Desistance-Forschung: Unterschied zwischen den Versionen

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== Begriff ==
== Begriff ==
Unter dem Begriff „Desistance Forschung“ (to desist – Abstand nehmen von etwas) versteht man einen Zweig der Kriminologie, der sich mit dem dauerhaften Abbruch von kriminellem Handeln und dem Ausstieg aus kriminellen Karrieren befasst. Insbesondere wird der Fokus auf die positive Einflussnahme von subjektiven sozialen Faktoren auf den Prozess der Desistance gelegt, wie zum Beispiel die Ehe, stabile Einbindung auf dem Arbeitsmarkt sowie auf den Militärdienst, sogenannte „Turning-Points“. (Vgl. Hofinger 2012, S.1,33)  
Unter dem Begriff „Desistance Forschung“ (to desist – Abstand nehmen von etwas) versteht man einen Zweig der Kriminologie, der sich mit dem dauerhaften Abbruch von kriminellem Handeln und dem Ausstieg aus kriminellen Karrieren befasst. Insbesondere wird der Fokus auf die positive Einflussnahme von subjektiven sozialen Faktoren auf den Prozess der Desistance gelegt, wie zum Beispiel die Ehe, stabile Einbindung auf dem Arbeitsmarkt sowie auf den Militärdienst, sogenannte „Turning-Points“. (Vgl. Hofinger 2012, S.1,33)  
Die Desistance-Forschung ergänzt daher die bereits bestehenden Rückfall- und Karriereforschungen sowie die „What works“ Evaluationsforschung. (Vgl. Hofinger 2012, S.33)
Die Desistance-Forschung ergänzt daher die bereits bestehenden Rückfall- und Karriereforschungen sowie die „What works“ Evaluationsforschung. (Vgl. Hofinger 2012, S.33)
== Definition ==
== Definition ==
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# Subjectiv social modell  
# Subjectiv social modell  
(Vgl. LeBel et al. 2008, S.138f)
(Vgl. LeBel et al. 2008, S.138f)
Desistance wird nicht als Zustand, sondern als ein Prozess, der es ermöglicht aufzuhören, angesehen. Neben dem „Aufhören“ ist auch der Prozess des Aufrechterhaltens der nicht Rückfälligkeit relevant (vgl. Hofinger 2012, S.1). Da es sich um einen langfristigen Prozess handelt, verläuft dieser nicht geradlinig, sondern kann auch mit Rückfällen und Rückschritten verbunden sein (vgl. Matt 2014, S.94).
Desistance wird nicht als Zustand, sondern als ein Prozess, der es ermöglicht aufzuhören, angesehen. Neben dem „Aufhören“ ist auch der Prozess des Aufrechterhaltens der nicht Rückfälligkeit relevant (vgl. Hofinger 2012, S.1). Da es sich um einen langfristigen Prozess handelt, verläuft dieser nicht geradlinig, sondern kann auch mit Rückfällen und Rückschritten verbunden sein (vgl. Matt 2014, S.94).
Die Desistance-Forschung kann in primäre und sekundäre Desistance unterteilt werden. Bei der primären Desistance geht es um das nicht erneute Auftreten von kriminellem Verhalten nach einer Straffälligkeit. Diese Form der Desistance ist sehr häufig, daher ist sie für die Forschung weniger von Bedeutung als die sekundäre Devianz.  
Die Desistance-Forschung kann in primäre und sekundäre Desistance unterteilt werden. Bei der primären Desistance geht es um das nicht erneute Auftreten von kriminellem Verhalten nach einer Straffälligkeit. Diese Form der Desistance ist sehr häufig, daher ist sie für die Forschung weniger von Bedeutung als die sekundäre Devianz.  
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# Das Bewusstsein über die begrenzte, sich erschöpfende Ressource Zeit
# Das Bewusstsein über die begrenzte, sich erschöpfende Ressource Zeit
# Weniger materielle Wünsche und Ziele
# Weniger materielle Wünsche und Ziele
# Ein Gefühl des Überdrusses durch die Probleme, die durch ständigen Kontakt mit dem Strafrechtssystem entstehen
# Ein Gefühl des Überdrusses durch die Probleme, die durch den ständigen Kontakt mit dem Strafrechtssystem entstehen
 
(vgl. Stelly/Thomas 2005, S.257)
(vgl. Stelly/Thomas 2005, S.257)
== Empirie ==
== Empirie ==
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'''Forschungsergebnis:'''
'''Forschungsergebnis:'''
Die Ehe begünstige den Abbruch, da der Betroffene in eine Beziehung investiert und eine soziale Bindung aufbaut. Durch Alltags- und Routinehandlungen in der Ehe wird der Freundeskreis reduziert und der Kontakt zu delinquenten Freunden verringert. Zudem wirkt die Ehe in Form von sozialer Kontrolle auf den Ehemann und die Übernahme von Verantwortung, insbesondere, wenn die Vaterrolle hinzukommt, führt zu einem veränderten Selbstbild. Der stabile Arbeitsplatz wirkt sich positiv auf den Ausstieg aus, da auch hier die informelle soziale Kontrolle erhöht wird, eine Beziehung zur Arbeit und zum Arbeitgeber aufgebaut und eine Veränderung in der Routine stattfindet, die ebenfalls sinnstiftend und identitätsbildend wirken kann. (Vgl. Stelly/Thomas 2005, S.94f)
Die Ehe begünstige den Abbruch, da der Betroffene in eine Beziehung investiert und eine soziale Bindung aufbaut. Durch Alltags- und Routinehandlungen in der Ehe wird der Freundeskreis reduziert und der Kontakt zu delinquenten Freunden verringert. Zudem wirkt die Ehe in Form von sozialer Kontrolle auf den Ehemann und die Übernahme von Verantwortung, insbesondere, wenn die Vaterrolle hinzukommt, führt zu einem veränderten Selbstbild. Der stabile Arbeitsplatz wirkt sich positiv auf den Ausstieg aus, da auch hier die informelle soziale Kontrolle erhöht wird, eine Beziehung zur Arbeit und zum Arbeitgeber aufgebaut und eine Veränderung in der Routine stattfindet, die ebenfalls sinnstiftend und identitätsbildend wirken kann. (Vgl. Stelly/Thomas 2005, S.94f)
Außer der Ehe und der Arbeit benannten Laub und Sampson noch den Militärdienst sowie die Übernahme von (finanzieller) Verantwortung für Geschwister oder Eltern in Not als weitere „Turning-Points“. Der Militärdienst wird hier als Chance bewertet Abstand zu den sozial benachteiligten Vierteln zu gewinnen und wirke sich dadurch ebenfalls auf die Abstandsnahme von möglichen schlechten sozialen Kontakten aus.  
Außer der Ehe und der Arbeit benannten Laub und Sampson noch den Militärdienst sowie die Übernahme von (finanzieller) Verantwortung für Geschwister oder Eltern in Not als weitere „Turning-Points“. Der Militärdienst wird hier als Chance bewertet Abstand zu den sozial benachteiligten Vierteln zu gewinnen und wirke sich dadurch ebenfalls auf die Abstandsnahme von möglichen schlechten sozialen Kontakten aus.  
Für Laub und Sampson stand somit fest, dass die „Turning Points“ auch unabhängig einer inneren Veränderung wirken können. Darüber hinaus belegten sie, dass Delinquenz nicht permanent im Lebenslauf besteht. Das beenden einer kriminellen Karriere ist daher keine Ausnahme, sondern die Regel. (Vgl. Neubauer 2011, S.69)
Für Laub und Sampson stand somit fest, dass die „Turning Points“ auch unabhängig einer inneren Veränderung wirken können. Darüber hinaus belegten sie, dass Delinquenz nicht permanent im Lebenslauf besteht. Das beenden einer kriminellen Karriere ist daher keine Ausnahme, sondern die Regel. (Vgl. Neubauer 2011, S.69)
Die Theorie von Laub und Sampson wurde von zahlreichen Forschungen bestätigt, unter anderem wurde sie in Deutschland von den Kriminologen Wolfgang Stelly und Jürgen Thomas in den Jahren 2004/2005 getestet. Dazu wurden die Daten der Tübinger Jungtäter Vergleichsuntersuchung (TJVU) herangezogen. Diese wurde von Stelly und Thomas bis zum 46. Lebensjahr ergänzt. Neben der Bestätigung von Laub und Sampson wurde betont, dass die aktuelle Integration des Betroffenen für die Legalbewährung eine bedeutende Rolle spielt (Vgl. Stelly/Thomas 2005, S.261, 262).  
 
Die Theorie von Laub und Sampson wurde von zahlreichen Forschungen bestätigt, unter anderem wurde sie in Deutschland von den Kriminologen Wolfgang Stelly und Jürgen Thomas in den Jahren 2004/2005 getestet. Dazu wurden die Daten der Tübinger Jungtäter Vergleichsuntersuchung (TJVU) herangezogen. Diese wurde von Stelly und Thomas bis zum 46. Lebensjahr ergänzt. Neben der Bestätigung von Laub und Sampson wurde betont, dass die aktuelle Integration des Betroffenen für die Legalbewährung eine bedeutende Rolle spielt (vgl. Stelly/Thomas 2005, S.261, 262).  
=== Maruna „Making good“ ===
=== Maruna „Making good“ ===
Shadd Maruna ist ein nordischer Desistance-Forscher der neben dem Prozess der Verinnerlichung auch die Prozesshaftigkeit des Ausstiegs erforschte. Er führte 65 qualitative Interviews mit 30 „Desistern“ (Aussteiger, die seit einem Jahr keine Straftaten begangen haben) und 20 „Persistern“ (Rückfällige). Obwohl beide Gruppen hinsichtlich des sozialen Hintergrunds sich sehr ähnelten, konnten bei der Inhaltsanalyse große Unterschiede in Wahrnehmungen und Deutungen ihrer Vergangenheit festgestellt werden. Besonders in den Bereichen eigene Lebensgeschichte, Vergangenheit sowie Gegenwarts- und Zukunftsschilderungen wurden große Unterschiede deutlich.
Shadd Maruna ist ein nordischer Desistance-Forscher der neben dem Prozess der Verinnerlichung auch die Prozesshaftigkeit des Ausstiegs erforschte. Er führte 65 qualitative Interviews mit 30 „Desistern“ (Aussteiger, die seit einem Jahr keine Straftaten begangen haben) und 20 „Persistern“ (Rückfällige). Obwohl beide Gruppen hinsichtlich des sozialen Hintergrunds sich sehr ähnelten, konnten bei der Inhaltsanalyse große Unterschiede in Wahrnehmungen und Deutungen ihrer Vergangenheit festgestellt werden. Besonders in den Bereichen eigene Lebensgeschichte, Vergangenheit sowie Gegenwarts- und Zukunftsschilderungen wurden große Unterschiede deutlich.
Die „Desister“ berichteten von ihren positiven Eigenschaften und von ihrem „wahren Selbst“ und sahen in ihrer Vergangenheit einen tieferen Sinn. Das Gefühl danach, dass man durch gemeinnütziges Engagement (Making good) etwas wieder gut machen müsse erwies sich bei den „Desistern“ als zentrales Thema. Außerdem wirkten sie aktiver in der eigenen Gestaltung ihrer Zukunft. Die „Persister“ hingegen sahen sich als Opfer ihrer Kindheit sowie ihres sozialen Umfelds und glaubten an zukünftige Veränderung nur durch externe, nicht eigenständig beeinflussbare Glücksfälle wie z.B. Lottogewinne (vgl. Hofinger 2012, S.12f).  
Die „Desister“ berichteten von ihren positiven Eigenschaften und von ihrem „wahren Selbst“ und sahen in ihrer Vergangenheit einen tieferen Sinn. Das Gefühl danach, dass man durch gemeinnütziges Engagement ("Making good") etwas wieder gut machen müsse erwies sich bei den „Desistern“ als zentrales Thema. Außerdem wirkten sie aktiver in der eigenen Gestaltung ihrer Zukunft. Die „Persister“ hingegen sahen sich als Opfer ihrer Kindheit sowie ihres sozialen Umfelds und glaubten an zukünftige Veränderung nur durch externe, nicht eigenständig beeinflussbare Glücksfälle wie z.B. Lottogewinne (vgl. Hofinger 2012, S.12f).  
Maruna geht daher davon aus, dass der dauerhafte Ausstieg nicht nur durch das bloße Auftreten von „Turning Points“ ermöglicht wird, sondern durch die Veränderung des Selbstbildes der „Desister“. Neben des veränderten subjektiven Selbstbildes sieht Maruna die Desistance als andauernde Aufgabe für das weitere Leben der „Desister“, die es aufrecht zu erhalten gilt (vgl. Matt 2014, S.96f).
Maruna geht daher davon aus, dass der dauerhafte Ausstieg nicht nur durch das bloße Auftreten von „Turning Points“ ermöglicht wird, sondern durch die Veränderung des Selbstbildes der „Desister“. Neben des veränderten subjektiven Selbstbildes sieht Maruna die Desistance als andauernde Aufgabe für das weitere Leben der „Desister“, die es aufrecht zu erhalten gilt (vgl. Matt 2014, S.96f).


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*Einsicht in entstandenen Schaden der Straftaten
*Einsicht in entstandenen Schaden der Straftaten
*Zeiten der Kriminalität werden nicht als verschwendete Zeit angesehen
*Zeiten der Kriminalität werden nicht als verschwendete Zeit angesehen
(Vgl. Matt 2014, S.98f)
(Vgl. Matt 2014, S.98f)
=== Theorie kognitiver Transformation ===
=== Theorie kognitiver Transformation ===
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'''Forschungsergebnis:'''  
'''Forschungsergebnis:'''  
Das Ergebnis dieser Untersuchung zeigte, dass der geistige Veränderungsprozess die entscheidende Rolle für den Ausstieg aus kriminellen Karrieren spielt (vgl. Hofinger 2012, S.321f).
Das Ergebnis dieser Untersuchung zeigte, dass der geistige Veränderungsprozess die entscheidende Rolle für den Ausstieg aus kriminellen Karrieren spielt (vgl. Hofinger 2012, S.321f).
Giordano et al. stellten ein Verlaufsmodell der Desistance auf. Demnach gibt es folgende 4 Stufen im Prozess der Desistance:  
Giordano et al. stellten ein Verlaufsmodell der Desistance auf. Demnach gibt es folgende 4 Stufen im Prozess der Desistance:  
# Stufe: Für mögliche Veränderungen offen sein und selbst einen Neuanfang wollen.  
# Stufe: Für mögliche Veränderungen offen sein und selbst einen Neuanfang wollen.  
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# Stufe: Vorstellung einer neuen, konventionellen, rechtskonformen Rolle und Identität („replacement self“).
# Stufe: Vorstellung einer neuen, konventionellen, rechtskonformen Rolle und Identität („replacement self“).
# Stufe: Einnahme von einer veränderten Sichtweise auf eigenes abweichendes Verhalten.  
# Stufe: Einnahme von einer veränderten Sichtweise auf eigenes abweichendes Verhalten.  
(Vgl. Hofinger 2012, S.18f u. Matt 2014, S.106)
(Vgl. Hofinger 2012, S.18f u. Matt 2014, S.106)
Besondere Relevanz für den Ausstieg wird der Stufe 2 zugemessen. Hier wird der Anstoß für Veränderung gegeben, die sehr vielfältig sein kann, bspw. Gefängnis, Familie/Kinder, Behandlungsprogramme, Religion (vgl. Matt 2014, S.106).
Besondere Relevanz für den Ausstieg wird der Stufe 2 zugemessen. Hier wird der Anstoß für Veränderung gegeben, die sehr vielfältig sein kann, bspw. Gefängnis, Familie/Kinder, Behandlungsprogramme, Religion (vgl. Matt 2014, S.106).
Demnach sind Interventionsprogramme zwar nicht ursächlich für die Beendung krimineller Karrieren, können aber in Stufe 2 ein „hook for chance“ darstellen.  
Demnach sind Interventionsprogramme zwar nicht ursächlich für die Beendung krimineller Karrieren, können aber in Stufe 2 ein „hook for chance“ darstellen.  
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