Der Mord im Zusammenhang des Tötens: Unterschied zwischen den Versionen

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== Mord als Schlüsselbegriff ==
== Mord als Schlüsselbegriff ==
Die Kriminologie gilt allgemein als die Wissenschaft vom Verbrechen, als Wissenschaft zudem, die im Gegensatz zur Strafrechtswissenschaft, die sich normativ und dogmatisch mit der Lehre von den Straftaten und den Sanktionen befasst, empirisch orientiert ist und nach den Ursachen, Erscheinungsformen und Verlaufsformen des Verbrechens fragt.  
'''Die Kriminologie gilt allgemein als Wissenschaft vom Verbrechen.''' Im Gegensatz zur normativ-deontologischen Strafrechtswissenschaft versteht sie sich als hermeneutisch-empirische und damit als Disziplin, die Erscheinungen des Verbrechens beschreibt, sie ursächlich erklärt, motivational versteht und ansonsten nach effektiven Präventionsmöglichkeiten Ausschau hält.  


Wenn man in der Strafrechtswissenschaft fragt: was ist eigentlich ein Verbrechen? Dann erhält man häufig eine Antwort, die einerseits klar ist, andererseits aber etwas unbefriedigend bleibt, weil sie in gewissem Grade zirkulär zu sein scheint, indem sie nämlich nicht auf die materielle Realität verweist, sondern ihrerseits auf eine Norm. In diesem Fall auf § 12 (1) des Strafgesetzbuchs, in dem es heißt: Ein Verbrechen ist eine rechtswidrige Tat, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht ist.
'''Was aber ist ein Verbrechen?''' Strafrechtler sagen: das ist doch ganz klar. Ein Verbrechen ist eine rechtswidrige Tat, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht ist. Das steht doch schon im Strafgesetzbuch: § 12. Das ist natürlich sehr interessant. Aber gilt das auch für Holland und Saudi-Arabien? Nein natürlich nicht. Diese Definition ist zirkulär, sie ist aktuell und sie ist lokal. Sie gilt hier und heute und sie sagt, was der Gesetzgeber sowieso sagt, also sagt sie nichts. Jedenfalls hilft sie nicht weiter, wenn Wissenschaftler fragen, woran sie sich halten sollen, wenn sie eine historische Studie über die Geschichte des Verbrechens oder eine vergleichende Studie über Verbrechen in verschiedenen Kontinenten verfassen sollen. An welchem Begriff des Verbrechens sollten sie sich denn dann orientieren? 


Fragt man eine Kriminologin: was ist eigentlich ein Verbrechen? Dann erhält man zur Antwort: Das kommt darauf an. Es kommt darauf an, in welcher Epoche und wo genau sich jemand befindet und was er dort tut und wie das dort bewertet wird. Oder man erhält zur Antwort die Gegenfrage: meinen Sie ein natürliches Verbrechen, ein malum in se - oder ein malum mere prohibitum? Wenn Ersteres, dann ist ein Verbrechen jedes Verhalten, das grundlegende moralische Empfindungen des Mitleids (pietà) oder der Redlichkeit (probità) verletzt und dementsprechend Abscheu erregt: "Il delitto sociale o naturale è una lesione de quella parte del senso morale, che consiste nei sentimenti altruistici fondamentali (pietà e probità)" (Garofalo 1885: 30).
Nun ja, geben gibt es so etwas schon ... ist heutzutage aber nicht mehr gut angesehen ... der Begriff des natürlichen Verbrechens von Raffaele Garofalo, spätes 19. Jahrhundert. Na gut:


Fragen Sie nie eine Biologin nach dem Begriff des Lebens, nie einen Volkswirt nach dem Begriff des Geldes, schon gar nicht eine Theologin nach dem Gottesbegriff und am besten nie und nimmer einen Kriminologen nach dem Begriff des Verbrechens.  
'''Ein natürliches Verbrechen liegt immer dann vor, wenn''' - und wir sprechen hier vom ''delitto naturale'' (also, wenn man so will, vom ''malum in se'' im Gegensatz zum ''mere prohibituum'') - '''grundlegende moralische Empfindungen des Mitleids (''pietà'') oder der Redlichkeit (''probità'') verletzt werden und deshalb die Tat allgemein als abscheulich empfunden wird''': ''"Il delitto sociale o naturale è una lesione de quella parte del senso morale, che consiste nei sentimenti altruistici fondamentali (pietà e probità)"'' (Garofalo 1885: 30).


Gehen wir lieber raus aus dem Univiertel und fragen Leute, die wir auf der Strasse treffen. Die werden dann wahrscheinlich nicht mit einer Definition, sondern mit einem Beispiel antworten. "'Ein Verbrechen, das ist zum Beispiel ein Mord.' Die Häufigkeit dieser Antwort steht in keinem Verhältnis zur Kriminalstatistik, in der ganz andere Delikte die Hauptrolle spielen. Obwohl er relativ selten ist, spielt der Mord im allgemeinen Bewußtsein eine Schlüsselrolle. Kraft seines Beispiels wird überhaupt erst verstanden, was ein Verbrechen ist" (Enzensberger 1964: 10).
'''Die meisten Nicht-Experten werden auf die Frage "Was ist ein Verbrechen" nicht abstrakt, sondern konkret mit einem Beispiel antworten. Sie werden sagen: ein Verbrechen, das ist zum Beispiel ein Mord.
'''
 
:Natürlich steht das in keinem Verhältnis zur Kriminalstatistik. Dort spielen ganz andere Delikte die Hauptrolle.
 
'''Und dennoch "spielt der Mord im allgemeinen Bewußtsein eine Schlüsselrolle. Kraft seines Beispiels wird überhaupt erst verstanden, was ein Verbrechen ist"''' (Enzensberger 1964: 10).
 
:Hier setzt die Kriminologie gerne ein, um zu beweisen, dass und wie nützlich sie sein kann. Wenn man nur auf uns hörte, so der Refrain dieses Kanons der Medienkriminologen, wenn man nur auf uns hörte, dann wüßte man längst, dass und wie unsinng es ist, diese Furcht zu haben, weil doch die Zahl der Morde gar nicht ansteigt, weil doch kleine Kinder immer sicherer vor pädophilen Angriffen mit Todesfolge sind. Und überhaupt nimmt die Gewalt doch ab und ist alles nicht so schlimm.


:Zusammen mit seinem kleinen Bruder, dem Totschlag, öffnet uns der Mord einen Spalt breit die Tür in eine andere Welt jenseits der Alltagsroutine: die Welt von Blut und Gewalt, von Grenzerfahrungen, ungebremster Aggression und teuflischer Grausamkeit. Es ist die Welt der vermischten Nachrichten aus aller Welt, des Traums, des Theaters, der Dokumentarfilme und des sonntäglichen Tatort-Krimis. Unser Gedanken- und Gefühlshaushalt scheint die Befassung mit der Grausamkeit als Kontrastfolie zu benötigen: einerseits als ''divertimento'', also als Nervenkitzel, um sich vor "tödlicher Langeweile" zu bewahren, andererseits aber auch als eine - zum Glück - in die Sphäre der Repräsentation verlagerte psychohygienische Abfuhr konfligierender emotionaler Unruhezustände, als Katharsis eines auch vielen Experten immer noch rätselhaften Angst-Aggressions-Lust-Komplexes. Die Repräsentationen der Gewalt werden intensiv verbreitet, sie werden aber auch zugleich wie süchtig konsumiert - und wie der Leibhaftige geächtet. Gewaltdarstellungen in den Medien werden kritisch bewertet, für die reale Gewalt verantwortlich gemacht und müssen oft genug als Sündenböcke herhalten. Das ist nicht ganz gerecht und übersieht regelmäßig die womöglich für jede Gesellschaft überlebensnotwendige Funktion symbolischer Gewaltarbeit (Schäffauer 2011). Das scheint mir auch und besonders für die filmische und literarische Befassung mit der Figur des Serienkillers zu gelten - eine populäre Ikone, die so viele Ambivalenzen bündelt, dass sie selbst in der Wissenschaft Stirnrunzeln hervorruft; was genau es ist, was eine Rezeption und Durcharbeitung des medialen wie des realen Phänomens blockiert, kann ich an dieser Stelle nicht weiter untersuchen. Bei vielen Serienmördern in der Realität jedenfalls war immer wieder festzustellen, dass ihnen die Fähigkeit zur Differenzierung zwischen materieller und symbolischer Realität abging. Vereinfacht ausgedrückt: wo andere die Dinge im Traum, im künstlerischen Ausdruck oder in anderer sublimierter Form ausdrücken, müssen sie den Akt selbst ausführen. Vielleicht ist es der Verlust an Symbolisierungsfähigkeit, der uns Angst macht; jedenfalls kann man sagen: je deutlicher die realen Konsequenzen dieses Verlustes hervortreten, desto gründlicher werden sie ignoriert.  
:Zusammen mit seinem kleinen Bruder, dem Totschlag, öffnet uns der Mord einen Spalt breit die Tür in eine andere Welt jenseits der Alltagsroutine: die Welt von Blut und Gewalt, von Grenzerfahrungen, ungebremster Aggression und teuflischer Grausamkeit. Es ist die Welt der vermischten Nachrichten aus aller Welt, des Traums, des Theaters, der Dokumentarfilme und des sonntäglichen Tatort-Krimis. Unser Gedanken- und Gefühlshaushalt scheint die Befassung mit der Grausamkeit als Kontrastfolie zu benötigen: einerseits als ''divertimento'', also als Nervenkitzel, um sich vor "tödlicher Langeweile" zu bewahren, andererseits aber auch als eine - zum Glück - in die Sphäre der Repräsentation verlagerte psychohygienische Abfuhr konfligierender emotionaler Unruhezustände, als Katharsis eines auch vielen Experten immer noch rätselhaften Angst-Aggressions-Lust-Komplexes. Die Repräsentationen der Gewalt werden intensiv verbreitet, sie werden aber auch zugleich wie süchtig konsumiert - und wie der Leibhaftige geächtet. Gewaltdarstellungen in den Medien werden kritisch bewertet, für die reale Gewalt verantwortlich gemacht und müssen oft genug als Sündenböcke herhalten. Das ist nicht ganz gerecht und übersieht regelmäßig die womöglich für jede Gesellschaft überlebensnotwendige Funktion symbolischer Gewaltarbeit (Schäffauer 2011). Das scheint mir auch und besonders für die filmische und literarische Befassung mit der Figur des Serienkillers zu gelten - eine populäre Ikone, die so viele Ambivalenzen bündelt, dass sie selbst in der Wissenschaft Stirnrunzeln hervorruft; was genau es ist, was eine Rezeption und Durcharbeitung des medialen wie des realen Phänomens blockiert, kann ich an dieser Stelle nicht weiter untersuchen. Bei vielen Serienmördern in der Realität jedenfalls war immer wieder festzustellen, dass ihnen die Fähigkeit zur Differenzierung zwischen materieller und symbolischer Realität abging. Vereinfacht ausgedrückt: wo andere die Dinge im Traum, im künstlerischen Ausdruck oder in anderer sublimierter Form ausdrücken, müssen sie den Akt selbst ausführen. Vielleicht ist es der Verlust an Symbolisierungsfähigkeit, der uns Angst macht; jedenfalls kann man sagen: je deutlicher die realen Konsequenzen dieses Verlustes hervortreten, desto gründlicher werden sie ignoriert.  
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Die belebte Natur tötet mit einer sehr viel größeren Regelmäßigkeit und Allgegenwärtigkeit. Ohne massenhaft anderes Leben auszulöschen kann der Frosch im Gartenteich ebenso wenig überleben wie der Hecht im Karpfenteich oder der Singvogel im Wald. Die natürlichen Nahrungsketten sind Ketten des Tötens und Getötetwerdens. Die Natur ist ein endloser Prozess des Tötens von Tieren durch andere Tiere - ein bellum omnium contra omnes. Nicht nur das Sterben, auch das Töten ist also - paradoxerweise - ein allgegenwärtiger und nicht wegzudenkender Teil des Lebens. Es ist ubiquitär. Und: auch der Mensch ist in diesem Geflecht gefangen. Auch er ist Objekt und Subjekt des Tötens auf der Welt.
Die belebte Natur tötet mit einer sehr viel größeren Regelmäßigkeit und Allgegenwärtigkeit. Ohne massenhaft anderes Leben auszulöschen kann der Frosch im Gartenteich ebenso wenig überleben wie der Hecht im Karpfenteich oder der Singvogel im Wald. Die natürlichen Nahrungsketten sind Ketten des Tötens und Getötetwerdens. Die Natur ist ein endloser Prozess des Tötens von Tieren durch andere Tiere - ein bellum omnium contra omnes. Nicht nur das Sterben, auch das Töten ist also - paradoxerweise - ein allgegenwärtiger und nicht wegzudenkender Teil des Lebens. Es ist ubiquitär. Und: auch der Mensch ist in diesem Geflecht gefangen. Auch er ist Objekt und Subjekt des Tötens auf der Welt.
Töten bedeutet ein Leben aktiv beenden. Üblich ist das Töten fremden Lebens. An was denken wir dabei zuerst: an Mord. Das ist aber voreilig. Das Töten ist ubiquitär, es ist Teil der Natur und überall vorhanden. Das Töten ist unter Tieren gang und gäbe, aber auch Pflanzen töten sich gegenseitig oder manchmal auch Tiere. Tiere wiederum töten Pflanzen und vor allem auch andere Tiere, manchmal auch Menschen. Menschen ihrerseits töten Pflanzen und Tiere und andere Menschen. Das Töten anderer Menschen erfolgt aus den verschiedensten Ursachen, auf die unterschiedlichsten Arten und wird sozial höchst unterschiedlich bewertet. Darauf werden wir noch zu sprechen kommen. Zunächst einmal halten wir fest: das Töten - also die aktive Beendigung fremden Lebens - ist ein allgemeines Phänomen. Es ist alltäglich und es ist durch und durch natürlich.


=== Der Mensch als Objekt des Tötens ===
=== Der Mensch als Objekt des Tötens ===
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Wenn wir von "den Menschen" sprechen, ist also immer Raum für viele Besonderheiten und Ausnahmen zuzugestehen. Das ist auch der Hoffnungsschimmer für die Zukunft. Doch müssen wir auch zugestehen: es waren nicht die Prinzipien des Jainismus, die den bisherigen Gang der Menschheitsgeschichte und insbesondere die Geschichte und Entwicklungsprinzipien des Tötens - seiner Förderung und seiner Kontrolle - maßgeblich bestimmten. Es waren andere. Und zwar folgende.
Wenn wir von "den Menschen" sprechen, ist also immer Raum für viele Besonderheiten und Ausnahmen zuzugestehen. Das ist auch der Hoffnungsschimmer für die Zukunft. Doch müssen wir auch zugestehen: es waren nicht die Prinzipien des Jainismus, die den bisherigen Gang der Menschheitsgeschichte und insbesondere die Geschichte und Entwicklungsprinzipien des Tötens - seiner Förderung und seiner Kontrolle - maßgeblich bestimmten. Es waren andere. Und zwar folgende.
:((Reste: Menschen müssen wenig, können aber viel. Sie verfügen über eine enorme Bandbreite möglichen Verhaltens. Deshalb müssen sie keine anderen Menschen töten, können es aber. Und tun es auch: nicht alle Menschen und nicht immerzu, aber doch mit einer mehr oder weniger vorhersehbaren Häufigkeit. Es gibt keinen Tag, an dem nicht Menschen andere Menschen umbringen. Manche dieser Taten sind Morde. Sie sind seltener als andere Formen des Tötens von Menschen, aber auch für sie gilt: es gibt keinen Tag, an dem nicht Menschen andere Menschen ermorden. Der Mord ragt als spektakuläre Tat aus der Normalität des Tötens heraus. Werfen wir einen Blick auf diese Normalität des Tötens. In der gesamten Welt wird andauernd getötet: da wird pflanzliches Leben beendet und da wird tierisches Leben beendet - sowohl von anderen Pflanzen als auch von anderen Tieren. Und von dem gefährlichsten aller Tiere, dem Menschen. Menschen töten nicht-menschliches Leben immerzu und sie töten auch - sehr viel seltener, aber trotzdem andauernd und auch nicht ganz selten - menschliches Leben. Menschen töten pflanzliches Leben schon beim Unkrautjäten. Sie töten tierisches Leben, wenn sie Motten, Mücken, Fliegen, Mäuse und Ratten erschlagen oder vergiften. Sie töten allein innerhalb der Europäischen Union (European Commission 2008) mehrere Milliarden Hühner und weiteres Geflügel und 360 Millionen Schweine, Schafe, Ziegen und Rinder für die Fleischerzeugung sowie 25 Millionen Tiere für die Pelzindustrie (pro Jahr). ))




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*Kontinuum von höchst erwünscht bis höchst missbilligt. Innerhalb des Bereichs der Missbilligung gibt es Abstufungen, also eine Hierarchie der Unerwünschtheit, bzw. eine Hierarchie der Ächtung.
*Kontinuum von höchst erwünscht bis höchst missbilligt. Innerhalb des Bereichs der Missbilligung gibt es Abstufungen, also eine Hierarchie der Unerwünschtheit, bzw. eine Hierarchie der Ächtung.
 
:Die schiere Bandbreite sozialer Werturteile birgt ein gewisses Potential an Wertungswidersprüchen und -konflikten, deren Aufbrechen und Ausufern nicht nur den ethischen, sondern auch den politisch-ideologischen und damit den machtmäßigen Status Quo der Gesellschaft gefährden könnte. Diesem Risiko begegnet in gewisser Weise die Trennung zwischen privater und politischer Moral. Nach dem Prinzip ''Quod licet Iovi non licet bovi'' kann dann zwar der Staat das Töten verlangen und belohnen, doch gilt für Privatpersonen nichtsdestotrotz der Satz: ''Du sollst nicht töten''. Eine Vielzahl von Ausnahmen und feinen Differenzierungen führt dazu, dass das soziale Bewertungskontinuum, das sich zwischen der verwerflichsten und der lobenswertesten Tötung erstreckt, letztlich dann aber doch nicht ganz deckungsgleich ist mit dem Kontinuum vom Privaten zum Öffentlichen: die Tötung aus privater Notwehr gilt zum Beispiel als achtens-, die extralegale Tötung von Zivilpersonen durch staatliche Akteure hingegen eher als ächtenswert. - Vor allem aber gibt es auch innerhalb der Klasse der sozial unerwünschten Tötungshandlungen noch erhebliche moralische Differenzierungen: wo die Tötung fahrlässig oder auf Verlangen des dann Getöteten erfolgte, wird sie generell weniger stark geächtet sein als dort, wo sie als Totschlag im Rahmen eines Eifersuchtsanfalls erfolgt oder gar ganz kaltblütig ein arg- und wehrloses Opfer langsam und qualvoll vom Leben zum Tode befördert. Für Taten vom Stile der letztgenannten Art haben die meisten Gesellschaften mittels besonderer Begriffe und Sanktionen eine von anderen Tötungsdelikten abgesonderte Klasse geschaffen, die als Inbegriff des größten Unrechts und der größten Schuld gilt, die ein Mensch auf sich laden kann. Insofern hat die Bezeichnung einer vorsätzlichen Tötung als Mord eine viel wuchtigere und metaphysisch aufgeladenere Bedeutung als wenn sie als Totschlag bezeichnet würde. - Welche Arten von Tötungen jeweils der Kategorie der höchsten Verwerflichkeit zugeordnet werden, unterscheidet sich nach Epochen, Kulturen und politischen Verhältnissen. Üblicherweise erfolgte (und erfolgt) die Abgrenzung im westlichen Kulturkreis mittels der Merkmale des Vorbedachts (im griechischen Alterum: ''ek pronoia'') und der Planung (''bouleusis'').
*Die Rangfolge innerhalb der Hierarchie der Unerwünschtheit ist umstritten. Sie ist Gegenstand von ideologischen Auseinandersetzungen, die sich bis durch die Instanzen ziehen. Abgrenzungsproblem Mord vs. Totschlag.
*Die Rangfolge innerhalb der Hierarchie der Unerwünschtheit ist umstritten. Sie ist Gegenstand von ideologischen Auseinandersetzungen, die sich bis durch die Instanzen ziehen. Abgrenzungsproblem Mord vs. Totschlag.


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*Verwerflichste Tötungen in der Gesetzestradition: Planung. Greift aber noch zu kurz: denn Krieg ist auch Planung. Also: individual-egoistische und effiziente (geplante) Tötung zu Lasten des Kollektivs. Anmaßung der Effizienz in der Selbsterhaltung auf individueller oder Mikro-Banden-Ebene. Wo die Bande größer ist, ist alles o.k.
*Verwerflichste Tötungen in der Gesetzestradition: Planung. Greift aber noch zu kurz: denn Krieg ist auch Planung. Also: individual-egoistische und effiziente (geplante) Tötung zu Lasten des Kollektivs. Anmaßung der Effizienz in der Selbsterhaltung auf individueller oder Mikro-Banden-Ebene. Wo die Bande größer ist, ist alles o.k.


*Besonderheiten: germanisches Recht. § 211.  
*Besonderheiten: germanisches Recht. § 211. In Deutschland herrscht allerdings insofern eine besondere Situation, als das hiesige Strafgesetz die Abgrenzung des Mordes vom Totschlag seit 1941 nicht mehr nach dem Merkmal der Überlegung vornimmt, sondern sich einer typisierenden Bewertung von Tatmotiven, Tatumständen und Tatzielen bedient. Zudem beschreibt das Gesetz seither nicht die Tat, sondern den Täter. "Mörder ist", heißt es in dem seit 1941 unveränderten, aus der nationalsozialistischen Tätertypenlehre stammenden Gesetzestext, "wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet." Die semantische Absonderung geht einher mit einer speziellen Sanktionsandrohung. In Deutschland erfolgt das dadurch, dass das Gesetz (völlig untypischerweise) bei Vorliegen eines Mordes die lebenslange Freiheitsstrafe als einzig mögliche Strafe zwingend vorschreibt. Der heutige Gesetzeswortlaut "Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft" gilt erst seit 1969 und geht über den seit 1953 geltenden Zwischenschritt "Der Mörder wird mit lebenslangem Zuchthaus bestraft" bis auf die 1941 eingeführte Formulierung zurück: "Der Mörder wird mit dem Tode bestraft." Zusätzlich kommt seit 1979 als symbolische Abgrenzung auch im Verhältnis zum Totschlag hinzu, dass Mord nicht mehr verjähren kann.


*Verboten ist nicht, dass der Mensch einen Menschen tötet, sondern dass ein Mensch auf eigene Rechnung ohne staatliche Billigung oder staatlichen Befehl einen Menschen tötet. Er soll nicht seinem Egoismus folgen, sondern der Autorität gehorchen. Wenn die sagt: töte, dann hat er zu töten; wenn die sagt: töte nicht, dann hat er nicht zu töten. Das höhere Gebot ist also der Gehorsam gegenüber Autorität.
*Verboten ist nicht, dass der Mensch einen Menschen tötet, sondern dass ein Mensch auf eigene Rechnung ohne staatliche Billigung oder staatlichen Befehl einen Menschen tötet. Er soll nicht seinem Egoismus folgen, sondern der Autorität gehorchen. Wenn die sagt: töte, dann hat er zu töten; wenn die sagt: töte nicht, dann hat er nicht zu töten. Das höhere Gebot ist also der Gehorsam gegenüber Autorität.


== Definitionsmächte und Definitionskonflikte ==
== Definitionsmächte und Definitionskonflikte ==
Welche Arten von Tötungshandlungen als besonders verwerflich gelten, ist immer auch Gegenstand sozialer und ideologischer Konflikte. Alte Eliten kämpfen gegen die Abwertung und neue für die Verankerung ihrer jeweiligen Moralvorstellungen im Strafgesetzbuch. So unterliegt das, was vom Gesetzgeber mit dem Anspruch der Allgemeinverbindlichkeit als Mord bezeichnet wird, letztlich auch dem Wandel der gesellschaftlichen Einstellungen und der politischen Machtverhältnisse. Daraus ergibt sich, dass zu jeder Zeit mehrere Begriffe des Mordes in einer Gesellschaft benutzt werden.


=== Ethische Normen und kollektive Forderungen (Moralunternehmer) ===
=== Ethische Normen und kollektive Forderungen (Moralunternehmer) ===
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=== Die staatlichen Kontrollinstanzen (Polizei, Justiz) ===
=== Die staatlichen Kontrollinstanzen (Polizei, Justiz) ===
*Labeling. Adorno.
*Labeling. Adorno.
 
*Die symbolisch also gleich mehrfach gesicherte Exzeptionalität des Mordes gegenüber allen anderen Tötungen und Tötungsdelikten dient der Markierung der moralischen Grenzen zur Abschreckung potentieller Täter ebenso wie zur Beruhigung der rechtstreuen Bevölkerung. Zwar erfolgt die Bestrafung des Mordes in der Praxis nicht schon immer dann quasi automatisch, wenn der Täter bekannt ist und seine Tat die Merkmale des Mordes erfüllt, weil letztlich jeder Schritt der Ermittlung, der Subsumtion und des Prozesses in unterschiedlichem Ausmaß mit Machtverhältnissen und Interessenkonstellationen zusammenhängt und es durchaus vorkommen kann, dass eine Tötungshandlung, die nach dem Buchstaben des Gesetzes als Mord zu qualifizieren wäre, durch die Machtkonstellation erfolgreich umetikettiert und als fahrlässige Tötung, wenn nicht als Unfall, bzw. Tod durch Krankheit oder Altersschwäche dargestellt werden kann. Ist allerdings eine Tötung erst einmal verbindlich als Mord qualifiziert und die Tat einem Individuum zugeordnet, dann ist die damit verbundene Statusdegradierung kaum je wieder reparierbar - und der Staat hat seine Entschlossenheit zur Verteidigung der moralischen Grenzen des Gemeinwesens unter Beweis gestellt.
=== Öffentliche Meinungen (Wissenschaft, Interessengruppen, Intellektuelle, Mahner) ===
=== Öffentliche Meinungen (Wissenschaft, Interessengruppen, Intellektuelle, Mahner) ===
*Für die Sozialwissenschaften geht es nicht darum, welche der vorfindlichen Definitionen die richtige ist, sondern darum, dass jede dieser Definitionen eine soziale Tatsache darstellt, die etwas über das Recht und die Ideologie, die Konflikte und die Probleme in Staat und Gesellschaft aussagen kann. Die gesetzliche Definition des Mordes ist nicht nur deshalb besonders relevant, weil hinter ihrem Allgemeinverbindlichkeitsanspruch die Macht des Staatsapparates steht, sondern auch deshalb, weil sie etwas über die Herrschaftsverhältnisse und die herrschende Ideologie einer Zeit Auskunft gibt. Die Diskrepanz zwischen der gesetzlichen Definition des Mordes einerseits und konkurrierenden Definitionen in gesellschaftlichen Gruppen und sozialen Bewegungen andererseits kann Aufschluss geben über konfligierende Werte in der Gesellschaft, über Tendenzen sozialen und politischen Wandels und vieles mehr: konservative Kreise kämpfen für das ungeborene menschliche Leben und gegen ihren eigenen gesellschaftlichen Einflussverlust mit Kampagnen gegen den "Massenmord an ungeborenen Kindern"; eine zunehmende Zahl von Menschen sieht inzwischen auch ethische Probleme im Umgang mit anderen Lebewesen und verlangt die Ächtung dessen, was sie als "Mord an Tieren" bezeichnet (vgl. dazu Hoerster 2007); legale Hinrichtungen werden hingegen seit langer Zeit von kritischen Geistern als kalte Grausamkeit und "staatlicher Mord" verurteilt; eine ähnliche Delegitimierung staatlichen Tötens beabsichtigt auch der Ausdruck "Soldaten sind Mörder". Hier wie anderswo manifestiert sich ein Unbehagen an dem, was als Heuchelei und Doppelmoral einer gespaltenen Tötungsethik erscheint. Hinter derlei "Streit um Worte" stehen Konflikte von Lebensstilen, Ethiken und ganzen gesellschaftlichen Segmenten um die Frage, wessen Werte als allgemein verbindlich zu gelten haben. Eine selbstbewußter werdende Bürgergesellschaft sieht sich nicht mehr als Untertan des Staates, sondern diesen als eine Organisation im Dienste der Bürger - und würde ihm also am liebsten die Gesellschaftsmoral des Tötungsverbots oktroyieren. All diese Phänomene zeigen, dass es eine Differenz gibt zwischen den herrschenden Überzeugungen, wie sie im positiven Recht verankert sind, und den Werten und Normen gesellschaftlicher Gruppen, Bewegungen oder Subsysteme, aus denen historisch gesehen immer wieder auch rechtlicher Wandel entsteht. Insofern sensibilisieren diese Definitionen nicht nur für ethisch-ideologische Differenzen zwischen Herrschenden und Beherrschten, sondern sie gewähren auch einen Blick auf die Spannbreite dessen, was die Zukunft prägen könnte.
*Unentdeckte oder nicht-verfolgte Taten. Eigene Subsumtion. Weltgewissen. Weiße Rose. Oft haben die Recht, weil die Vertreter der Institutionen zum Lügen genötigt sind, die Mahner aber nicht. Becker.   
*Unentdeckte oder nicht-verfolgte Taten. Eigene Subsumtion. Weltgewissen. Weiße Rose. Oft haben die Recht, weil die Vertreter der Institutionen zum Lügen genötigt sind, die Mahner aber nicht. Becker.   
Eine weitere Diskrepanz besteht zwischen dem, was einerseits von Polizei und Justiz als Mord registriert und deshalb auch in die Statistiken eingespeist wird - und dem, was von anderen als den offiziell dazu berufenen Stellen als Mord angesehen wird. Viele Tötungen, die Mordmerkmale aufweisen, verbleiben im Dunkelfeld. Sie erreichen gar nicht erst die Polizei oder gar die Gerichte. Dennoch werden sie von den Opfern (oder sogar von den Tätern), von Journalisten oder Wissenschaftlern als solche wahrgenommen, beschrieben, bezeichnet und analysiert. Diese Definitionen sind oft unklarer und unsicherer als diejenigen von Gerichten (aber auch die sind oft nicht so solide, wie sie scheinen). Viele aber sind - auch wenn sie nicht vor Gericht landen - nicht weniger real und nicht weniger scheußlich als vor Gericht abgehandelte und formell als Mord definierte Tötungen. Dass diese (theoretisch in Howard S. Beckers Kategorie des „rule-breaking behavior“, bzw. in Michel Foucaults Konzept der „illégalismes“ gehörenden) Morde im Dunkelfeld, die "nur" informell so definiert werden, nicht als Morde in Gerichtsurteilen auftauchen, macht sie jedenfalls nicht schon deshalb weniger real oder gar weniger verwerflich. Oft sind es sogar die gravierendsten Taten, die im Dunkelfeld verbleiben. Denn je näher die Täter an der Macht operieren und je brutaler sind sie, desto größer ihr korruptiver und einschüchternder Einfluss und desto größer auch ihre Chance, sich der formellen Definition ihrer Taten als Mord für lange Zeit oder für immer zu entziehen. Wenn zum Beispiel die Opfer eines Massakers gefunden werden und die Funde keinen Zweifel daran lassen, dass hier unbewaffnete Zivilisten grausam zu Tode gebracht wurden, wenn aber die mutmaßlichen Täter längst gestorben oder aus anderen Gründen nicht zu belangen sind, dann können sie in keiner Polizei- oder Verurteiltenstatistik auftauchen - und doch wäre es absurd, die entsprechenden Individuen (man denke an diktatorische Staatsführungen des 20. Jahrhunderts, die nie zur Rechenschaft gezogen werden konnten) aus jeder kriminologischen Betrachtung auszuklammern, auch wenn die von Historikern zusammengetragenen Belege erdrückende Beweise für ihre Verantwortlichkeit liefern. Wer vom Mord spricht, ist deshalb gut beraten, seinen Blick auf die Welt nicht dadurch unnötig einzuschränken, dass er sich ausschließlich auf solche Taten und Akteure beschränkt, die von ordentlichen Gerichten rechtskräftig verurteilt wurden. Keine der vier Definitionen hat die Wahrheit gepachtet und keine ist - wenn man sie mit Vorsicht behandelt - als Erkenntnisquelle völlig zu entbehren.
Eine weitere Diskrepanz besteht zwischen dem, was einerseits von Polizei und Justiz als Mord registriert und deshalb auch in die Statistiken eingespeist wird - und dem, was von anderen als den offiziell dazu berufenen Stellen als Mord angesehen wird. Viele Tötungen, die Mordmerkmale aufweisen, verbleiben im Dunkelfeld. Sie erreichen gar nicht erst die Polizei oder gar die Gerichte. Dennoch werden sie von den Opfern (oder sogar von den Tätern), von Journalisten oder Wissenschaftlern als solche wahrgenommen, beschrieben, bezeichnet und analysiert. Diese Definitionen sind oft unklarer und unsicherer als diejenigen von Gerichten (aber auch die sind oft nicht so solide, wie sie scheinen). Viele aber sind - auch wenn sie nicht vor Gericht landen - nicht weniger real und nicht weniger scheußlich als vor Gericht abgehandelte und formell als Mord definierte Tötungen. Dass diese (theoretisch in Howard S. Beckers Kategorie des „rule-breaking behavior“, bzw. in Michel Foucaults Konzept der „illégalismes“ gehörenden) Morde im Dunkelfeld, die "nur" informell so definiert werden, nicht als Morde in Gerichtsurteilen auftauchen, macht sie jedenfalls nicht schon deshalb weniger real oder gar weniger verwerflich. Oft sind es sogar die gravierendsten Taten, die im Dunkelfeld verbleiben. Denn je näher die Täter an der Macht operieren und je brutaler sind sie, desto größer ihr korruptiver und einschüchternder Einfluss und desto größer auch ihre Chance, sich der formellen Definition ihrer Taten als Mord für lange Zeit oder für immer zu entziehen. Wenn zum Beispiel die Opfer eines Massakers gefunden werden und die Funde keinen Zweifel daran lassen, dass hier unbewaffnete Zivilisten grausam zu Tode gebracht wurden, wenn aber die mutmaßlichen Täter längst gestorben oder aus anderen Gründen nicht zu belangen sind, dann können sie in keiner Polizei- oder Verurteiltenstatistik auftauchen - und doch wäre es absurd, die entsprechenden Individuen (man denke an diktatorische Staatsführungen des 20. Jahrhunderts, die nie zur Rechenschaft gezogen werden konnten) aus jeder kriminologischen Betrachtung auszuklammern, auch wenn die von Historikern zusammengetragenen Belege erdrückende Beweise für ihre Verantwortlichkeit liefern. Wer vom Mord spricht, ist deshalb gut beraten, seinen Blick auf die Welt nicht dadurch unnötig einzuschränken, dass er sich ausschließlich auf solche Taten und Akteure beschränkt, die von ordentlichen Gerichten rechtskräftig verurteilt wurden. Keine der vier Definitionen hat die Wahrheit gepachtet und keine ist - wenn man sie mit Vorsicht behandelt - als Erkenntnisquelle völlig zu entbehren.
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== Die Tötung trotz Verbots ==
== Die Tötung trotz Verbots ==
*Je weniger Definitionsmächte verbieten: desto eher wird übertreten.  
*Je weniger Definitionsmächte verbieten: desto eher wird übertreten.
 
=== Häufigkeit, Erscheinungsformen, Motive ===
=== Häufigkeit, Erscheinungsformen, Motive ===
*konventionelles Wissen vs. Wayne Morrison
*konventionelles Wissen vs. Wayne Morrison
*Die Seltenheit des Mordes in Europa. Problem: falsche Todesursachenermittlung
*Die Seltenheit des Mordes in Europa. Problem: falsche Todesursachenermittlung Entwicklung der Mordrate in Honduras. Drogenkonsum in entwickelten Ländern. Die Kosten zahlen die anderen.
*Die Nichtverfügbarkeit (elusiveness) des Mordes
*Die Nichtverfügbarkeit (elusiveness) des Mordes
Je näher man dem Mord zu kommen versucht, desto mehr entzieht er sich. Im Englischen gibt es für dieses Phänomen das schöne Wort ''elusiveness'', das allerdings mit ausweichendem Verhalten, Nichtkategorisierbarkeit und Undefinierbarkeit noch nicht die richtigen Übersetzungen gefunden hat. Einen Eindruck von diesem Phänomen vermittelt die Kriminalstatistik. In ihr zählt die Polizei die Delikte. Zählt sie aber auch die Morde? Das traut sie sich nicht zu. Es scheint doch schwer zu unterscheiden, was ein Mord ist - und was ein Totschlag.
Je näher man dem Mord zu kommen versucht, desto mehr entzieht er sich. Im Englischen gibt es für dieses Phänomen das schöne Wort ''elusiveness'', das allerdings mit ausweichendem Verhalten, Nichtkategorisierbarkeit und Undefinierbarkeit noch nicht die richtigen Übersetzungen gefunden hat. Einen Eindruck von diesem Phänomen vermittelt die Kriminalstatistik. In ihr zählt die Polizei die Delikte. Zählt sie aber auch die Morde? Das traut sie sich nicht zu. Es scheint doch schwer zu unterscheiden, was ein Mord ist - und was ein Totschlag.
 
Die Heterogenität des Begriffsinhalts von Mord führt dazu, dass vergleichende Forschungen lieber auf die Kategorie der vorsätzlichen Tötungen ausweichen (Homizide) und gar nicht erst versuchen, den Mord im engeren Sinne zum Gegenstand historischer und interkultureller Komparatistik zu machen. Das ist insofern unglücklich, als man die Abgrenzungsfragen nur verlagert - und sich vor allem aber die Möglichkeit einer fokussierten Erforschung speziell der extremen Formen menschlicher Grausamkeit von vornherein verbaut.
Also zählt man "Mord und Totschlag" in einer Kategorie. Und Versuche und vollendete Delikte auch noch dazu. Um die Versuche dann nachträglich wieder herauszurechnen. Aber die Morde werden aus den vorsätzlichen Tötungsdelikten nicht wieder isoliert. So weiß man nicht: wie viel Morde werden eigentlich in Deutschland, in den USA, auf der Welt an einem Tag, in einer Woche, in einem Jahr begangen?  
Also zählt man "Mord und Totschlag" in einer Kategorie. Und Versuche und vollendete Delikte auch noch dazu. Um die Versuche dann nachträglich wieder herauszurechnen. Aber die Morde werden aus den vorsätzlichen Tötungsdelikten nicht wieder isoliert. So weiß man nicht: wie viel Morde werden eigentlich in Deutschland, in den USA, auf der Welt an einem Tag, in einer Woche, in einem Jahr begangen?  


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*Dunkelfelduntersuchungen
*Dunkelfelduntersuchungen


Töten bedeutet ein Leben aktiv beenden. Üblich ist das Töten fremden Lebens. An was denken wir dabei zuerst: an Mord. Das ist aber voreilig. Das Töten ist ubiquitär, es ist Teil der Natur und überall vorhanden. Das Töten ist unter Tieren gang und gäbe, aber auch Pflanzen töten sich gegenseitig oder manchmal auch Tiere. Tiere wiederum töten Pflanzen und vor allem auch andere Tiere, manchmal auch Menschen. Menschen ihrerseits töten Pflanzen und Tiere und andere Menschen. Das Töten anderer Menschen erfolgt aus den verschiedensten Ursachen, auf die unterschiedlichsten Arten und wird sozial höchst unterschiedlich bewertet. Darauf werden wir noch zu sprechen kommen. Zunächst einmal halten wir fest: das Töten - also die aktive Beendigung fremden Lebens - ist ein allgemeines Phänomen. Es ist alltäglich und es ist durch und durch natürlich.


:Das gilt nicht ohne Weiteres für die Selbst-Tötung. Der [[Suizid]] ist eine Besonderheit, die vor allem die Menschen betrifft und auf der Welt gegenwärtig so etwa eine Million Mal pro Jahr vorkommt. In Europa gibt es pro Jahr 120.000 Suizide, davon betreffen 80% Männer. Suizidversuche sind etwa 20 mal so häufig und bei denen ist das Geschlechterverhältnis ausgeglichener. In Deutschland gibt es etwa doppelt so viele Suizide wie Todesfälle durch Verkehrsunfälle - rund 10.000 zu 5.000. Nach fast einer Generation zurückgehender Suizid-Raten gehen sie in letzter Zeit wieder hoch. Aber das ist ein anderes Thema.   
:Das gilt nicht ohne Weiteres für die Selbst-Tötung. Der [[Suizid]] ist eine Besonderheit, die vor allem die Menschen betrifft und auf der Welt gegenwärtig so etwa eine Million Mal pro Jahr vorkommt. In Europa gibt es pro Jahr 120.000 Suizide, davon betreffen 80% Männer. Suizidversuche sind etwa 20 mal so häufig und bei denen ist das Geschlechterverhältnis ausgeglichener. In Deutschland gibt es etwa doppelt so viele Suizide wie Todesfälle durch Verkehrsunfälle - rund 10.000 zu 5.000. Nach fast einer Generation zurückgehender Suizid-Raten gehen sie in letzter Zeit wieder hoch. Aber das ist ein anderes Thema.   
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'''These 1''' lautet demzufolge: das Töten fremden Lebens ist Teil des Lebens selbst. Dies gilt in besonderem Maße für die Fauna. Tiere töten Tiere und Pflanzen und Menschen, Menschen töten Tiere und Pflanzen und andere Menschen.
'''These 1''' lautet demzufolge: das Töten fremden Lebens ist Teil des Lebens selbst. Dies gilt in besonderem Maße für die Fauna. Tiere töten Tiere und Pflanzen und Menschen, Menschen töten Tiere und Pflanzen und andere Menschen.


=== Neue Perspektiven ===
== Eine neue Kriminologie des Mordes? ==
*Schwerpunkte der Forschung
*Schwerpunkte der Forschung: Atlas des Tötens. Erstmal ohne Legalitätsfragen. Damit man sie eigens  bearbeiten kann. Und nicht alle wichtigen Fragen implizit vorher löst.
*Mut zur Subsumtion
*Befreiung vom Solipsismus des Labeling. Und von der Bestärkung des Status Quo durch den Labeling.
*Wayne Morrison
*Theoretische Konsequenzen (wie bei Repressivem Verbrechen)
 
*Mut zur Subsumtion ist das Wichtigste. Für die Kriminologie. Sich nicht an die offiziellen Statistiken zu halten. Sondern Mord Mord nennen, auch wenn das gegen die lokalen oder internationalen öffentlichen Meinungen geht. Und andererseits nicht alles Mord nennen, was vielleicht legitimer Widerstand gegen Mord ist.
*Wayne Morrison. Völkerrecht: Hankel. Auch im Krieg nicht töten. Dialektik des Westens: einerseits Inklusion ("Mord an Tieren"), andererseits Angriffskriege. Aggressive Leitstaaten. Bush und Blair. Tutu. Mit Nürnberg hat man der Wissenschaft einen Floh ins Ohr gesetzt.
*Heute gibt es keine Todesstrafe wie bei der Weißen Rose. Aber wie man bei Collateral Murder sieht. Es gibt die Angst vor einem Zwischenreich. Doppelstaat. Assange. Zwischenreich.


== Literatur ==
== Literatur ==
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*[http://www.ingo-froboese.de/artikel/detail/sport-ist-mord-breitensport-ist-massenmord.html Dr. Ingo Froboese: Sport ist Mord, Breitensport ist Massenmord (2011)]
*[http://www.ingo-froboese.de/artikel/detail/sport-ist-mord-breitensport-ist-massenmord.html Dr. Ingo Froboese: Sport ist Mord, Breitensport ist Massenmord (2011)]
== Reste ==
Völkerrecht: Hankel. Auch im Krieg nicht töten.
Ächtung und Sanktion.
Paradox der Todesstrafe.
Dialektik des Westens: einerseits Inklusion ("Mord an Tieren"), andererseits Angriffskriege. Aggressive Leitstaaten. Bush und Blair. Tutu.
Mit Nürnberg hat man der Wissenschaft einen Floh ins Ohr gesetzt.
Aber die Politik spricht nicht mehr viel davon.l
Sie müßte sich als Angriffskrieger selbst vor Gericht zerren.
Entwicklung der Mordrate in Honduras.
Drogenkonsum in entwickelten Ländern. Die Kosten zahlen die anderen.
Menschen müssen wenig, können aber viel. Sie verfügen über eine enorme Bandbreite möglichen Verhaltens. Deshalb müssen sie keine anderen Menschen töten, können es aber. Und tun es auch: nicht alle Menschen und nicht immerzu, aber doch mit einer mehr oder weniger vorhersehbaren Häufigkeit. Es gibt keinen Tag, an dem nicht Menschen andere Menschen umbringen. Manche dieser Taten sind Morde. Sie sind seltener als andere Formen des Tötens von Menschen, aber auch für sie gilt: es gibt keinen Tag, an dem nicht Menschen andere Menschen ermorden.
Der Mord ragt als spektakuläre Tat aus der Normalität des Tötens heraus. Werfen wir einen Blick auf diese Normalität des Tötens. In der gesamten Welt wird andauernd getötet: da wird pflanzliches Leben beendet und da wird tierisches Leben beendet - sowohl von anderen Pflanzen als auch von anderen Tieren. Und von dem gefährlichsten aller Tiere, dem Menschen. Menschen töten nicht-menschliches Leben immerzu und sie töten auch - sehr viel seltener, aber trotzdem andauernd und auch nicht ganz selten - menschliches Leben. Menschen töten pflanzliches Leben schon beim Unkrautjäten. Sie töten tierisches Leben, wenn sie Motten, Mücken, Fliegen, Mäuse und Ratten erschlagen oder vergiften. Sie töten allein innerhalb der Europäischen Union (European Commission 2008) mehrere Milliarden Hühner und weiteres Geflügel und 360 Millionen Schweine, Schafe, Ziegen und Rinder für die Fleischerzeugung sowie 25 Millionen Tiere für die Pelzindustrie (pro Jahr).
Die schiere Bandbreite sozialer Werturteile birgt ein gewisses Potential an Wertungswidersprüchen und -konflikten, deren Aufbrechen und Ausufern nicht nur den ethischen, sondern auch den politisch-ideologischen und damit den machtmäßigen Status Quo der Gesellschaft gefährden könnte. Diesem Risiko begegnet in gewisser Weise die Trennung zwischen privater und politischer Moral. Nach dem Prinzip ''Quod licet Iovi non licet bovi'' kann dann zwar der Staat das Töten verlangen und belohnen, doch gilt für Privatpersonen nichtsdestotrotz der Satz: ''Du sollst nicht töten''. Eine Vielzahl von Ausnahmen und feinen Differenzierungen führt dazu, dass das soziale Bewertungskontinuum, das sich zwischen der verwerflichsten und der lobenswertesten Tötung erstreckt, letztlich dann aber doch nicht ganz deckungsgleich ist mit dem Kontinuum vom Privaten zum Öffentlichen: die Tötung aus privater Notwehr gilt zum Beispiel als achtens-, die extralegale Tötung von Zivilpersonen durch staatliche Akteure hingegen eher als ächtenswert.
Vor allem aber gibt es auch innerhalb der Klasse der sozial unerwünschten Tötungshandlungen noch erhebliche moralische Differenzierungen: wo die Tötung fahrlässig oder auf Verlangen des dann Getöteten erfolgte, wird sie generell weniger stark geächtet sein als dort, wo sie als Totschlag im Rahmen eines Eifersuchtsanfalls erfolgt oder gar ganz kaltblütig ein arg- und wehrloses Opfer langsam und qualvoll vom Leben zum Tode befördert. Für Taten vom Stile der letztgenannten Art haben die meisten Gesellschaften mittels besonderer Begriffe und Sanktionen eine von anderen Tötungsdelikten abgesonderte Klasse geschaffen, die als Inbegriff des größten Unrechts und der größten Schuld gilt, die ein Mensch auf sich laden kann. Insofern hat die Bezeichnung einer vorsätzlichen Tötung als Mord eine viel wuchtigere und metaphysisch aufgeladenere Bedeutung als wenn sie als Totschlag bezeichnet würde.
Welche Arten von Tötungen jeweils der Kategorie der höchsten Verwerflichkeit zugeordnet werden, unterscheidet sich nach Epochen, Kulturen und politischen Verhältnissen. Üblicherweise erfolgte (und erfolgt) die Abgrenzung im westlichen Kulturkreis mittels der Merkmale des Vorbedachts (im griechischen Alterum: ''ek pronoia'') und der Planung (''bouleusis'').
In Deutschland herrscht allerdings insofern eine besondere Situation, als das hiesige Strafgesetz die Abgrenzung des Mordes vom Totschlag seit 1941 nicht mehr nach dem Merkmal der Überlegung vornimmt, sondern sich einer typisierenden Bewertung von Tatmotiven, Tatumständen und Tatzielen bedient. Zudem beschreibt das Gesetz seither nicht die Tat, sondern den Täter. "Mörder ist", heißt es in dem seit 1941 unveränderten, aus der nationalsozialistischen Tätertypenlehre stammenden Gesetzestext, "wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet." Die semantische Absonderung geht einher mit einer speziellen Sanktionsandrohung. In Deutschland erfolgt das dadurch, dass das Gesetz (völlig untypischerweise) bei Vorliegen eines Mordes die lebenslange Freiheitsstrafe als einzig mögliche Strafe zwingend vorschreibt. Der heutige Gesetzeswortlaut "Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft" gilt erst seit 1969 und geht über den seit 1953 geltenden Zwischenschritt "Der Mörder wird mit lebenslangem Zuchthaus bestraft" bis auf die 1941 eingeführte Formulierung zurück: "Der Mörder wird mit dem Tode bestraft." Zusätzlich kommt seit 1979 als symbolische Abgrenzung auch im Verhältnis zum Totschlag hinzu, dass Mord nicht mehr verjähren kann.
Die symbolisch also gleich mehrfach gesicherte Exzeptionalität des Mordes gegenüber allen anderen Tötungen und Tötungsdelikten dient der Markierung der moralischen Grenzen zur Abschreckung potentieller Täter ebenso wie zur Beruhigung der rechtstreuen Bevölkerung. Zwar erfolgt die Bestrafung des Mordes in der Praxis nicht schon immer dann quasi automatisch, wenn der Täter bekannt ist und seine Tat die Merkmale des Mordes erfüllt, weil letztlich jeder Schritt der Ermittlung, der Subsumtion und des Prozesses in unterschiedlichem Ausmaß mit Machtverhältnissen und Interessenkonstellationen zusammenhängt und es durchaus vorkommen kann, dass eine Tötungshandlung, die nach dem Buchstaben des Gesetzes als Mord zu qualifizieren wäre, durch die Machtkonstellation erfolgreich umetikettiert und als fahrlässige Tötung, wenn nicht als Unfall, bzw. Tod durch Krankheit oder Altersschwäche dargestellt werden kann. Ist allerdings eine Tötung erst einmal verbindlich als Mord qualifiziert und die Tat einem Individuum zugeordnet, dann ist die damit verbundene Statusdegradierung kaum je wieder reparierbar - und der Staat hat seine Entschlossenheit zur Verteidigung der moralischen Grenzen des Gemeinwesens unter Beweis gestellt.
Die Heterogenität des Begriffsinhalts von Mord führt dazu, dass vergleichende Forschungen lieber auf die Kategorie der vorsätzlichen Tötungen ausweichen (Homizide) und gar nicht erst versuchen, den Mord im engeren Sinne zum Gegenstand historischer und interkultureller Komparatistik zu machen. Das ist insofern unglücklich, als man die Abgrenzungsfragen nur verlagert - und sich vor allem aber die Möglichkeit einer fokussierten Erforschung speziell der extremen Formen menschlicher Grausamkeit von vornherein verbaut.
 
Welche Arten von Tötungshandlungen als besonders verwerflich gelten, ist immer auch Gegenstand sozialer und ideologischer Konflikte. Alte Eliten kämpfen gegen die Abwertung und neue für die Verankerung ihrer jeweiligen Moralvorstellungen im Strafgesetzbuch. So unterliegt das, was vom Gesetzgeber mit dem Anspruch der Allgemeinverbindlichkeit als Mord bezeichnet wird, letztlich auch dem Wandel der gesellschaftlichen Einstellungen und der politischen Machtverhältnisse. Daraus ergibt sich, dass zu jeder Zeit mehrere Begriffe des Mordes in einer Gesellschaft benutzt werden.
Für die Sozialwissenschaften geht es nicht darum, welche der vorfindlichen Definitionen die richtige ist, sondern darum, dass jede dieser Definitionen eine soziale Tatsache darstellt, die etwas über das Recht und die Ideologie, die Konflikte und die Probleme in Staat und Gesellschaft aussagen kann. Die gesetzliche Definition des Mordes ist nicht nur deshalb besonders relevant, weil hinter ihrem Allgemeinverbindlichkeitsanspruch die Macht des Staatsapparates steht, sondern auch deshalb, weil sie etwas über die Herrschaftsverhältnisse und die herrschende Ideologie einer Zeit Auskunft gibt. Die Diskrepanz zwischen der gesetzlichen Definition des Mordes einerseits und konkurrierenden Definitionen in gesellschaftlichen Gruppen und sozialen Bewegungen andererseits kann Aufschluss geben über konfligierende Werte in der Gesellschaft, über Tendenzen sozialen und politischen Wandels und vieles mehr: konservative Kreise kämpfen für das ungeborene menschliche Leben und gegen ihren eigenen gesellschaftlichen Einflussverlust mit Kampagnen gegen den "Massenmord an ungeborenen Kindern"; eine zunehmende Zahl von Menschen sieht inzwischen auch ethische Probleme im Umgang mit anderen Lebewesen und verlangt die Ächtung dessen, was sie als "Mord an Tieren" bezeichnet (vgl. dazu Hoerster 2007); legale Hinrichtungen werden hingegen seit langer Zeit von kritischen Geistern als kalte Grausamkeit und "staatlicher Mord" verurteilt; eine ähnliche Delegitimierung staatlichen Tötens beabsichtigt auch der Ausdruck "Soldaten sind Mörder". Hier wie anderswo manifestiert sich ein Unbehagen an dem, was als Heuchelei und Doppelmoral einer gespaltenen Tötungsethik erscheint. Hinter derlei "Streit um Worte" stehen Konflikte von Lebensstilen, Ethiken und ganzen gesellschaftlichen Segmenten um die Frage, wessen Werte als allgemein verbindlich zu gelten haben. Eine selbstbewußter werdende Bürgergesellschaft sieht sich nicht mehr als Untertan des Staates, sondern diesen als eine Organisation im Dienste der Bürger - und würde ihm also am liebsten die Gesellschaftsmoral des Tötungsverbots oktroyieren. All diese Phänomene zeigen, dass es eine Differenz gibt zwischen den herrschenden Überzeugungen, wie sie im positiven Recht verankert sind, und den Werten und Normen gesellschaftlicher Gruppen, Bewegungen oder Subsysteme, aus denen historisch gesehen immer wieder auch rechtlicher Wandel entsteht. Insofern sensibilisieren diese Definitionen nicht nur für ethisch-ideologische Differenzen zwischen Herrschenden und Beherrschten, sondern sie gewähren auch einen Blick auf die Spannbreite dessen, was die Zukunft prägen könnte.
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