Desistance-Forschung

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Begriff

Unter dem Begriff „Desistance Forschung“ (to desist – Abstand nehmen von etwas) versteht man einen Zweig der Kriminologie, der sich mit dem dauerhaften Abbruch von kriminellem Handeln und dem Ausstieg aus kriminellen Karrieren befasst. Insbesondere wird der Fokus auf die positive Einflussnahme von subjektiven sozialen Faktoren auf den Prozess der Desistance gelegt, wie zum Beispiel die Ehe, stabile Einbindung auf dem Arbeitsmarkt sowie auf den Militärdienst, sogenannte „Turning-Points“. (Vgl. Hofinger 2012, S.1,33)

Die Desistance-Forschung ergänzt daher die bereits bestehenden Rückfall- und Karriereforschungen sowie die „What works“ Evaluationsforschung. (Vgl. Hofinger 2012, S.33)

Definition

Die üblichen Studien und Forschungen in der Kriminologie beschäftigen sich mit dem Entstehungsprozess und den Ursachen von kriminellem Handeln. Die Desistance Forschung hingegen sucht nach Erklärungen, warum Menschen von der Begehung von Straftaten Abstand nehmen und warum kriminelle Karrieren beendet werden. Die bisherige Forschung kann in 3 Modelle zusammengefasst werden:

  1. Strong social modell
  2. Strong subjectiv modell
  3. Subjectiv social modell

(Vgl. LeBel et al. 2008, S.138f)

Desistance wird nicht als Zustand, sondern als ein Prozess, der es ermöglicht aufzuhören, angesehen. Neben dem „Aufhören“ ist auch der Prozess des Aufrechterhaltens der nicht Rückfälligkeit relevant (vgl. Hofinger 2012, S.1). Da es sich um einen langfristigen Prozess handelt, verläuft dieser nicht geradlinig, sondern kann auch mit Rückfällen und Rückschritten verbunden sein (vgl. Matt 2014, S.94). Die Desistance-Forschung kann in primäre und sekundäre Desistance unterteilt werden. Bei der primären Desistance geht es um das nicht erneute Auftreten von kriminellem Verhalten nach einer einmaligen Straffälligkeit. Diese Form der Desistance ist sehr häufig, daher ist sie für die Forschung weniger von Bedeutung als die sekundäre Desistance. Bei der sekundären Desistance geht es um die Betrachtung von mehrfach straffällig gewordenen Menschen und den Abbruch der kriminellen Karrieren durch eine Identitätsveränderung. Ursächlich für die Identitätsveränderung kann die Übernahme von neuen Rollen sein. Diese neuen Rollen und die dadurch veränderte Identität können zur Distanzierung von Straftaten und zur dauerhaften Beendigung einer kriminellen Karriere führen.

Historie

Die Desistance-Forschung stammt ursprünglich aus dem angloamerikanischen Raum. Sheldon und Elenora Glueck gelten als die Pioniere der Desistance Forschung. Das Forscherehepaar befasste sich bereits in den 1930er mit dem Verlauf und dem Ende von kriminellen Karrieren. Den Fokus ihrer Arbeit legten sie auf die Faktoren in der frühen Kindheit sowie auf das familiäre Umfeld. Eine wesentliche Bedeutung für den Abbruch krimineller Karrieren schrieben sie den Reifungsprozessen und dem Alter zu (vgl. Hofinger 2012, S.5). In den 1970er und 1980er tauchte der Begriff „Desistance“ vermehrt auf, da sich auch das Forschungsinteresse am „Ausstieg“ verfestigte. Neben dem Ehepaar Glueck ist Neil Shover als Forscher zu nennen. Auch er gab dem Älterwerden und dem Alter allgemein eine Bedeutung für Kriminalität und im Prozess des Ausstiegs. Neil Shover orientierte sich hierbei an der Rational-Choice-Theorie, wonach Personen im Alter bei der Begehung von Straftaten mehr zu verlieren haben. Es verändere sich die Kosten-Nutzen-Rechnung ins Negative, Straftaten werden daher unattraktiver. Shover nannte folgende 4 Umorientierungen:

  1. Neue Einstellungen gegenüber sich selbst und der Vergangenheit
  2. Das Bewusstsein über die begrenzte, sich erschöpfende Ressource Zeit
  3. Weniger materielle Wünsche und Ziele
  4. Ein Gefühl des Überdrusses durch die Probleme, die durch den ständigen Kontakt mit dem Strafrechtssystem entstehen

(vgl. Stelly/Thomas 2005, S.257)

Empirie

Laub und Sampson „altersabhängige Theorie informeller sozialer Kontrolle“, „Age Graded Theory/ Turning Points“

Die Theorie von John Laub und Robert Sampson zählt als eine der am besten getesteten Theorie zu diesem Thema. Laub und Sampson gehen davon aus, dass bestimmte Ereignisse, die sie „Turning-Points“ nennen, für das Gelingen von straf- und verurteilungsfreiem Leben entscheidend sind. Besonders der sozialen Bindungen und der informellen sozialen Kontrolle wird Einfluss auf diesen Prozess zugeschrieben. Laub und Sampson lieferten 1993 die „längste longitudinalstudie der Welt“. Sie führten eine Reanalyse der Studie „Unreveling Juvenile Delinquency“ des Ehepaars Glueck von 1951 durch. Sie untersuchten die Lebensläufe von 500 ehemals inhaftierten männlichen Personen mittels Interviews. Dadurch lagen qualitative Daten bis zum Alter von 70 Jahren vor. Das Ergebnis dieser Forschung zeigt deutlich, dass eine Einbindung in den Arbeitsmarkt und eine stabile Ehe den dauerhaften Abbruch krimineller Karrieren bewirken kann oder zumindest begünstigt. (Vgl. Stelly/Thomas 2005, S.100)

Forschungsergebnis: Die Ehe begünstige den Abbruch, da der Betroffene in eine Beziehung investiert und eine soziale Bindung aufbaut. Durch Alltags- und Routinehandlungen in der Ehe wird der Freundeskreis reduziert und der Kontakt zu delinquenten Freunden verringert. Zudem wirkt die Ehe in Form von sozialer Kontrolle auf den Ehemann und die Übernahme von Verantwortung, insbesondere, wenn die Vaterrolle hinzukommt, führt zu einem veränderten Selbstbild. Der stabile Arbeitsplatz wirkt sich positiv auf den Ausstieg aus, da auch hier die informelle soziale Kontrolle erhöht, eine Beziehung zur Arbeit und zum Arbeitgeber aufgebaut wird und eine Veränderung in der Routine stattfindet, die ebenfalls sinnstiftend und identitätsbildend wirken kann. (Vgl. Stelly/Thomas 2005, S.94f)

Außer der Ehe und der Arbeit benannten Laub und Sampson noch den Militärdienst sowie die Übernahme von (finanzieller) Verantwortung für Geschwister oder Eltern in Not als weitere „Turning-Points“. Der Militärdienst wird hier als Chance bewertet Abstand zu den sozial benachteiligten Wohngegenden zu gewinnen und wirke sich dadurch ebenfalls auf die Abstandsnahme von möglichen schlechten sozialen Kontakten aus. Für Laub und Sampson stand somit fest, dass die „Turning Points“ auch unabhängig einer inneren Veränderung wirken können. Darüber hinaus belegten sie, dass Delinquenz nicht permanent im Lebenslauf besteht. Das Beenden einer kriminellen Karriere ist daher keine Ausnahme, sondern die Regel. (Vgl. Neubauer 2011, S.69)

Die Theorie von Laub und Sampson wurde von zahlreichen Forschungen bestätigt, unter anderem wurde sie in Deutschland von den Kriminologen Wolfgang Stelly und Jürgen Thomas in den Jahren 2004/2005 getestet. Dazu wurden die Daten der Tübinger Jungtäter Vergleichsuntersuchung (TJVU) herangezogen. Diese wurde von Stelly und Thomas bis zum 46. Lebensjahr ergänzt. Neben der Bestätigung von Laub und Sampson wurde betont, dass die aktuelle Integration des Betroffenen für die Legalbewährung eine bedeutende Rolle spielt (vgl. Stelly/Thomas 2005, S.261, 262).

Maruna „Making good“

Shadd Maruna ist ein nordischer Desistance-Forscher der neben dem Prozess der Verinnerlichung auch die Prozesshaftigkeit des Ausstiegs erforschte. Er führte 65 qualitative Interviews mit 30 „Desistern“ (Aussteiger, die seit einem Jahr keine Straftaten begangen haben) und 20 „Persistern“ (Rückfällige). Obwohl beide Gruppen hinsichtlich des sozialen Hintergrunds sich sehr ähnelten, konnten bei der Inhaltsanalyse große Unterschiede in Wahrnehmungen und Deutungen ihrer Vergangenheit festgestellt werden. Besonders in den Bereichen eigene Lebensgeschichte, Vergangenheit sowie Gegenwarts- und Zukunftsschilderungen wurden große Unterschiede deutlich. Die „Desister“ berichteten von ihren positiven Eigenschaften und von ihrem „wahren Selbst“ und sahen in ihrer Vergangenheit einen tieferen Sinn. Das Gefühl, dass man durch gemeinnütziges Engagement ("Making good") etwas wieder gut machen müsse erwies sich bei den „Desistern“ als zentrales Thema. Außerdem wirkten sie aktiver in der eigenen Gestaltung ihrer Zukunft. Die „Persister“ hingegen sahen sich als Opfer ihrer Kindheit sowie ihres sozialen Umfelds und glaubten an zukünftige Veränderung nur durch externe, nicht eigenständig beeinflussbare Glücksfälle wie z.B. Lottogewinne (vgl. Hofinger 2012, S.12f). Maruna geht daher davon aus, dass der dauerhafte Ausstieg nicht nur durch das bloße Auftreten von „Turning Points“ ermöglicht wird, sondern durch die Veränderung des Selbstbildes der „Desister“. Neben des veränderten subjektiven Selbstbildes sieht Maruna die Desistance als andauernde Aufgabe für das weitere Leben der „Desister“, die es aufrecht zu erhalten gilt (vgl. Matt 2014, S.96f).

Forschungsergebnis: Die Studie von Maruna zeigt auf, dass der positive Ausstieg aus der Kriminalität neben dem veränderten Selbstbild auch eine Reorganisation der Lebenssituation darstellt. Neben der Reorganisation der eigenen Lebenssituation findet eine neue Einordnung in die Gesellschaft statt. Folgende Voraussetzungen werden für einen positiven Ausstieg genannt:

  • Eigene Motivation
  • Setzung eines Ziels
  • Übernahme von Selbstverantwortung
  • Einsicht in entstandenen Schaden durch Straftaten
  • Zeiten der Kriminalität werden nicht als verschwendete Zeit angesehen

(Vgl. Matt 2014, S.98f)

Theorie kognitiver Transformation

Die Theorie der kognitiven Transformation stammt von Giordano, Cernovich und Rudolph. Diese Forscher nehmen eine entgegengesetzte Position zu Laub und Sampson ein. Sie ähnelt den Ergebnissen von Maruna. Ihre Erkenntnisse stützen sie auf die empirische Basis von ca. 245 Befragungen von inhaftierten Männern und Frauen. Nach 13 Jahren wurden 85% davon erneut interviewt.

Forschungsergebnis: Das Ergebnis dieser Untersuchung zeigte, dass der geistige Veränderungsprozess die entscheidende Rolle für den Ausstieg aus kriminellen Karrieren spielt (vgl. Hofinger 2012, S.321f).

Giordano et al. stellten ein Verlaufsmodell der Desistance auf. Demnach gibt es folgende 4 Stufen im Prozess der Desistance:

  1. Stufe: Für mögliche Veränderungen offen sein und selbst einen Neuanfang wollen.
  2. Stufe: Es müssen Ankerpunkte/Aufhänger gefunden werden („hooks for change“).
  3. Stufe: Vorstellung einer neuen, konventionellen, rechtskonformen Rolle und Identität („replacement self“).
  4. Stufe: Einnahme von einer veränderten Sichtweise auf eigenes abweichendes Verhalten.

(Vgl. Hofinger 2012, S.18f u. Matt 2014, S.106)

Besondere Relevanz für den Ausstieg wird der Stufe 2 zugemessen. Hier wird der Anstoß für Veränderung gegeben, die sehr vielfältig sein kann, bspw. Gefängnis, Familie/Kinder, Behandlungsprogramme, Religion (vgl. Matt 2014, S.106). Demnach sind Interventionsprogramme zwar nicht ursächlich für die Beendung krimineller Karrieren, können aber in Stufe 2 ein „hook for chance“ darstellen.

Farrall: Handlungsfähigkeit, Struktur und soziales Kapital

Der britische Kriminologe Stephen Farrall betrachtet bei der Desistance-Forschung verstärkt den Aspekt der Sozialstruktur und die Handlungsfähigkeit des Individuums. Farrall führt das „soziale Kapital“ als Spannungsverhältnis zwischen den strukturellen Umständen und der Motivation des Individuums an. Ehe und Arbeit erhöhen dieses „soziale Kapital“. Als empirische Basis führt er die Befragung von 199 Frauen und Männern im Alter von 17 bis 35 Jahren an sowie eine Datenanalyse einer landesweiten Polizeidatei. Die Befragten waren zum Zeitpunkt der Erhebung der britischen Bewährungshilfe anhängig.

Forschungsergebnis: Unterstützungsleistungen von Seiten der Bewährungshilfe in den Bereichen Arbeit und Familienbeziehungen können einen wesentlichen Beitrag auf die Desistance nehmen. Besonders der engere Familienkreis spielt nach Farrall eine entscheidende Rolle als Schutzfaktor. Diese wirkt unterstützend in Hinsicht auf Arbeitsplatz- oder Unterkunftssuche und wirkt durch konkrete und moralische Unterstützung als Schutz vor Rückfälligkeit (vgl. Vogelvang 2013, S.182f).

Literatur

  • Hofiger, Veronika (2012): Desistance from Crime – eine Literaturstudie.
  • LeBel,Thomas P.; Burnett, Ros; Maruna, Shadd; Bushway, Shawn (2008): The ‚Chicken and Egg‘ of Subjective and Social Factors in Desistance from Crime. European Journal of Criminolgy. 5 (2), 131-159.
  • Matt, Eduard (2014): Übergangsmanagement und der Ausstieg aus Straffälligkeit. Wiedereingliederung als gemeinschaftliche Aufgabe. Centaurus Verlag & Media UG, Herbolzheim
  • Neubauer, Frank (2011): Kriminologie. Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden.
  • Stelly, Wolfgang/Thomas, Jürgen (2005): Kriminalität im Lebenslauf. Eine Reanalyse der Tübinger-Jungtäter-Vergleichsuntersuchung (TJVU). (Band 10). Institut für Kriminologie der Universität Tübingen, Tübingen.
  • Vogelvang, Bas (2013): Einbeziehung der Familie: Förderung der Desistance from crime in der Bewährungshilfe mit den Familienbeziehungen als Ansatzpunkt. In: DBH-Fachverband für soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik (Hrsg.): Bewährungshilfe Heft 2. Jg. 60 Forum Verlag Godesberg, Mönchengladbach, S. 181-194.