Der Mord im Zusammenhang des Tötens

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Mord als Schlüsselbegriff

Die Kriminologie gilt allgemein als Wissenschaft vom Verbrechen. Im Gegensatz zur normativ-deontologischen Strafrechtswissenschaft versteht sie sich als hermeneutisch-empirische und damit als Disziplin, die Erscheinungen des Verbrechens beschreibt, sie ursächlich erklärt, motivational versteht und ansonsten nach effektiven Präventionsmöglichkeiten Ausschau hält.

Was aber ist ein Verbrechen? Strafrechtler sagen: das ist doch ganz klar. Ein Verbrechen ist eine rechtswidrige Tat, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht ist. Das steht doch schon im Strafgesetzbuch: § 12. Das ist natürlich sehr interessant. Aber gilt das auch für Holland und Saudi-Arabien? Nein natürlich nicht. Diese Definition ist zirkulär, sie ist aktuell und sie ist lokal. Sie gilt hier und heute und sie sagt, was der Gesetzgeber sowieso sagt, also sagt sie nichts. Jedenfalls hilft sie nicht weiter, wenn Wissenschaftler fragen, woran sie sich halten sollen, wenn sie eine historische Studie über die Geschichte des Verbrechens oder eine vergleichende Studie über Verbrechen in verschiedenen Kontinenten verfassen sollen. An welchem Begriff des Verbrechens sollten sie sich denn dann orientieren?

Nun ja, geben gibt es so etwas schon ... ist heutzutage aber nicht mehr gut angesehen ... der Begriff des natürlichen Verbrechens von Raffaele Garofalo, spätes 19. Jahrhundert. Na gut:

Ein natürliches Verbrechen liegt immer dann vor, wenn - und wir sprechen hier vom delitto naturale (also, wenn man so will, vom malum in se im Gegensatz zum mere prohibituum) - grundlegende moralische Empfindungen des Mitleids (pietà) oder der Redlichkeit (probità) verletzt werden und deshalb die Tat allgemein als abscheulich empfunden wird: "Il delitto sociale o naturale è una lesione de quella parte del senso morale, che consiste nei sentimenti altruistici fondamentali (pietà e probità)" (Garofalo 1885: 30).

Die meisten Nicht-Experten werden auf die Frage "Was ist ein Verbrechen" nicht abstrakt, sondern konkret mit einem Beispiel antworten. Sie werden sagen: ein Verbrechen, das ist zum Beispiel ein Mord.

Natürlich steht das in keinem Verhältnis zur Kriminalstatistik. Dort spielen ganz andere Delikte die Hauptrolle.

Und dennoch "spielt der Mord im allgemeinen Bewußtsein eine Schlüsselrolle. Kraft seines Beispiels wird überhaupt erst verstanden, was ein Verbrechen ist" (Enzensberger 1964: 10).

Hier setzt die Kriminologie gerne ein, um zu beweisen, dass und wie nützlich sie sein kann. Wenn man nur auf uns hörte, so der Refrain dieses Kanons der Medienkriminologen, wenn man nur auf uns hörte, dann wüßte man längst, dass und wie unsinng es ist, diese Furcht zu haben, weil doch die Zahl der Morde gar nicht ansteigt, weil doch kleine Kinder immer sicherer vor pädophilen Angriffen mit Todesfolge sind. Und überhaupt nimmt die Gewalt doch ab und ist alles nicht so schlimm.
Zusammen mit seinem kleinen Bruder, dem Totschlag, öffnet uns der Mord einen Spalt breit die Tür in eine andere Welt jenseits der Alltagsroutine: die Welt von Blut und Gewalt, von Grenzerfahrungen, ungebremster Aggression und teuflischer Grausamkeit. Es ist die Welt der vermischten Nachrichten aus aller Welt, des Traums, des Theaters, der Dokumentarfilme und des sonntäglichen Tatort-Krimis. Unser Gedanken- und Gefühlshaushalt scheint die Befassung mit der Grausamkeit als Kontrastfolie zu benötigen: einerseits als divertimento, also als Nervenkitzel, um sich vor "tödlicher Langeweile" zu bewahren, andererseits aber auch als eine - zum Glück - in die Sphäre der Repräsentation verlagerte psychohygienische Abfuhr konfligierender emotionaler Unruhezustände, als Katharsis eines auch vielen Experten immer noch rätselhaften Angst-Aggressions-Lust-Komplexes. Die Repräsentationen der Gewalt werden intensiv verbreitet, sie werden aber auch zugleich wie süchtig konsumiert - und wie der Leibhaftige geächtet. Gewaltdarstellungen in den Medien werden kritisch bewertet, für die reale Gewalt verantwortlich gemacht und müssen oft genug als Sündenböcke herhalten. Das ist nicht ganz gerecht und übersieht regelmäßig die womöglich für jede Gesellschaft überlebensnotwendige Funktion symbolischer Gewaltarbeit (Schäffauer 2011). Das scheint mir auch und besonders für die filmische und literarische Befassung mit der Figur des Serienkillers zu gelten - eine populäre Ikone, die so viele Ambivalenzen bündelt, dass sie selbst in der Wissenschaft Stirnrunzeln hervorruft; was genau es ist, was eine Rezeption und Durcharbeitung des medialen wie des realen Phänomens blockiert, kann ich an dieser Stelle nicht weiter untersuchen. Bei vielen Serienmördern in der Realität jedenfalls war immer wieder festzustellen, dass ihnen die Fähigkeit zur Differenzierung zwischen materieller und symbolischer Realität abging. Vereinfacht ausgedrückt: wo andere die Dinge im Traum, im künstlerischen Ausdruck oder in anderer sublimierter Form ausdrücken, müssen sie den Akt selbst ausführen. Vielleicht ist es der Verlust an Symbolisierungsfähigkeit, der uns Angst macht; jedenfalls kann man sagen: je deutlicher die realen Konsequenzen dieses Verlustes hervortreten, desto gründlicher werden sie ignoriert.
Der Mord ist aber auch ein Schlüsselbegriff der Kriminologie selbst. Im kontroversen Fundament der Kriminologie als Wissenschaft, den Verbrecherbildern des Turiner Mediziners Cesare Lombroso aus dem Jahre 1876, spielt die Beschreibung des Mörders als des Inbegriffs des geborenen Verbrechers die zentrale Rolle. Im Zeitalter der Klassifikationen und Typologien investierte die Wissenschaft in die möglichst präzise Beschreibung unterschiedlicher Erscheinungsformen des Verbrechers, wobei man anscheinend der Überzeugung war, dass jedem gesetzlichen Straftatbestand ein klar abgrenzbarer Menschentypus entspräche. So wie das Gesetz zwischen Mord, Totschlag, Vergewaltigung und so weiter unterschied, so unterschied die Kriminologie den Mörder vom Totschläger und diesen wiederum vom Vergewaltiger, vom Taschendieb und vom Betrüger.
Der von Comte und Darwin beeinflusste Lombroso glaubte ebenso wie sein Freund und Schüler Enrico Ferri, Mörder schon nach ihrem Äußeren von Vergewaltigern unterscheiden zu können: "Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich; die Lippen dünn, die Eckzähne groß. Nystagmus ist häufig, auch einseitiges Gesichtszucken, wobei sie die Eckzähne zeigen, gleichsam grinsend oder drohend". Die Vergewaltiger hingegen "haben fast immer ein funkelndes Auge, feines Gesicht, schwellende Lippen und Brauen, aber einen starken Unterkiefer. Meist sind die gracil gebaut, bisweilen jedoch bucklig" (Lombroso 1894: 229 ff.). Enrico Ferri (1856-1929) versicherte , dass auch er im Stande sei, "allein aus den organischen Erscheinungen die Diagnose des Mörders zu machen inmitten anderer Verbrecher" (Ferri 1896: 38). Die sog. Lyoner Schule unter Alexandre Lacassagne (1843-1924) wiederum konterte derlei Biologismen gerne mit dem Hinweis auf sozialstrukturelle Ursachen aller Kriminalität und wurde für das Motto bekannt: "Jede Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient" (Lacassagne 1913: 364). So begann der Streit zwischen den beiden großen Lagern: ist es die Anlage oder ist es die Umwelt, die den Menschen zum Verbrecher macht? Ein Streit, der bis heute nicht beigelegt ist, denn auch der radikal anti-ätiologische Labeling Approach, der den gordischen Knoten mit einem entschiedenen Weder-Noch durchschlagen wollte, kommt ja aus diesem Bezugsrahmen nicht heraus. Nur dass bei ihm die Rolle der Umwelt auf Gesetz, Polizei und Justiz verengt werden: es ist die Gesellschaft in Gestalt dieser Institutionen, die den Menschen kriminalisiert, ihm das Etikett und die Rolle des Delinquenten als ein "negatives Gut" zuweist. Hier macht die Umwelt den Menschen zum Verbrecher, nicht indem sie ihn etwas tun lässt, sondern allein dadurch, dass sie ihn als Verbrecher bezeichnet und behandelt.

Mord ist ein Schlüsselbegriff, von dem aus sich nicht nur die Frage nach dem Begriff des Verbrechens und den Aufgaben der Kriminologie, sondern letztlich auch Grundfragen erschließen lassen. Nicht zuletzt die Frage: Was ist der Mensch? Wenn wir größere Zusammenhänge entdecken wollen, dann müssen wir einen Schritt zurück treten und uns nicht sofort mit dem Mord befassen, sondern zunächst einmal mit dem, was wir ohne Bewertungen rein empirisch feststellen können. Denn Mord hat einen doppelten Kern: die Beschreibung (das wird getötet) und die Bewertung (diese Tötung ist in besonderem Maße unerwünscht und missbilligenswert). Aber für wen unerwünscht? Auf wessen Standpunkt stellen wir uns als Kriminologen? Das ist die Schwierigkeit beim Mordbegriff. Leichter haben wir es mit dem Töten. Töten bedeutet: ein Leben auslöschen. Das lässt sich empirisch feststellen und erfordert keine Wertentscheidung wie im Falle der Feststellung eines Mordes. Beginnen wir also mit dem einfachen Sachverhalt des Tötens. Welche Rolle spielt das Töten im Allgemeinen und welche Rolle spielt es für die Menschen?

Die Ubiquität des Tötens

Überall wo es Leben gibt, gibt es neben dem natürlichen Alterungsprozess und dem biologisch-genetisch vorprogrammierten Sterben auch das Phänomen des Auslöschens von Leben, also des Tötens. Töten tut die unbelebte Natur wie die belebte. Die Verwüstungen durch Naturkatastrophen vernichten ganze Ökosysteme mit allem darin befindlichen Leben. Man denke an Erdbeben, Feuersbrünste oder den asiatischen Tsunami von 2004, dessen Wassermassen allein in kürzester Zeit über 230.000 Menschenleben auslöschten.

Die belebte Natur tötet mit einer sehr viel größeren Regelmäßigkeit und Allgegenwärtigkeit. Ohne massenhaft anderes Leben auszulöschen kann der Frosch im Gartenteich ebenso wenig überleben wie der Hecht im Karpfenteich oder der Singvogel im Wald. Die natürlichen Nahrungsketten sind Ketten des Tötens und Getötetwerdens. Die Natur ist ein endloser Prozess des Tötens von Tieren durch andere Tiere - ein bellum omnium contra omnes. Nicht nur das Sterben, auch das Töten ist also - paradoxerweise - ein allgegenwärtiger und nicht wegzudenkender Teil des Lebens. Es ist ubiquitär. Und: auch der Mensch ist in diesem Geflecht gefangen. Auch er ist Objekt und Subjekt des Tötens auf der Welt.

Töten bedeutet ein Leben aktiv beenden. Üblich ist das Töten fremden Lebens. An was denken wir dabei zuerst: an Mord. Das ist aber voreilig. Das Töten ist ubiquitär, es ist Teil der Natur und überall vorhanden. Das Töten ist unter Tieren gang und gäbe, aber auch Pflanzen töten sich gegenseitig oder manchmal auch Tiere. Tiere wiederum töten Pflanzen und vor allem auch andere Tiere, manchmal auch Menschen. Menschen ihrerseits töten Pflanzen und Tiere und andere Menschen. Das Töten anderer Menschen erfolgt aus den verschiedensten Ursachen, auf die unterschiedlichsten Arten und wird sozial höchst unterschiedlich bewertet. Darauf werden wir noch zu sprechen kommen. Zunächst einmal halten wir fest: das Töten - also die aktive Beendigung fremden Lebens - ist ein allgemeines Phänomen. Es ist alltäglich und es ist durch und durch natürlich.

Der Mensch als Objekt des Tötens

Wir Menschen werden geboren und wir sterben. Und wir würden auch dann sterben, wenn wir nicht getötet würden, sondern ohne Krankheiten, Unfälle oder Kriminalität immer weiter lebten. Wir würden dann an Altersschwäche, physiologischer Altersatrophie, bzw. Senilität (ICD) sterben, also an der natürlichen Funktionseinschränkung aller Organe, die mit dem Alterungsprozess einhergeht. Allerdings sterben wir Menschen meistens nicht an Altersschwäche, sondern weil wir getötet werden: von einem Virus, von Krebszellen, von giftigen Schlangen und wilden Tieren, von Unfällen (man denke an Haushaltsunfälle wie das Fallen von Leitern, Treppen, Balkonen, Dächern), Verkehrsunfälle (Zusammenprall von Personenkraftwagen), je nach Weltgegend auch durch Verhungern oder Verdursten, je nach Weltgegend unteschiedlich häufig durch eigenes absichtliches Tun (Suizid: weltweit jährlich etwa eine Millionen) oder durch vorsätzliche Tötungen seitens anderer Menschen (Ehepartner, Eltern, Kinder, sonstige Familienangehörige, Freunde, Bekannte, Amokläufer, Banden, Milizen, Polizisten, Soldaten, Henker). Mit anderen Worten: der Mensch stirbt meist nicht an Altersschwäche, sondern weil sein Leben ausgelöscht wird, weil er unabsichtlich, fahrlässig, bedingt vorsätzlich oder mit voller Absicht getötet wird. Meistens sind es Krankheiten, die ihn töten, manchmal Unfälle, gelegentlich aber auch Hungersnöte, bewaffnete Auseinandersetzungen, Massaker, Völkermorde oder die sogenannte einfache Kriminalität.


Der Mensch als Subjekt des Tötens

Schon aus dieser Auflistung erschließt sich, dass er Mensch nicht nur getötet wird, sondern auch tötet; dass er also nicht nur Opfer, sondern auch Akteur ist: Subjekt des Tötens. Der Mensch wird nicht nur getötet - von Naturgewalten, von Krankheiten, von Tieren oder von anderen Menschen - er tötet auch: er tötet Pflanzen, Tiere und andere Menschen.

Vor allem verblüfft, wie viel der Mensch tötet. Mehr, als er überhaupt verdauen kann. Wir töten Pflanzen, wenn wir im Balkonkasten Unkraut jäten oder auf den Feldern die Ernte einfahren, und wir töten Mikroorganismen, wenn wir atmen oder Antibiotika zu uns nehmen. Wir töten Mücken und Motten, Fliegen und Falter, Ameisen und Silberfische, Ratten und Mäuse und alle möglichen Krabbeltiere. Als Bürger der EU töten wir in jedem Jahr rund 25 Millionen Tiere für die Pelzindustrie, Milliarden von Hühnern und 360 Millionen Schweine, Schafe, Ziegen und Rinder für die Fleischerzeugung (European Commission 2008).

Menschen töten auch ihre Artgenossen. Sie töten zum individuellen Nutzen oder zu dem eines Kollektivs. Sie töten aus Angst und aus Wut, wegen des Stolzes und wegen der Ehre, aus Habgier und zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, sie töten aus Macht und aus Lust, aus Ohnmacht und aus Frust. Sie töten zur Störung der Ordnung wie zu deren Sicherung. Sie töten aus edlen Motiven und aus niederen. Sie töten mit der bloßen Hand und mit Schusswaffen, aus der Nähe und aus der Distanz, unmittelbar und direkt, oft aber auch mittelbar und indirekt. Sie töten so viel und auf so viele verschiedene Arten, dass es notwendig ist, das Töten zu klassifizieren und zu regulieren. Es wird aber nicht nur kontrolliert, sondern auch trainiert und stimuliert. Die Lage ist offenbar verworren. Lässt sie sich zumindest gedanklich ordnen und vielleicht erklären - oder lässt sich gar feststellen, in welche Richtung sich das Töten entwickelt und wie man sie, die Richtung (und das damit verbundene Leiden) vielleicht sogar auf eine das Leiden, das Töten und das Morden verringernde Weise beeinflussen könnte?

Vielleicht gibt es ja sogar in der Vielfalt der menschlichen Gemeinschaften die eine oder die andere, die in dieser Hinsicht besser sind als andere. Bisher war ja immer von uns Menschen im Allgemeinen die Rede. Aber im Detail unterscheiden sich doch nicht nur die Individuen stark voneinander, sondern auch die Kulturen, die politischen Systeme und die Lebensweisen. So töten zum Beispiel nicht alle menschlichen Gemeinschaften gleich viel und gleich bedenkenlos. Denken wir an die Vegetarier und die Veganer, denken wir an die Religionen und Wertegemeinschaften, die die Achtung vor dem Leben ernst nehmen. Also etwa an den Jainismus. Die drei universellen ethischen Grundprinzipien der Jain sind Gewaltlosigkeit gegenüber allen immanent beseelten Existenzformen (Ahimsa), Unabhängigkeit von unnötigem Besitz (Aparigraha) und Wahrhaftigkeit (Satya = Verzicht auf nicht wahrheitsgemäße Rede). Zum Ablassen von Töten und Verletzen von Lebewesen gehört eine Ernährung, die weder Tier noch Pflanze für sich sterben lässt. Ein Jain wird kaum als Bauer arbeiten, weil er beim Pflügen Lebewesen verletzen könnte. Er wird auch nicht Soldat werden.
Was Gewaltfreiheit für die Jain bedeutet, zeigt die Lebensweise des Acharya (Heilige) Elacharya Shri Shrutsagar in Neu-Delhi (Buchsteiner 2012): er begnügt sich nicht nur mit einem Stehfrühstück aus Wasser und Linsenbrei für die tägliche Ernährung, sondern verzichtet auch auf die Körperwäsche. Haben nicht auch die Einzeller im Wasser ein Recht auf Leben? Warum sollten sie unnötig ausgelöscht werden? Nicht zu töten heißt auch Vorsicht im Umgang mit Pflanzen: manche Jain tragen einen Mundschutz, um nicht unwillentlich Minilebewesen einzuatmen. Und fast alle achten darauf, kein Wurzelgemüse aus dem Boden zu reißen. - Das könnte zu dem Vorurteil verleiten, dass es sich um Spinner am Rande des Existenzminimus und völlig weltabgewandte Asketen handeln muss. Doch nichts wäre irreführender. Die nicht einmal zehn Millionen Jain auf der Welt sind überdurchschnittlich gebildet und wohlhabend und kommen in der zivilisierten Welt ganz gut zurecht. Viele sind übrigens im Bankgewerbe tätig - wie nicht zuletzt auch der neue Chef der Deutschen Bank, Anshu Jain.

Wenn wir von "den Menschen" sprechen, ist also immer Raum für viele Besonderheiten und Ausnahmen zuzugestehen. Das ist auch der Hoffnungsschimmer für die Zukunft. Doch müssen wir auch zugestehen: es waren nicht die Prinzipien des Jainismus, die den bisherigen Gang der Menschheitsgeschichte und insbesondere die Geschichte und Entwicklungsprinzipien des Tötens - seiner Förderung und seiner Kontrolle - maßgeblich bestimmten. Es waren andere. Und zwar folgende.

((Reste: Menschen müssen wenig, können aber viel. Sie verfügen über eine enorme Bandbreite möglichen Verhaltens. Deshalb müssen sie keine anderen Menschen töten, können es aber. Und tun es auch: nicht alle Menschen und nicht immerzu, aber doch mit einer mehr oder weniger vorhersehbaren Häufigkeit. Es gibt keinen Tag, an dem nicht Menschen andere Menschen umbringen. Manche dieser Taten sind Morde. Sie sind seltener als andere Formen des Tötens von Menschen, aber auch für sie gilt: es gibt keinen Tag, an dem nicht Menschen andere Menschen ermorden. Der Mord ragt als spektakuläre Tat aus der Normalität des Tötens heraus. Werfen wir einen Blick auf diese Normalität des Tötens. In der gesamten Welt wird andauernd getötet: da wird pflanzliches Leben beendet und da wird tierisches Leben beendet - sowohl von anderen Pflanzen als auch von anderen Tieren. Und von dem gefährlichsten aller Tiere, dem Menschen. Menschen töten nicht-menschliches Leben immerzu und sie töten auch - sehr viel seltener, aber trotzdem andauernd und auch nicht ganz selten - menschliches Leben. Menschen töten pflanzliches Leben schon beim Unkrautjäten. Sie töten tierisches Leben, wenn sie Motten, Mücken, Fliegen, Mäuse und Ratten erschlagen oder vergiften. Sie töten allein innerhalb der Europäischen Union (European Commission 2008) mehrere Milliarden Hühner und weiteres Geflügel und 360 Millionen Schweine, Schafe, Ziegen und Rinder für die Fleischerzeugung sowie 25 Millionen Tiere für die Pelzindustrie (pro Jahr). ))


Vom Nutzen und Nachteil des Tötens für das Leben

Bestimmte Lebensregeln wie etwas das "leben und leben lassen" des Jainismus oder das berühmte jüdisch-christliche Gebot "Du sollst nicht töten" suggerieren neben der scheinbar eindeutigen Missbilligung des Tötens auch noch darüber hinaus die Idee, dass das Töten prinzipiell eine Verletzung der Interessen der größeren Gemeinschaft, also der Verwandtschaftsgruppe, der Ethnie, der Gesellschaft usw., darstelle. Der Gedanke, dass das Töten streng verboten sein müsse, um die Überlebenschancen der Gesellschaft und letztlich der Menschheit zu sichern, ist gewiss naheliegend. Aber er stellt allenfalls die halbe Wahrheit dar. Im Laufe der Evolution bot das Töten neben bestimmten Risiken und Nachteilen immer auch manifeste Vorteile im Hinblick auf die Selbst- und Arterhaltung des Menschen. Die Geschichte der moralischen Bewertung des Tötens spiegelt diese Ambivalenz: neben der sozialen Kontrolle des unerwünschten Tötens gab es immer auch Normen der Stimulierung des sozial erwünschten Tötens. Der Sinn lag auf der Hand: die Vorteile des Tötens zu nutzen und die Nachteile des Tötens möglichst gering zu halten. David M. Buss und Joshua D. Duntley (2002) sprechen geradezu von einem evolutionären Rüstungswettlauf ...

Der evolutionäre Vorteil des Tötens von Feinden

Der Mensch ist biologisch gesehen "frei, seine Artgenossen zu töten; die instinktive Hemmung dagegen reicht bei ihm nicht aus" (v. Weizsäcker 1979: 85). Mord und Totschlag gehören für ihn dazu und haben ihm viel geholfen. Hätte er sich nicht im Laufe der Evolution zum gefährlichsten aller Tiere (David Livingstone Smith) entwickelt: es gäbe ihn wohl nicht mehr.

Zu konstatieren ist also, dass der Mensch über einen Erfindungsreichtum sondergleichen verfügt, was die grausame und egoistische Eliminierungen seiner Artgenossen angeht: diese Fähigkeit hatte er schon von seinen Vorfahren übernommen , für die sich dieses Verhalten im Laufe von rund sechs Millionen Jahren immer wieder als überlebenswichtig erwiesen hatte. Die Angst des Gejagten und der Triumph des Jägers vereinigten sich im "aggressiven Individuum": ein erheblicher evolutionärer Vorteil für den homo erectus und eine gute Basis für den seit rund 200.000 Jahren existierenden anatomisch modernen Menschen. Selbst noch nach der Erfindung des Ackerbaus und der Viehzucht vor rund 12.000 Jahren war die Grausamkeit gegenüber Fremden noch nicht dysfunktional geworden. 95% dieser Zeitspanne verbrachte der Mensch in kleinen Gemeinschaften, die ganz gut ohne Kontakt mit Fremden auskamen und für die zudem der Anblick von Fremden meist nichts Gutes bedeutete. Viele Forscher sehen in der kulturübergreifend feststellbaren Phase des "Fremdelns" bei sieben bis acht Monate alten Kleinkindern ebenso einen ontogenetischen Ausläufer dieses phylogenetischen Erbes wie in der (aus der Angst vor dem Ermordet-Werden stammenden) Fähigkeit des Menschen, sich in die potentiell bösen Absichten Anderer hineinzuversetzen - einer Kunst, die dann von Vorteil ist, wenn es dem Menschen gelingt, die Angst vor dem Anderen in die Bereitschaft zu dessen Tötung zu verwandeln.

Die zunehmende Bevölkerungsdichte machte Kontakte häufiger, aber nicht aber unbedingt friedlicher. Kopfjäger und Kannibalen genossen den evolutionären Vorteil, durch die Tötung und das Verzehren von Fremden andere Feinde abzuschrecken, den eigenen Eiweißbedarf zu decken und zudem das eigene Machtgefühl zu intensivieren. Doch auch jenseits dieser Kulturen war es rational, weil abschreckend, Fremde zu vergewaltigen, zu foltern und/oder zu zerstückeln. Die Grausamkeit war zweckorientiert im Hinblick auf das eigene Überlegen und insofern strategisch rational (Helbling 2006).

Die (von Thomas Hobbes eindrucksvoll geschilderte) Logik der wechselseitigen Antizipation böser Absichten befähigt (und nötigt) das um seine Sicherheit besorgte Individuum, dem Risiko eines Angriffs durch eine eigene Attacke zuvorzukommen. Den für die weitere Entwicklung riskanten bellum omnium contra omnes konnte dann - nach Hobbes - nur die Herausbildung einer starken, die Partikulargewalten entwaffnenden Zentralmacht verhindern.

Nach Samuel Bowles (2004) verdanken wir der unschönen Aggression gegen Fremde auch positive Erscheinungen. Denn in der Fremdaggression sieht er die evolutionäre Wiege von Selbstlosigkeit, Solidarität, Freundschaft und aufopferungsvoller Liebe. All diese positiven Elemente der Binnensolidarität innerhalb von Gruppen hätte es ohne die Abgrenzung nach außen nicht gegeben.

Der evolutionäre Nachteil des Tötens von Freunden

Dass man Mitglieder der eigenen Solidargruppe - also etwa der eigenen Familie - nicht töten sollte, halten wir für selbstverständlich. Wir halten es aber nich deshalb für selbstverständlich, weil derlei Dinge nie vorkämen. Denn das Gegenteil ist ja gewissermaßen der Fall: Kriminologen wissen, dass das Risiko, von anderen Menschen getötet zu werden, innerhalb des eigenen sozialen Nahraums höher ist als irgendwo sonst. Sondern wir halten es für selbstverständlich, weil wir im Laufe der Evolution gelernt haben, dass der Hang zu solchen Tötungen zwar stark und fast unwiderstehlich ist, dass aber das menschliche Zusammenleben auf die Dauer einfach nicht mehr zu bewerkstelligen wäre, wenn man diesem Hang oder Trieb allzu oft nachgäbe. Daher muss das Verhalten - weil es sozialschädlich ist - so streng missbilligt werden. Und deshalb muss das Verbot solcher Tötungen zumindest auf der moralischen Ebene als so selbstverständlich erscheinen. Allein die Typisierung als abscheuliches Verbrechen ist schon ein Instrument primärer Prävention, indem es denjenigen, die auch nur daran denken, den extremen Grad der sozialen Missbilligung vor Augen führt.

Der Kampf der normativen Systeme

Die Lehre, die sich daraus ziehen lässt - und die die Evolution gezogen hat - ist einfach. Es bedarf im Grunde genommen nicht einer einzigen Norm, die das Töten entweder erlaubt oder verbietet, sondern es bedarf eines komplexen Systems zweier im Grunde unvereinbarer Normensystem, eines erlaubenden und gewährenden einerseits und eines verbietenden und ächtend-sanktionierenden andererseits. Und beide Normensysteme müssen nebeneinander existieren und sich so wenig wie möglich ins Gehege kommen. Sie müssen in der Lage sein, je nach Kontext das Töten zu fördern oder zu hemmen. Wo es dem Kollektiv nützt, muss es gefördert, wo es dem Kollektiv schadet, muss es gehemmt werden. Wenn nämlich Gott befiehlt zu töten, dann musst Du töten. Dein Gehorsam gegen Gott ist höherwertig als das Verbot zu töten. So wie Bundesrecht Landesrecht bricht, wie Verfassungsrecht einfaches Gesetzesrecht bricht, wie jedes höherrangige Recht niederes Recht bricht, so bricht Gottes Befehl jedes einfache Ge- und Verbot.

Gott befiehlt Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern. Er befiehlt dem Volk Israel, seine Gegner auszulöschen. Gegner sind alle Völker, die dort leben, wo das Volk Israel nach seinem Auszug aus Ägypten leben will. Das sind laut Altem Testament nicht weniger als sieben Völker, jedes davon größer und mächtiger als das Volk Israel. Und Gott befiehlt dem Volk Israel, diese Völker anzugreifen und zu vernichten.

Psychologen würden hier vielleicht von einer double-bind Situation sprechen. Einerseits heißt es: Du sollst nicht töten, andererseits heißt es seitens desselben Normgebers: Du sollst doch töten. Und es nicht zu tun, heißt, des Todes zu sein. Hier kann man, muss man die Frage nach dem sozialen Sinn dieses scheinbar widersprüchlichen Normbefehls stellen. Dieser soziale Sinn erschließt sich dann allerdings auch relativ schnell, wenn man bedenkt, was mit dem Satz "Du sollst nicht töten" überhaupt nur gemeint sein kann. Gemeint sein kann nur: "Du sollst nicht auf eigene Faust, aus eigenen Antrieb, aus egoistischen Motiven töten. Du sollst aber dann töten, wenn ich, Dein Gott, es Dir befehle, denn dann geht es nicht um Deinen Nutzen, sondern um die Interessen Deiner Gruppe, Deines Kollektivs, und indem Du bereit bist, andere für Dein Kollektiv zu töten und Dich dabei auch selbst in Gefahr zu bringen, getötet zu werden, erfüllst Du eine soziale Erwartung, bringst einen sozialen Nutzen, während ein Mord aus egoistischen Gründen für die Gruppe ein überaus großer Schaden wäre." - Das ist so natürlich schwer auf Steintafeln zu kriegen, wenn man jeden Buchstaben meißeln muss. Also heißt es "Du sollst nicht töten", und der Rest liegt nicht auf den Schultern des Individuums, sondern ist eine Angelegenheit der Gruppe. Die soll töten und die muss töten, damit sie ihre Existenz sichern kann. -- Das hat natürlich die Religion nicht erfunden. Es ist wahrscheinlich ein altes Menschheitsprinzip. Die Tötung innerhalb und gegen Mitglieder der eigenen Gruppe ist verboten, weil sie die Existenzchancen der ganzen Gemeinschaft tangiert. Die Tötung gegen Mitglieder fremder Gruppen ist nicht verboten, sondern im Zweifel erwünscht und lobenswert, weil sie im Interesse der eigenen Gruppe erfolgt. ## Evolution Wer also das Töten von Menschen durch Menschen verhindern oder vermindern will, der müsste mit den positiv konnotierten Tötungen beginnen. Der private Mord spielt nur eine geringe Rolle.

Soziale Erwünschtheit des Tötens

Midianiter. Rambo II.


Soziale Ächtung des Tötens

5. Gebot. Wendet sich direkt an das Individuum. Weil es gegen das individuelle Bestreben zum Töten gerichtet ist. Betonung nicht auf dem töten, sondern auf dem Du.

Der Mord als Inbegriff des missbilligten Tötens

Kontinuum, Hierarchie, Symbol

  • Kontinuum von höchst erwünscht bis höchst missbilligt. Innerhalb des Bereichs der Missbilligung gibt es Abstufungen, also eine Hierarchie der Unerwünschtheit, bzw. eine Hierarchie der Ächtung.
Die schiere Bandbreite sozialer Werturteile birgt ein gewisses Potential an Wertungswidersprüchen und -konflikten, deren Aufbrechen und Ausufern nicht nur den ethischen, sondern auch den politisch-ideologischen und damit den machtmäßigen Status Quo der Gesellschaft gefährden könnte. Diesem Risiko begegnet in gewisser Weise die Trennung zwischen privater und politischer Moral. Nach dem Prinzip Quod licet Iovi non licet bovi kann dann zwar der Staat das Töten verlangen und belohnen, doch gilt für Privatpersonen nichtsdestotrotz der Satz: Du sollst nicht töten. Eine Vielzahl von Ausnahmen und feinen Differenzierungen führt dazu, dass das soziale Bewertungskontinuum, das sich zwischen der verwerflichsten und der lobenswertesten Tötung erstreckt, letztlich dann aber doch nicht ganz deckungsgleich ist mit dem Kontinuum vom Privaten zum Öffentlichen: die Tötung aus privater Notwehr gilt zum Beispiel als achtens-, die extralegale Tötung von Zivilpersonen durch staatliche Akteure hingegen eher als ächtenswert. - Vor allem aber gibt es auch innerhalb der Klasse der sozial unerwünschten Tötungshandlungen noch erhebliche moralische Differenzierungen: wo die Tötung fahrlässig oder auf Verlangen des dann Getöteten erfolgte, wird sie generell weniger stark geächtet sein als dort, wo sie als Totschlag im Rahmen eines Eifersuchtsanfalls erfolgt oder gar ganz kaltblütig ein arg- und wehrloses Opfer langsam und qualvoll vom Leben zum Tode befördert. Für Taten vom Stile der letztgenannten Art haben die meisten Gesellschaften mittels besonderer Begriffe und Sanktionen eine von anderen Tötungsdelikten abgesonderte Klasse geschaffen, die als Inbegriff des größten Unrechts und der größten Schuld gilt, die ein Mensch auf sich laden kann. Insofern hat die Bezeichnung einer vorsätzlichen Tötung als Mord eine viel wuchtigere und metaphysisch aufgeladenere Bedeutung als wenn sie als Totschlag bezeichnet würde. - Welche Arten von Tötungen jeweils der Kategorie der höchsten Verwerflichkeit zugeordnet werden, unterscheidet sich nach Epochen, Kulturen und politischen Verhältnissen. Üblicherweise erfolgte (und erfolgt) die Abgrenzung im westlichen Kulturkreis mittels der Merkmale des Vorbedachts (im griechischen Alterum: ek pronoia) und der Planung (bouleusis).
  • Die Rangfolge innerhalb der Hierarchie der Unerwünschtheit ist umstritten. Sie ist Gegenstand von ideologischen Auseinandersetzungen, die sich bis durch die Instanzen ziehen. Abgrenzungsproblem Mord vs. Totschlag.
  • Warum: weil der Mord als Inbegriff des Schlechten zugleich eine hohe Symbolkraft hat für das, was man auf keinen Fall sein will - und umgekehrt für das, was man auf jeden Fall sein möchte. Der Streit um Worte ist ein Streit um den sozialen Rang in einer Gesellschaft, um die Frage, wessen Vorstellungen maßgeblich und für alle verbindlich sein sollen.
  • Ungeborene. Tiere. Todesstrafe.

Der Kern des Mordvorwurfs

  • Nicht: Mensch bringt Menschen um. Sondern: verwerflichste Tötungen innerhalb einer Gesellschaft. Kann auch Tier bringt Menschen um oder Mensch bringt Tiere um sein.
  • Verwerflichste Tötungen in der Gesetzestradition: Planung. Greift aber noch zu kurz: denn Krieg ist auch Planung. Also: individual-egoistische und effiziente (geplante) Tötung zu Lasten des Kollektivs. Anmaßung der Effizienz in der Selbsterhaltung auf individueller oder Mikro-Banden-Ebene. Wo die Bande größer ist, ist alles o.k.
  • Besonderheiten: germanisches Recht. § 211. In Deutschland herrscht allerdings insofern eine besondere Situation, als das hiesige Strafgesetz die Abgrenzung des Mordes vom Totschlag seit 1941 nicht mehr nach dem Merkmal der Überlegung vornimmt, sondern sich einer typisierenden Bewertung von Tatmotiven, Tatumständen und Tatzielen bedient. Zudem beschreibt das Gesetz seither nicht die Tat, sondern den Täter. "Mörder ist", heißt es in dem seit 1941 unveränderten, aus der nationalsozialistischen Tätertypenlehre stammenden Gesetzestext, "wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet." Die semantische Absonderung geht einher mit einer speziellen Sanktionsandrohung. In Deutschland erfolgt das dadurch, dass das Gesetz (völlig untypischerweise) bei Vorliegen eines Mordes die lebenslange Freiheitsstrafe als einzig mögliche Strafe zwingend vorschreibt. Der heutige Gesetzeswortlaut "Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft" gilt erst seit 1969 und geht über den seit 1953 geltenden Zwischenschritt "Der Mörder wird mit lebenslangem Zuchthaus bestraft" bis auf die 1941 eingeführte Formulierung zurück: "Der Mörder wird mit dem Tode bestraft." Zusätzlich kommt seit 1979 als symbolische Abgrenzung auch im Verhältnis zum Totschlag hinzu, dass Mord nicht mehr verjähren kann.
  • Verboten ist nicht, dass der Mensch einen Menschen tötet, sondern dass ein Mensch auf eigene Rechnung ohne staatliche Billigung oder staatlichen Befehl einen Menschen tötet. Er soll nicht seinem Egoismus folgen, sondern der Autorität gehorchen. Wenn die sagt: töte, dann hat er zu töten; wenn die sagt: töte nicht, dann hat er nicht zu töten. Das höhere Gebot ist also der Gehorsam gegenüber Autorität.

Definitionsmächte und Definitionskonflikte

Welche Arten von Tötungshandlungen als besonders verwerflich gelten, ist immer auch Gegenstand sozialer und ideologischer Konflikte. Alte Eliten kämpfen gegen die Abwertung und neue für die Verankerung ihrer jeweiligen Moralvorstellungen im Strafgesetzbuch. So unterliegt das, was vom Gesetzgeber mit dem Anspruch der Allgemeinverbindlichkeit als Mord bezeichnet wird, letztlich auch dem Wandel der gesellschaftlichen Einstellungen und der politischen Machtverhältnisse. Daraus ergibt sich, dass zu jeder Zeit mehrere Begriffe des Mordes in einer Gesellschaft benutzt werden.

Ethische Normen und kollektive Forderungen (Moralunternehmer)

Gesetzliche Normen (Völkerrecht, Verfassung, Gesetz, Verordnung, Befehl)

  • Da gibt es interne Konflikte. Was der Befehl sagt, stimmt nicht mit der Verordnung oder dem Gesetz überein - oder das widerspricht der Verfassung oder dem Völkerrecht oder dem Naturrecht ... Nürnberger Prinzipien.

Die staatlichen Kontrollinstanzen (Polizei, Justiz)

  • Labeling. Adorno.
  • Die symbolisch also gleich mehrfach gesicherte Exzeptionalität des Mordes gegenüber allen anderen Tötungen und Tötungsdelikten dient der Markierung der moralischen Grenzen zur Abschreckung potentieller Täter ebenso wie zur Beruhigung der rechtstreuen Bevölkerung. Zwar erfolgt die Bestrafung des Mordes in der Praxis nicht schon immer dann quasi automatisch, wenn der Täter bekannt ist und seine Tat die Merkmale des Mordes erfüllt, weil letztlich jeder Schritt der Ermittlung, der Subsumtion und des Prozesses in unterschiedlichem Ausmaß mit Machtverhältnissen und Interessenkonstellationen zusammenhängt und es durchaus vorkommen kann, dass eine Tötungshandlung, die nach dem Buchstaben des Gesetzes als Mord zu qualifizieren wäre, durch die Machtkonstellation erfolgreich umetikettiert und als fahrlässige Tötung, wenn nicht als Unfall, bzw. Tod durch Krankheit oder Altersschwäche dargestellt werden kann. Ist allerdings eine Tötung erst einmal verbindlich als Mord qualifiziert und die Tat einem Individuum zugeordnet, dann ist die damit verbundene Statusdegradierung kaum je wieder reparierbar - und der Staat hat seine Entschlossenheit zur Verteidigung der moralischen Grenzen des Gemeinwesens unter Beweis gestellt.

Öffentliche Meinungen (Wissenschaft, Interessengruppen, Intellektuelle, Mahner)

  • Für die Sozialwissenschaften geht es nicht darum, welche der vorfindlichen Definitionen die richtige ist, sondern darum, dass jede dieser Definitionen eine soziale Tatsache darstellt, die etwas über das Recht und die Ideologie, die Konflikte und die Probleme in Staat und Gesellschaft aussagen kann. Die gesetzliche Definition des Mordes ist nicht nur deshalb besonders relevant, weil hinter ihrem Allgemeinverbindlichkeitsanspruch die Macht des Staatsapparates steht, sondern auch deshalb, weil sie etwas über die Herrschaftsverhältnisse und die herrschende Ideologie einer Zeit Auskunft gibt. Die Diskrepanz zwischen der gesetzlichen Definition des Mordes einerseits und konkurrierenden Definitionen in gesellschaftlichen Gruppen und sozialen Bewegungen andererseits kann Aufschluss geben über konfligierende Werte in der Gesellschaft, über Tendenzen sozialen und politischen Wandels und vieles mehr: konservative Kreise kämpfen für das ungeborene menschliche Leben und gegen ihren eigenen gesellschaftlichen Einflussverlust mit Kampagnen gegen den "Massenmord an ungeborenen Kindern"; eine zunehmende Zahl von Menschen sieht inzwischen auch ethische Probleme im Umgang mit anderen Lebewesen und verlangt die Ächtung dessen, was sie als "Mord an Tieren" bezeichnet (vgl. dazu Hoerster 2007); legale Hinrichtungen werden hingegen seit langer Zeit von kritischen Geistern als kalte Grausamkeit und "staatlicher Mord" verurteilt; eine ähnliche Delegitimierung staatlichen Tötens beabsichtigt auch der Ausdruck "Soldaten sind Mörder". Hier wie anderswo manifestiert sich ein Unbehagen an dem, was als Heuchelei und Doppelmoral einer gespaltenen Tötungsethik erscheint. Hinter derlei "Streit um Worte" stehen Konflikte von Lebensstilen, Ethiken und ganzen gesellschaftlichen Segmenten um die Frage, wessen Werte als allgemein verbindlich zu gelten haben. Eine selbstbewußter werdende Bürgergesellschaft sieht sich nicht mehr als Untertan des Staates, sondern diesen als eine Organisation im Dienste der Bürger - und würde ihm also am liebsten die Gesellschaftsmoral des Tötungsverbots oktroyieren. All diese Phänomene zeigen, dass es eine Differenz gibt zwischen den herrschenden Überzeugungen, wie sie im positiven Recht verankert sind, und den Werten und Normen gesellschaftlicher Gruppen, Bewegungen oder Subsysteme, aus denen historisch gesehen immer wieder auch rechtlicher Wandel entsteht. Insofern sensibilisieren diese Definitionen nicht nur für ethisch-ideologische Differenzen zwischen Herrschenden und Beherrschten, sondern sie gewähren auch einen Blick auf die Spannbreite dessen, was die Zukunft prägen könnte.
  • Unentdeckte oder nicht-verfolgte Taten. Eigene Subsumtion. Weltgewissen. Weiße Rose. Oft haben die Recht, weil die Vertreter der Institutionen zum Lügen genötigt sind, die Mahner aber nicht. Becker.

Eine weitere Diskrepanz besteht zwischen dem, was einerseits von Polizei und Justiz als Mord registriert und deshalb auch in die Statistiken eingespeist wird - und dem, was von anderen als den offiziell dazu berufenen Stellen als Mord angesehen wird. Viele Tötungen, die Mordmerkmale aufweisen, verbleiben im Dunkelfeld. Sie erreichen gar nicht erst die Polizei oder gar die Gerichte. Dennoch werden sie von den Opfern (oder sogar von den Tätern), von Journalisten oder Wissenschaftlern als solche wahrgenommen, beschrieben, bezeichnet und analysiert. Diese Definitionen sind oft unklarer und unsicherer als diejenigen von Gerichten (aber auch die sind oft nicht so solide, wie sie scheinen). Viele aber sind - auch wenn sie nicht vor Gericht landen - nicht weniger real und nicht weniger scheußlich als vor Gericht abgehandelte und formell als Mord definierte Tötungen. Dass diese (theoretisch in Howard S. Beckers Kategorie des „rule-breaking behavior“, bzw. in Michel Foucaults Konzept der „illégalismes“ gehörenden) Morde im Dunkelfeld, die "nur" informell so definiert werden, nicht als Morde in Gerichtsurteilen auftauchen, macht sie jedenfalls nicht schon deshalb weniger real oder gar weniger verwerflich. Oft sind es sogar die gravierendsten Taten, die im Dunkelfeld verbleiben. Denn je näher die Täter an der Macht operieren und je brutaler sind sie, desto größer ihr korruptiver und einschüchternder Einfluss und desto größer auch ihre Chance, sich der formellen Definition ihrer Taten als Mord für lange Zeit oder für immer zu entziehen. Wenn zum Beispiel die Opfer eines Massakers gefunden werden und die Funde keinen Zweifel daran lassen, dass hier unbewaffnete Zivilisten grausam zu Tode gebracht wurden, wenn aber die mutmaßlichen Täter längst gestorben oder aus anderen Gründen nicht zu belangen sind, dann können sie in keiner Polizei- oder Verurteiltenstatistik auftauchen - und doch wäre es absurd, die entsprechenden Individuen (man denke an diktatorische Staatsführungen des 20. Jahrhunderts, die nie zur Rechenschaft gezogen werden konnten) aus jeder kriminologischen Betrachtung auszuklammern, auch wenn die von Historikern zusammengetragenen Belege erdrückende Beweise für ihre Verantwortlichkeit liefern. Wer vom Mord spricht, ist deshalb gut beraten, seinen Blick auf die Welt nicht dadurch unnötig einzuschränken, dass er sich ausschließlich auf solche Taten und Akteure beschränkt, die von ordentlichen Gerichten rechtskräftig verurteilt wurden. Keine der vier Definitionen hat die Wahrheit gepachtet und keine ist - wenn man sie mit Vorsicht behandelt - als Erkenntnisquelle völlig zu entbehren.

  • Diese Klassifikation erleichtert die Erklärung von Tötungen trotz Verbots. Je mehr übereinstimmen, desto geringer die Chance der Tötung trotz Verbots. Je unsichtbarer das Verbot und je größer der lokale Druck der Legitimität, desto höher die Chance der Tötung trotz Verbots.

Die Tötung trotz Verbots

  • Je weniger Definitionsmächte verbieten: desto eher wird übertreten.

Häufigkeit, Erscheinungsformen, Motive

  • konventionelles Wissen vs. Wayne Morrison
  • Die Seltenheit des Mordes in Europa. Problem: falsche Todesursachenermittlung Entwicklung der Mordrate in Honduras. Drogenkonsum in entwickelten Ländern. Die Kosten zahlen die anderen.
  • Die Nichtverfügbarkeit (elusiveness) des Mordes

Je näher man dem Mord zu kommen versucht, desto mehr entzieht er sich. Im Englischen gibt es für dieses Phänomen das schöne Wort elusiveness, das allerdings mit ausweichendem Verhalten, Nichtkategorisierbarkeit und Undefinierbarkeit noch nicht die richtigen Übersetzungen gefunden hat. Einen Eindruck von diesem Phänomen vermittelt die Kriminalstatistik. In ihr zählt die Polizei die Delikte. Zählt sie aber auch die Morde? Das traut sie sich nicht zu. Es scheint doch schwer zu unterscheiden, was ein Mord ist - und was ein Totschlag. Die Heterogenität des Begriffsinhalts von Mord führt dazu, dass vergleichende Forschungen lieber auf die Kategorie der vorsätzlichen Tötungen ausweichen (Homizide) und gar nicht erst versuchen, den Mord im engeren Sinne zum Gegenstand historischer und interkultureller Komparatistik zu machen. Das ist insofern unglücklich, als man die Abgrenzungsfragen nur verlagert - und sich vor allem aber die Möglichkeit einer fokussierten Erforschung speziell der extremen Formen menschlicher Grausamkeit von vornherein verbaut. Also zählt man "Mord und Totschlag" in einer Kategorie. Und Versuche und vollendete Delikte auch noch dazu. Um die Versuche dann nachträglich wieder herauszurechnen. Aber die Morde werden aus den vorsätzlichen Tötungsdelikten nicht wieder isoliert. So weiß man nicht: wie viel Morde werden eigentlich in Deutschland, in den USA, auf der Welt an einem Tag, in einer Woche, in einem Jahr begangen?

International hat sich der Brauch etabliert, vorsätzliche Tötungen zusammen zu veranschlagen. "Murder and non-negligent manslaughter" (USA). "Mord und Totschlag" (D), "homicide", also "Homizide" - Menschentötungen - in den internationalen Statistiken. Die werden dann bei der Weiterverbreitung leicht zu "Mordraten".

Für Deutschland gilt als Faustregel: pro Tag gibt es ein bis zwei Opfer eines vorsätzlichen Tötungsdelikts. 2009 zählte die Statistik genau 365 Tote, 2011 aber 662.

Für Mord und Totschlag zusammen kommen wir in Deutschland laut Kriminalstatistik auf eine getötete Person pro Tag: im Jahr 2009 registrierte die Statistik genau 365 Opfer von Tötungsdelikten. In anderen Jahren sind es mal mehr, mal weniger, aber nie über 800 und nie unter 200. Und von den 703 Fällen (Mord und Totschlag, einschl. Versuche) des Jahres 2009 waren mehr als die Hälfte Versuche - es blieben noch 299 vollendete Taten - und von den 299 vollendeten Taten dürfte die große Mehrzahl schließlich als Totschlag verurteilt worden sein.

Als wäre es auch zu schwierig, zwischen einem versuchten und einem vollendeten Delikt zu unterscheiden, wirft sie auch Versuche und Vollendungen zusammen. So kommt es, dass wir auf die Frage, wie viele Morde es pro Jahr oder pro Woche oder pro Tag in Deutschland gibt, von denen, deren Aufgabe unter anderem in der Registrierung der Straftaten besteht, keine Antwort bekommen.

  • national/international
  • Mord/Totschlag
  • Homizid
  • Dunkelfelduntersuchungen


Das gilt nicht ohne Weiteres für die Selbst-Tötung. Der Suizid ist eine Besonderheit, die vor allem die Menschen betrifft und auf der Welt gegenwärtig so etwa eine Million Mal pro Jahr vorkommt. In Europa gibt es pro Jahr 120.000 Suizide, davon betreffen 80% Männer. Suizidversuche sind etwa 20 mal so häufig und bei denen ist das Geschlechterverhältnis ausgeglichener. In Deutschland gibt es etwa doppelt so viele Suizide wie Todesfälle durch Verkehrsunfälle - rund 10.000 zu 5.000. Nach fast einer Generation zurückgehender Suizid-Raten gehen sie in letzter Zeit wieder hoch. Aber das ist ein anderes Thema.


Der egoistische Mord: Impunität und Neutralisationstechniken

  • Impunitätserwartung; discounting the future; egoismus; kontrolltheorien
  • Neutralisationstechniken; Jack Katz

Der altruistische Mord: Impunität und Konformität (Autorität; Neutralisationstechniken)

  • Je stärker die lokale Orientierung ...
  • Welzer: Ethik des Tötens
  • Impunitätserwartung
  • Der Fall Irak. Tutu. Blair.
  • Collateral Murder.


These 1 lautet demzufolge: das Töten fremden Lebens ist Teil des Lebens selbst. Dies gilt in besonderem Maße für die Fauna. Tiere töten Tiere und Pflanzen und Menschen, Menschen töten Tiere und Pflanzen und andere Menschen.

Eine neue Kriminologie des Mordes?

  • Schwerpunkte der Forschung: Atlas des Tötens. Erstmal ohne Legalitätsfragen. Damit man sie eigens bearbeiten kann. Und nicht alle wichtigen Fragen implizit vorher löst.
  • Befreiung vom Solipsismus des Labeling. Und von der Bestärkung des Status Quo durch den Labeling.
  • Theoretische Konsequenzen (wie bei Repressivem Verbrechen)
  • Mut zur Subsumtion ist das Wichtigste. Für die Kriminologie. Sich nicht an die offiziellen Statistiken zu halten. Sondern Mord Mord nennen, auch wenn das gegen die lokalen oder internationalen öffentlichen Meinungen geht. Und andererseits nicht alles Mord nennen, was vielleicht legitimer Widerstand gegen Mord ist.
  • Wayne Morrison. Völkerrecht: Hankel. Auch im Krieg nicht töten. Dialektik des Westens: einerseits Inklusion ("Mord an Tieren"), andererseits Angriffskriege. Aggressive Leitstaaten. Bush und Blair. Tutu. Mit Nürnberg hat man der Wissenschaft einen Floh ins Ohr gesetzt.
  • Heute gibt es keine Todesstrafe wie bei der Weißen Rose. Aber wie man bei Collateral Murder sieht. Es gibt die Angst vor einem Zwischenreich. Doppelstaat. Assange. Zwischenreich.

Literatur

  • Buss, David M. & Duntley, Joshua D. (2003). Homicide: An evolutionary psychological perspective and implications for public policy. In N. Dess (Ed.), Evolutionary psychology and violence: A primer for policymakers and public policy advocates. Praeger Publishers, 115-128.
  • Enzensberger, Hans Magnus (1964) Reflexionen vor einem Glaskasten. In: Derselbe, Politik und Verbrechen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 7-39.

Weblinks