Der Mord im Zusammenhang des Tötens: Unterschied zwischen den Versionen

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'''Die Kriminologie gilt allgemein als Wissenschaft vom Verbrechen.''' Im Gegensatz zur normativ-deontologischen Strafrechtswissenschaft versteht sie sich als hermeneutisch-empirische und damit als Disziplin, die Erscheinungen des Verbrechens beschreibt, sie ursächlich erklärt, motivational versteht und ansonsten nach effektiven Präventionsmöglichkeiten Ausschau hält.  
'''Die Kriminologie gilt allgemein als Wissenschaft vom Verbrechen.''' Im Gegensatz zur normativ-deontologischen Strafrechtswissenschaft versteht sie sich als hermeneutisch-empirische und damit als Disziplin, die Erscheinungen des Verbrechens beschreibt, sie ursächlich erklärt, motivational versteht und ansonsten nach effektiven Präventionsmöglichkeiten Ausschau hält.  


'''Was aber ist ein Verbrechen?''' Strafrechtler sagen: das ist doch ganz klar. Ein Verbrechen ist eine rechtswidrige Tat, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht ist. Das steht doch schon im Strafgesetzbuch: § 12.
'''Was aber ist ein Verbrechen?''' Strafrechtler sagen: das ist doch ganz klar. Ein Verbrechen ist eine rechtswidrige Tat, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht ist. Das steht doch schon im Strafgesetzbuch: § 12. Das ist natürlich sehr interessant. Aber gilt das auch für Holland und Saudi-Arabien? Nein natürlich nicht. Diese Definition ist zirkulär, sie ist aktuell und sie ist lokal. Sie gilt hier und heute und sie sagt, was der Gesetzgeber sowieso sagt, also sagt sie nichts. Jedenfalls hilft sie nicht weiter, wenn Wissenschaftler fragen, woran sie sich halten sollen, wenn sie eine historische Studie über die Geschichte des Verbrechens oder eine vergleichende Studie über Verbrechen in verschiedenen Kontinenten verfassen sollen. An welchem Begriff des Verbrechens sollten sie sich denn dann orientieren? 


Das ist ja interessant, sagen wir. Gilt das auch für Holland und Saudi-Arabien? Nein, kommt die Antwort, das gilt natürlich nur für Deutschland. Ach, sagen wir, dann ist also in Deutschland dieses ein Verbrechen und in Holland jenes und in Saudi-Arabien wieder etwas anders? Ja, lautet die Antwort. Natürlich.  
Nun ja, geben gibt es so etwas schon ... ist heutzutage aber nicht mehr gut angesehen ... der Begriff des natürlichen Verbrechens von Raffaele Garofalo, spätes 19. Jahrhundert. Na gut:


Viele Wissenschaftler hätten natürlich gerne einen Verbrechensbegriff, der es erlaubte, internationale Vergleiche anzustellen. Und vielleicht sogar historische: also eine Kultur- oder Sozialgeschichte oder eine Rechtsgeschichte des Verbrechens zu schreiben. Gibt es denn keinen allgemeinen Maßstab dafür, was ein Verbrechen ist und was nicht?
'''Ein natürliches Verbrechen liegt immer dann vor, wenn''' - und wir sprechen hier vom ''delitto naturale'' (also, wenn man so will, vom ''malum in se'' im Gegensatz zum ''mere prohibituum'') - '''grundlegende moralische Empfindungen des Mitleids (''pietà'') oder der Redlichkeit (''probità'') verletzt werden und deshalb die Tat allgemein als abscheulich empfunden wird''': ''"Il delitto sociale o naturale è una lesione de quella parte del senso morale, che consiste nei sentimenti altruistici fondamentali (pietà e probità)"'' (Garofalo 1885: 30).


Nun ja, geben gibt es so etwas schon, aber das ist nicht mehr sehr gut angesehen heutzutage. Das ist der Begriff des natürlichen Verbrechen - von Raffaele Garofalo, spätes 19. Jahrhundert.  
'''Die meisten Nicht-Experten werden auf die Frage "Was ist ein Verbrechen" nicht abstrakt, sondern konkret mit einem Beispiel antworten. Sie werden sagen: ein Verbrechen, das ist zum Beispiel ein Mord.
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Ihm zufolge ist wäre es ein ''delitto naturale'' (also, wenn man so will, ein ''malum in se'' im Gegensatz zum ''mere prohibituum''), wenn das Verhalten grundlegende moralische Empfindungen des Mitleids (''pietà'') oder der Redlichkeit (''probità'') verletzte und dementsprechend Abscheu erregte: ''"Il delitto sociale o naturale è una lesione de quella parte del senso morale, che consiste nei sentimenti altruistici fondamentali (pietà e probità)"'' (Garofalo 1885: 30).
:Natürlich steht das in keinem Verhältnis zur Kriminalstatistik. Dort spielen ganz andere Delikte die Hauptrolle.


Fragen Sie nie eine Biologin nach dem Begriff des Lebens, nie einen Volkswirt nach dem Begriff des Geldes, schon gar nicht eine Theologin nach dem Gottesbegriff und am besten nie und nimmer einen Kriminologen nach dem Begriff des Verbrechens.  
'''Und dennoch "spielt der Mord im allgemeinen Bewußtsein eine Schlüsselrolle. Kraft seines Beispiels wird überhaupt erst verstanden, was ein Verbrechen ist"''' (Enzensberger 1964: 10).


Gehen wir lieber raus aus dem Univiertel und fragen Leute, die wir auf der Strasse treffen. Die werden dann wahrscheinlich nicht mit einer Definition, sondern mit einem Beispiel antworten. "'Ein Verbrechen, das ist zum Beispiel ein Mord.' Die Häufigkeit dieser Antwort steht in keinem Verhältnis zur Kriminalstatistik, in der ganz andere Delikte die Hauptrolle spielen. Obwohl er relativ selten ist, spielt der Mord im allgemeinen Bewußtsein eine Schlüsselrolle. Kraft seines Beispiels wird überhaupt erst verstanden, was ein Verbrechen ist" (Enzensberger 1964: 10).
:Hier setzt die Kriminologie gerne ein, um zu beweisen, dass und wie nützlich sie sein kann. Wenn man nur auf uns hörte, so der Refrain dieses Kanons der Medienkriminologen, wenn man nur auf uns hörte, dann wüßte man längst, dass und wie unsinng es ist, diese Furcht zu haben, weil doch die Zahl der Morde gar nicht ansteigt, weil doch kleine Kinder immer sicherer vor pädophilen Angriffen mit Todesfolge sind. Und überhaupt nimmt die Gewalt doch ab und ist alles nicht so schlimm.


:Zusammen mit seinem kleinen Bruder, dem Totschlag, öffnet uns der Mord einen Spalt breit die Tür in eine andere Welt jenseits der Alltagsroutine: die Welt von Blut und Gewalt, von Grenzerfahrungen, ungebremster Aggression und teuflischer Grausamkeit. Es ist die Welt der vermischten Nachrichten aus aller Welt, des Traums, des Theaters, der Dokumentarfilme und des sonntäglichen Tatort-Krimis. Unser Gedanken- und Gefühlshaushalt scheint die Befassung mit der Grausamkeit als Kontrastfolie zu benötigen: einerseits als ''divertimento'', also als Nervenkitzel, um sich vor "tödlicher Langeweile" zu bewahren, andererseits aber auch als eine - zum Glück - in die Sphäre der Repräsentation verlagerte psychohygienische Abfuhr konfligierender emotionaler Unruhezustände, als Katharsis eines auch vielen Experten immer noch rätselhaften Angst-Aggressions-Lust-Komplexes. Die Repräsentationen der Gewalt werden intensiv verbreitet, sie werden aber auch zugleich wie süchtig konsumiert - und wie der Leibhaftige geächtet. Gewaltdarstellungen in den Medien werden kritisch bewertet, für die reale Gewalt verantwortlich gemacht und müssen oft genug als Sündenböcke herhalten. Das ist nicht ganz gerecht und übersieht regelmäßig die womöglich für jede Gesellschaft überlebensnotwendige Funktion symbolischer Gewaltarbeit (Schäffauer 2011). Das scheint mir auch und besonders für die filmische und literarische Befassung mit der Figur des Serienkillers zu gelten - eine populäre Ikone, die so viele Ambivalenzen bündelt, dass sie selbst in der Wissenschaft Stirnrunzeln hervorruft; was genau es ist, was eine Rezeption und Durcharbeitung des medialen wie des realen Phänomens blockiert, kann ich an dieser Stelle nicht weiter untersuchen. Bei vielen Serienmördern in der Realität jedenfalls war immer wieder festzustellen, dass ihnen die Fähigkeit zur Differenzierung zwischen materieller und symbolischer Realität abging. Vereinfacht ausgedrückt: wo andere die Dinge im Traum, im künstlerischen Ausdruck oder in anderer sublimierter Form ausdrücken, müssen sie den Akt selbst ausführen. Vielleicht ist es der Verlust an Symbolisierungsfähigkeit, der uns Angst macht; jedenfalls kann man sagen: je deutlicher die realen Konsequenzen dieses Verlustes hervortreten, desto gründlicher werden sie ignoriert.  
:Zusammen mit seinem kleinen Bruder, dem Totschlag, öffnet uns der Mord einen Spalt breit die Tür in eine andere Welt jenseits der Alltagsroutine: die Welt von Blut und Gewalt, von Grenzerfahrungen, ungebremster Aggression und teuflischer Grausamkeit. Es ist die Welt der vermischten Nachrichten aus aller Welt, des Traums, des Theaters, der Dokumentarfilme und des sonntäglichen Tatort-Krimis. Unser Gedanken- und Gefühlshaushalt scheint die Befassung mit der Grausamkeit als Kontrastfolie zu benötigen: einerseits als ''divertimento'', also als Nervenkitzel, um sich vor "tödlicher Langeweile" zu bewahren, andererseits aber auch als eine - zum Glück - in die Sphäre der Repräsentation verlagerte psychohygienische Abfuhr konfligierender emotionaler Unruhezustände, als Katharsis eines auch vielen Experten immer noch rätselhaften Angst-Aggressions-Lust-Komplexes. Die Repräsentationen der Gewalt werden intensiv verbreitet, sie werden aber auch zugleich wie süchtig konsumiert - und wie der Leibhaftige geächtet. Gewaltdarstellungen in den Medien werden kritisch bewertet, für die reale Gewalt verantwortlich gemacht und müssen oft genug als Sündenböcke herhalten. Das ist nicht ganz gerecht und übersieht regelmäßig die womöglich für jede Gesellschaft überlebensnotwendige Funktion symbolischer Gewaltarbeit (Schäffauer 2011). Das scheint mir auch und besonders für die filmische und literarische Befassung mit der Figur des Serienkillers zu gelten - eine populäre Ikone, die so viele Ambivalenzen bündelt, dass sie selbst in der Wissenschaft Stirnrunzeln hervorruft; was genau es ist, was eine Rezeption und Durcharbeitung des medialen wie des realen Phänomens blockiert, kann ich an dieser Stelle nicht weiter untersuchen. Bei vielen Serienmördern in der Realität jedenfalls war immer wieder festzustellen, dass ihnen die Fähigkeit zur Differenzierung zwischen materieller und symbolischer Realität abging. Vereinfacht ausgedrückt: wo andere die Dinge im Traum, im künstlerischen Ausdruck oder in anderer sublimierter Form ausdrücken, müssen sie den Akt selbst ausführen. Vielleicht ist es der Verlust an Symbolisierungsfähigkeit, der uns Angst macht; jedenfalls kann man sagen: je deutlicher die realen Konsequenzen dieses Verlustes hervortreten, desto gründlicher werden sie ignoriert.  
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