 Haftplätzen, war ab 2002 ein Binnendifferenzierungskonzept erprobt worden, dass den unterschiedlichen Bedarfen verschiedener Gefangenengruppen durch unterschiedliche vollzugliche Bedingungen Rechnung trug: Alle Gefangenen waren fortan nicht denselben Betreuungs- und Sicherungsstandards unterworfen. Viel mehr unterschieden sich die vollzuglichen Standards je nach Länge der zu verbüßenden Strafen, nach Kooperationsbereitschaft und nach der Eignung der Gefangenen für die ihnen schrittweise gewährte Öffnung innerhalb des Vollzuges bzw. für die Gewährung von Vollzugslockerungen. Dieses Konzept der Binnendifferenzierung ist anschließend z. B. auch in der JVA Fuhlsbüttel in Hamburg weiter entwickelt worden. In der JVA Billwerder, die die zwischenzeitlich abgerissene JVA Vierlande ersetzte, ist das dort entworfene Konzept anknüpfend an die dort gemachten Erfahrungen fortgeschrieben worden.


Systematik der Binnendiifferenzierung in der JVA Billwerder

Nach Abschluss des Aufnahmeverfahrens werden die Gefangenen durch eine der beiden Zugangsabteilungen einer Behandlungsgruppe zugewiesen: Basisgruppe, Entwicklungsgruppe und Bewährungsgruppe unterscheiden sich hinsichtlich aller den Gefangenen gewährten vollzuglichen Angebote.

Basisgruppe In der sog. BASISGRUPPE wird wenig Aufschluss gewährt, in der Regel wird den Gefangenen zunächst noch keine Arbeit zugewiesen. Die Gefangenen erhalten zwei Stunden Besuch im Monat. Es werden nur wenige Sport- und Freizeitangebote gemacht.

Entwicklungsgruppe In der sog. ENTWICKLUNGSGRUPPE können die Gefangenen neben dem vierzehntägigen Regelbesuch monatlich einmal auch am unüberwachten Langzeitbesuch teilnehmen. In der Regel nehmen die Gefangenen dieser Gruppe an Schulungs- oder Qualifizierungsangeboten teil oder gehen zur Arbeit; sie haben doppelt soviel Sportmöglichkeiten wie die Gefangenen in der Basisgruppe. Daneben werden weitere Freizeitmöglichkeiten angeboten.

Bewährungsgruppe In der sog. BEWÄHRUNGSGRUPPE können die Gefangenen drei Stunden Regelbesuch jeden Monat sowie ebenfalls einen, ggf. auch zwei unüberwachte Langzeitbesuche erhalten. Alle Gefangenen sind in der Regel in Arbeit oder nehmen an Schulungs- oder Qualifizierungsangeboten teil. Arbeitende bzw. zur Schule gehende Gefangene haben doppelt soviel Sport- und Freizeitangebote. Die Gefangenen in der Bewährungsgruppe können Ausgang und Urlaub erhalten bzw. unter Aufsicht von Mitarbeitern zur Außenarbeit eingesetzt werden.


Mobilität

Dieses System der stationsgebundenen Binnendifferenzierung sieht horizontale und vertikale Mobilität vor: Mit horizontaler Mobilität ist gemeint, dass Gefangene aus dem Zugangsbereich in jede einzelne der Vollzugsgruppen zugewiesen werden können. Gefangene, die in die Basis- oder Entwicklungsgruppe eingewiesen worden sind, können von dort nach angemessener Beobachtungs- und erfolgreicher Erprobungszeit in die nächste Gruppe eingewiesen werden, gleichsam „aufrücken“. Soweit längere Freiheitsstrafen zu verbüßen sind, durchlaufen Gefangene also nacheinander möglicherweise alle drei Vollzugsgruppen.

Nachdrückliche vollzugliche Auffälligkeiten führen dazu, dass Insassen aus der Bewährungsgruppe wieder zurück in die Entwicklungsgruppe oder zurück in die Basisgruppe verlegt werden können. Für die Gefangenen ist damit verbunden, dass sie einzelne, ihnen zuvor gewährte Spielräume und Freizügigkeiten wieder einbüßen.


Nachteilige Konsequenzen und Nutzen

Damit ist verbunden, dass sich Gefangene mit jedem Wechsel der Vollzugsgruppe mit teilweise neuen Mitarbeitern vertraut machen bzw. jeweils Mitarbeiter sich teilweise von neuem mit dem einzelnen Gefangenen vertraut machen müssen, was regelmäßig zu Unterbrechungen der Betreuungskontinuität führt.

Dieser Nachteil wird aufgewogen durch die Möglichkeit, dass Gefangene durch eigene Kooperationsbereitschaft schrittweise an ihrem vollzuglichen Fortkommen aktiv mitwirken, ihnen also ihre vollzugliche Weiterentwicklung nicht in den Schoß fällt. Zugleich wird vermieden, dass Gefangene sich allzu lange im ihnen vertrauten Stationsgefüge eingewöhnen. Die Erfahrung in der Praxis hat gezeigt, dass durch die dem Gefangenen abverlangte Mobilität bzw. die Notwendigkeit, sich auf neue Mitarbeiter, aber auch auf neue Mitgefangene einzustellen, die Entstehung typischer subkultureller Strukturen vermeiden hilft. Solche hafttypischen subkulturellen Muster profitieren naturgemäß von sehr statischen und über die Zeit stabilen Strukturen. Mobilität verhindert genau solche statischen Strukturen und entzieht damit anstaltsüblichen subkulturellen Mustern den Nährboden.

Zudem ermöglicht Mobilität mit dem Weichsel von einer Vollzugsgruppe in die nächste, dass Insassen dann, wenn sie mit einzelnen Mitarbeitern nicht sachgerecht zusammenarbeiten können bzw. subjektiv Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit Mitarbeitern erlebten, nicht für lange Zeit auf diese Mitarbeiter fixiert bleiben, sondern sich alsbald im Zuständigkeitsbereich anderer Mitarbeiter untergebracht sehen.


Fazit

Die skizzierte Abstufung vollzuglicher Standards muss einerseits differenziert genug sein, um Unterschiede hinsichtlich Betreuung und Sicherung erkennbar werden zu lassen. Andererseits darauf die Differenzierung nicht zu feingliederig sein, damit sie für Gefangene (und gleichermaßen für Mitarbeiter) noch transparent und nachvollziehbar bleibt.

Die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre haben gezeigt, dass sich dieses Prinzip der stationsgebundenen Binnendifferenzierung Betreuungsmöglichkeiten gezielt hilft, gefängnistypische Subkultur spürbar zu begrenzen und zugleich vermeiden hilft, einzelne Gefangene zu übersichern.


Literaturhinweis/ weblinks

[1] 17.10., 14.30 h [2]