Desistance-Forschung: Unterschied zwischen den Versionen

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== Definition ==
== Definition ==
Die üblichen Studien und Forschungen in der Kriminologie beschäftigen sich mit dem Entstehungsprozess und den Ursachen von kriminellem Handeln. Die Desistance Forschung hingegen sucht nach Erklärungen, warum Menschen von der Begehung von Straftaten Abstand nehmen und warum kriminelle Karrieren beendet werden.
Die üblichen Studien und Forschungen in der Kriminologie beschäftigen sich mit dem Entstehungsprozess und den Ursachen von kriminellem Handeln. Die Desistance Forschung hingegen sucht nach Erklärungen, warum Menschen von der Begehung von Straftaten Abstand nehmen und warum kriminelle Karrieren beendet werden.
Die bisherige Forschung kann in 3 Modell zusammengefasst werden:  
Die bisherige Forschung kann in 3 Modelle zusammengefasst werden:  
# Strong social modell  
# Strong social modell  
# Strong subjectiv modell  
# Strong subjectiv modell  
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Desistance wird nicht als Zustand, sondern als ein Prozess, der es ermöglicht aufzuhören, angesehen. Neben dem „Aufhören“ ist auch der Prozess des Aufrechterhaltens der nicht Rückfälligkeit relevant (vgl. Hofinger 2012, S.1). Da es sich um einen langfristigen Prozess handelt, verläuft dieser nicht geradlinig, sondern kann auch mit Rückfällen und Rückschritten verbunden sein (vgl. Matt 2014, S.94).
Desistance wird nicht als Zustand, sondern als ein Prozess, der es ermöglicht aufzuhören, angesehen. Neben dem „Aufhören“ ist auch der Prozess des Aufrechterhaltens der nicht Rückfälligkeit relevant (vgl. Hofinger 2012, S.1). Da es sich um einen langfristigen Prozess handelt, verläuft dieser nicht geradlinig, sondern kann auch mit Rückfällen und Rückschritten verbunden sein (vgl. Matt 2014, S.94).
Die Desistance-Forschung kann in primäre und sekundäre Desistance unterteilt werden. Bei der primären Desistance geht es um das nicht erneute Auftreten von kriminellem Verhalten nach einer Straffälligkeit. Diese Form der Desistance ist sehr häufig, daher ist sie für die Forschung weniger von Bedeutung als die sekundäre Devianz.  
Die Desistance-Forschung kann in primäre und sekundäre Desistance unterteilt werden. Bei der primären Desistance geht es um das nicht erneute Auftreten von kriminellem Verhalten nach einer einmaligen Straffälligkeit. Diese Form der Desistance ist sehr häufig, daher ist sie für die Forschung weniger von Bedeutung als die sekundäre Desistance.  
Bei der sekundären Desistance geht es um die Betrachtung von mehrfach straffällig gewordenen Menschen und den Abbruch der kriminellen Karrieren durch eine Identitätsveränderung. Ursächlich für die Identitätsveränderung kann die Übernahme von neuen Rollen sein. Diese neue Rolle und die dadurch veränderte Identität können zur Distanzierung von Straftaten und zur dauerhaften Beendigung einer kriminellen Karriere führen.  
Bei der sekundären Desistance geht es um die Betrachtung von mehrfach straffällig gewordenen Menschen und den Abbruch der kriminellen Karrieren durch eine Identitätsveränderung. Ursächlich für die Identitätsveränderung kann die Übernahme von neuen Rollen sein. Diese neuen Rollen und die dadurch veränderte Identität können zur Distanzierung von Straftaten und zur dauerhaften Beendigung einer kriminellen Karriere führen.
 
== Historie ==
== Historie ==
Die Desistance-Forschung stammt ursprünglich aus dem angloamerikanischen Raum. Sheldon und Elenora Glueck gelten als die Pioniere der Desistance Forschung. Das Forscherehepaar befasste sich bereits in den 1930er mit dem Verlauf und dem Ende von kriminellen Karrieren. Den Fokus ihrer Arbeit legten sie auf die Faktoren in der frühen Kindheit sowie auf das familiäre Umfeld. Eine wesentliche Bedeutung für den Abbruch krimineller Karrieren schrieben sie den Reifungsprozessen und dem Alter zu (vgl. Hofinger 2012, S.5).  
Die Desistance-Forschung stammt ursprünglich aus dem angloamerikanischen Raum. Sheldon und Elenora Glueck gelten als die Pioniere der Desistance Forschung. Das Forscherehepaar befasste sich bereits in den 1930er mit dem Verlauf und dem Ende von kriminellen Karrieren. Den Fokus ihrer Arbeit legten sie auf die Faktoren in der frühen Kindheit sowie auf das familiäre Umfeld. Eine wesentliche Bedeutung für den Abbruch krimineller Karrieren schrieben sie den Reifungsprozessen und dem Alter zu (vgl. Hofinger 2012, S.5).  
In den 1970er und 1980er tauchte der Begriff „Desistance“ vermehrt auf, da sich auch das Forschungsinteresse am „Ausstieg“ verfestigte. Neben dem Ehepaar Glueck ist Neil Shover als Forscher zu nennen. Auch er gab dem Älterwerden und dem Alter allgemein eine Bedeutung für Kriminalität und im Prozess des Ausstiegs. Neil Shover orientierte sich hierbei an der Rational-Choice-Theorie, wonach Personen im Alter mehr zu verlieren haben bei der Begehung von Straftaten. Daher verändere sich die Kosten-Nutzen-Rechnung ins Negative, Straftaten werden daher unattraktiver. Shover nannte folgende 4 Umorientierungen:
In den 1970er und 1980er tauchte der Begriff „Desistance“ vermehrt auf, da sich auch das Forschungsinteresse am „Ausstieg“ verfestigte. Neben dem Ehepaar Glueck ist Neil Shover als Forscher zu nennen. Auch er gab dem Älterwerden und dem Alter allgemein eine Bedeutung für Kriminalität und im Prozess des Ausstiegs. Neil Shover orientierte sich hierbei an der Rational-Choice-Theorie, wonach Personen im Alter bei der Begehung von Straftaten mehr zu verlieren haben. Es verändere sich die Kosten-Nutzen-Rechnung ins Negative, Straftaten werden daher unattraktiver. Shover nannte folgende 4 Umorientierungen:
# Neue Einstellungen gegenüber sich selbst und der Vergangenheit
# Neue Einstellungen gegenüber sich selbst und der Vergangenheit
# Das Bewusstsein über die begrenzte, sich erschöpfende Ressource Zeit
# Das Bewusstsein über die begrenzte, sich erschöpfende Ressource Zeit
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(vgl. Stelly/Thomas 2005, S.257)
(vgl. Stelly/Thomas 2005, S.257)
== Empirie ==
== Empirie ==
=== Laub und Sampson „altersabhängige Theorie informeller sozialer Kontrolle“, „Age Graded Theory/ Turning Points“ ===
=== Laub und Sampson „altersabhängige Theorie informeller sozialer Kontrolle“, „Age Graded Theory/ Turning Points“ ===
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'''Forschungsergebnis:'''
'''Forschungsergebnis:'''
Die Ehe begünstige den Abbruch, da der Betroffene in eine Beziehung investiert und eine soziale Bindung aufbaut. Durch Alltags- und Routinehandlungen in der Ehe wird der Freundeskreis reduziert und der Kontakt zu delinquenten Freunden verringert. Zudem wirkt die Ehe in Form von sozialer Kontrolle auf den Ehemann und die Übernahme von Verantwortung, insbesondere, wenn die Vaterrolle hinzukommt, führt zu einem veränderten Selbstbild. Der stabile Arbeitsplatz wirkt sich positiv auf den Ausstieg aus, da auch hier die informelle soziale Kontrolle erhöht wird, eine Beziehung zur Arbeit und zum Arbeitgeber aufgebaut und eine Veränderung in der Routine stattfindet, die ebenfalls sinnstiftend und identitätsbildend wirken kann. (Vgl. Stelly/Thomas 2005, S.94f)
Die Ehe begünstige den Abbruch, da der Betroffene in eine Beziehung investiert und eine soziale Bindung aufbaut. Durch Alltags- und Routinehandlungen in der Ehe wird der Freundeskreis reduziert und der Kontakt zu delinquenten Freunden verringert. Zudem wirkt die Ehe in Form von sozialer Kontrolle auf den Ehemann und die Übernahme von Verantwortung, insbesondere, wenn die Vaterrolle hinzukommt, führt zu einem veränderten Selbstbild. Der stabile Arbeitsplatz wirkt sich positiv auf den Ausstieg aus, da auch hier die informelle soziale Kontrolle erhöht, eine Beziehung zur Arbeit und zum Arbeitgeber aufgebaut wird und eine Veränderung in der Routine stattfindet, die ebenfalls sinnstiftend und identitätsbildend wirken kann. (Vgl. Stelly/Thomas 2005, S.94f)


Außer der Ehe und der Arbeit benannten Laub und Sampson noch den Militärdienst sowie die Übernahme von (finanzieller) Verantwortung für Geschwister oder Eltern in Not als weitere „Turning-Points“. Der Militärdienst wird hier als Chance bewertet Abstand zu den sozial benachteiligten Vierteln zu gewinnen und wirke sich dadurch ebenfalls auf die Abstandsnahme von möglichen schlechten sozialen Kontakten aus.  
Außer der Ehe und der Arbeit benannten Laub und Sampson noch den Militärdienst sowie die Übernahme von (finanzieller) Verantwortung für Geschwister oder Eltern in Not als weitere „Turning-Points“. Der Militärdienst wird hier als Chance bewertet Abstand zu den sozial benachteiligten Wohngegenden zu gewinnen und wirke sich dadurch ebenfalls auf die Abstandsnahme von möglichen schlechten sozialen Kontakten aus.  
Für Laub und Sampson stand somit fest, dass die „Turning Points“ auch unabhängig einer inneren Veränderung wirken können. Darüber hinaus belegten sie, dass Delinquenz nicht permanent im Lebenslauf besteht. Das beenden einer kriminellen Karriere ist daher keine Ausnahme, sondern die Regel. (Vgl. Neubauer 2011, S.69)
Für Laub und Sampson stand somit fest, dass die „Turning Points“ auch unabhängig einer inneren Veränderung wirken können. Darüber hinaus belegten sie, dass Delinquenz nicht permanent im Lebenslauf besteht. Das Beenden einer kriminellen Karriere ist daher keine Ausnahme, sondern die Regel. (Vgl. Neubauer 2011, S.69)


Die Theorie von Laub und Sampson wurde von zahlreichen Forschungen bestätigt, unter anderem wurde sie in Deutschland von den Kriminologen Wolfgang Stelly und Jürgen Thomas in den Jahren 2004/2005 getestet. Dazu wurden die Daten der Tübinger Jungtäter Vergleichsuntersuchung (TJVU) herangezogen. Diese wurde von Stelly und Thomas bis zum 46. Lebensjahr ergänzt. Neben der Bestätigung von Laub und Sampson wurde betont, dass die aktuelle Integration des Betroffenen für die Legalbewährung eine bedeutende Rolle spielt (vgl. Stelly/Thomas 2005, S.261, 262).  
Die Theorie von Laub und Sampson wurde von zahlreichen Forschungen bestätigt, unter anderem wurde sie in Deutschland von den Kriminologen Wolfgang Stelly und Jürgen Thomas in den Jahren 2004/2005 getestet. Dazu wurden die Daten der Tübinger Jungtäter Vergleichsuntersuchung (TJVU) herangezogen. Diese wurde von Stelly und Thomas bis zum 46. Lebensjahr ergänzt. Neben der Bestätigung von Laub und Sampson wurde betont, dass die aktuelle Integration des Betroffenen für die Legalbewährung eine bedeutende Rolle spielt (vgl. Stelly/Thomas 2005, S.261, 262).  
=== Maruna „Making good“ ===
=== Maruna „Making good“ ===
Shadd Maruna ist ein nordischer Desistance-Forscher der neben dem Prozess der Verinnerlichung auch die Prozesshaftigkeit des Ausstiegs erforschte. Er führte 65 qualitative Interviews mit 30 „Desistern“ (Aussteiger, die seit einem Jahr keine Straftaten begangen haben) und 20 „Persistern“ (Rückfällige). Obwohl beide Gruppen hinsichtlich des sozialen Hintergrunds sich sehr ähnelten, konnten bei der Inhaltsanalyse große Unterschiede in Wahrnehmungen und Deutungen ihrer Vergangenheit festgestellt werden. Besonders in den Bereichen eigene Lebensgeschichte, Vergangenheit sowie Gegenwarts- und Zukunftsschilderungen wurden große Unterschiede deutlich.
Shadd Maruna ist ein nordischer Desistance-Forscher der neben dem Prozess der Verinnerlichung auch die Prozesshaftigkeit des Ausstiegs erforschte. Er führte 65 qualitative Interviews mit 30 „Desistern“ (Aussteiger, die seit einem Jahr keine Straftaten begangen haben) und 20 „Persistern“ (Rückfällige). Obwohl beide Gruppen hinsichtlich des sozialen Hintergrunds sich sehr ähnelten, konnten bei der Inhaltsanalyse große Unterschiede in Wahrnehmungen und Deutungen ihrer Vergangenheit festgestellt werden. Besonders in den Bereichen eigene Lebensgeschichte, Vergangenheit sowie Gegenwarts- und Zukunftsschilderungen wurden große Unterschiede deutlich.
Die „Desister“ berichteten von ihren positiven Eigenschaften und von ihrem „wahren Selbst“ und sahen in ihrer Vergangenheit einen tieferen Sinn. Das Gefühl danach, dass man durch gemeinnütziges Engagement ("Making good") etwas wieder gut machen müsse erwies sich bei den „Desistern“ als zentrales Thema. Außerdem wirkten sie aktiver in der eigenen Gestaltung ihrer Zukunft. Die „Persister“ hingegen sahen sich als Opfer ihrer Kindheit sowie ihres sozialen Umfelds und glaubten an zukünftige Veränderung nur durch externe, nicht eigenständig beeinflussbare Glücksfälle wie z.B. Lottogewinne (vgl. Hofinger 2012, S.12f).  
Die „Desister“ berichteten von ihren positiven Eigenschaften und von ihrem „wahren Selbst“ und sahen in ihrer Vergangenheit einen tieferen Sinn. Das Gefühl, dass man durch gemeinnütziges Engagement ("Making good") etwas wieder gut machen müsse erwies sich bei den „Desistern“ als zentrales Thema. Außerdem wirkten sie aktiver in der eigenen Gestaltung ihrer Zukunft. Die „Persister“ hingegen sahen sich als Opfer ihrer Kindheit sowie ihres sozialen Umfelds und glaubten an zukünftige Veränderung nur durch externe, nicht eigenständig beeinflussbare Glücksfälle wie z.B. Lottogewinne (vgl. Hofinger 2012, S.12f).  
Maruna geht daher davon aus, dass der dauerhafte Ausstieg nicht nur durch das bloße Auftreten von „Turning Points“ ermöglicht wird, sondern durch die Veränderung des Selbstbildes der „Desister“. Neben des veränderten subjektiven Selbstbildes sieht Maruna die Desistance als andauernde Aufgabe für das weitere Leben der „Desister“, die es aufrecht zu erhalten gilt (vgl. Matt 2014, S.96f).
Maruna geht daher davon aus, dass der dauerhafte Ausstieg nicht nur durch das bloße Auftreten von „Turning Points“ ermöglicht wird, sondern durch die Veränderung des Selbstbildes der „Desister“. Neben des veränderten subjektiven Selbstbildes sieht Maruna die Desistance als andauernde Aufgabe für das weitere Leben der „Desister“, die es aufrecht zu erhalten gilt (vgl. Matt 2014, S.96f).


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*Setzung eines Ziels  
*Setzung eines Ziels  
*Übernahme von Selbstverantwortung
*Übernahme von Selbstverantwortung
*Einsicht in entstandenen Schaden der Straftaten
*Einsicht in entstandenen Schaden durch Straftaten
*Zeiten der Kriminalität werden nicht als verschwendete Zeit angesehen
*Zeiten der Kriminalität werden nicht als verschwendete Zeit angesehen


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'''Forschungsergebnis:'''
'''Forschungsergebnis:'''
Unterstützungsleistungen von Seiten der Bewährungshilfe in den Bereichen Arbeit und Familienbeziehungen können einen wesentlichen Beitrag auf die Desistance nehmen. Besonders der engere Familienkreis spielt nach Farrall eine entscheidende Rolle als Schutzfaktor. Diese wirkt unterstützend in Hinsicht auf Arbeitsplatz- oder Unterkunftssuche und wirkt durch konkrete und moralische Unterstützung als Schutz vor Rückfälligkeit (vgl. Vogelvang 2013, S.182f).
Unterstützungsleistungen von Seiten der Bewährungshilfe in den Bereichen Arbeit und Familienbeziehungen können einen wesentlichen Beitrag auf die Desistance nehmen. Besonders der engere Familienkreis spielt nach Farrall eine entscheidende Rolle als Schutzfaktor. Diese wirkt unterstützend in Hinsicht auf Arbeitsplatz- oder Unterkunftssuche und wirkt durch konkrete und moralische Unterstützung als Schutz vor Rückfälligkeit (vgl. Vogelvang 2013, S.182f).
==Literatur ==
==Literatur ==
*Hofiger, Veronika (2012): Desistance from Crime – eine Literaturstudie.   
*Hofiger, Veronika (2012): Desistance from Crime – eine Literaturstudie.   
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