Der Mord im Zusammenhang des Tötens: Unterschied zwischen den Versionen

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Fragt man eine Kriminologin: was ist eigentlich ein Verbrechen? Dann erhält man zur Antwort: Das kommt darauf an. Es kommt darauf an, in welcher Epoche und wo genau sich jemand befindet und was er dort tut und wie das dort bewertet wird. Oder man erhält zur Antwort die Gegenfrage: meinen Sie ein natürliches Verbrechen, ein malum in se - oder ein malum mere prohibitum? Wenn Ersteres, dann ist ein Verbrechen jedes Verhalten, das grundlegende moralische Empfindungen des Mitleids (pietà) oder der Redlichkeit (probità) verletzt und dementsprechend Abscheu erregt: "Il delitto sociale o naturale è una lesione de quella parte del senso morale, che consiste nei sentimenti altruistici fondamentali (pietà e probità)" (Garofalo 1885: 30).
Fragt man eine Kriminologin: was ist eigentlich ein Verbrechen? Dann erhält man zur Antwort: Das kommt darauf an. Es kommt darauf an, in welcher Epoche und wo genau sich jemand befindet und was er dort tut und wie das dort bewertet wird. Oder man erhält zur Antwort die Gegenfrage: meinen Sie ein natürliches Verbrechen, ein malum in se - oder ein malum mere prohibitum? Wenn Ersteres, dann ist ein Verbrechen jedes Verhalten, das grundlegende moralische Empfindungen des Mitleids (pietà) oder der Redlichkeit (probità) verletzt und dementsprechend Abscheu erregt: "Il delitto sociale o naturale è una lesione de quella parte del senso morale, che consiste nei sentimenti altruistici fondamentali (pietà e probità)" (Garofalo 1885: 30).


Fragen Sie nie eine Biologin nach dem Begriff des Lebens, nie einen Volkswirt nach dem Begriff des Geldes, schon gar nicht eine Theologin nach dem Gottesbegriff und am besten nie und nimmer einen Kriminologen nach dem Begriff des Verbrechens.


Sie ein natürliches Verbrechen meinen, dann Fragte man hingegen außerhalb des Universitätsgeländes zehn beliebige Passanten: Was ist ein Verbrechen? Dann antworteten wahrscheinlich die meisten nicht mit einer Definition, sondern mit einem Beispiel: "'Ein Verbrechen, das ist zum Beispiel ein Mord.' Die Häufigkeit dieser Antwort steht in keinem Verhältnis zur Kriminalstatistik, in der ganz andere Delikte die Hauptrolle spielen. Obwohl er relativ selten ist, spielt der Mord im allgemeinen Bewußtsein eine Schlüsselrolle. Kraft seines Beispiels wird überhaupt erst verstanden, was ein Verbrechen ist" (Enzensberger 1964: 10).
Gehen wir lieber raus aus dem Univiertel und fragen Leute, die wir auf der Strasse treffen. Die werden dann wahrscheinlich nicht mit einer Definition, sondern mit einem Beispiel antworten. "'Ein Verbrechen, das ist zum Beispiel ein Mord.' Die Häufigkeit dieser Antwort steht in keinem Verhältnis zur Kriminalstatistik, in der ganz andere Delikte die Hauptrolle spielen. Obwohl er relativ selten ist, spielt der Mord im allgemeinen Bewußtsein eine Schlüsselrolle. Kraft seines Beispiels wird überhaupt erst verstanden, was ein Verbrechen ist" (Enzensberger 1964: 10).


Zusammen mit seinem kleinen Bruder, dem Totschlag, öffnet uns der Mord einen Spalt breit die Tür in eine andere Welt jenseits der Alltagsroutine: die Welt von Blut und Gewalt, von Grenzerfahrungen, ungebremster Aggression und teuflischer Grausamkeit. Es ist die Welt der vermischten Nachrichten aus aller Welt, des Traums, des Theaters, der Dokumentarfilme und des sonntäglichen Tatort-Krimis. Unser Gedanken- und Gefühlshaushalt scheint die Befassung mit der Grausamkeit als Kontrastfolie zu benötigen: einerseits als ''divertimento'', also als Nervenkitzel, um sich vor "tödlicher Langeweile" zu bewahren, andererseits aber auch als eine - zum Glück - in die Sphäre der Repräsentation verlagerte psychohygienische Abfuhr konfligierender emotionaler Unruhezustände, als Katharsis eines auch vielen Experten immer noch rätselhaften Angst-Aggressions-Lust-Komplexes. Die Repräsentationen der Gewalt werden intensiv verbreitet, sie werden aber auch zugleich wie süchtig konsumiert - und wie der Leibhaftige geächtet. Gewaltdarstellungen in den Medien werden kritisch bewertet, für die reale Gewalt verantwortlich gemacht und müssen oft genug als Sündenböcke herhalten. Das ist nicht ganz gerecht und übersieht regelmäßig die womöglich für jede Gesellschaft überlebensnotwendige Funktion symbolischer Gewaltarbeit (Schäffauer 2011). Das scheint mir auch und besonders für die filmische und literarische Befassung mit der Figur des Serienkillers zu gelten - eine populäre Ikone, die so viele Ambivalenzen bündelt, dass sie selbst in der Wissenschaft Stirnrunzeln hervorruft; was genau es ist, was eine Rezeption und Durcharbeitung des medialen wie des realen Phänomens blockiert, kann ich an dieser Stelle nicht weiter untersuchen. Bei vielen Serienmördern in der Realität jedenfalls war immer wieder festzustellen, dass ihnen die Fähigkeit zur Differenzierung zwischen materieller und symbolischer Realität abging. Vereinfacht ausgedrückt: wo andere die Dinge im Traum, im künstlerischen Ausdruck oder in anderer sublimierter Form ausdrücken, müssen sie den Akt selbst ausführen. Vielleicht ist es der Verlust an Symbolisierungsfähigkeit, der uns Angst macht; jedenfalls kann man sagen: je deutlicher die realen Konsequenzen dieses Verlustes hervortreten, desto gründlicher werden sie ignoriert.  
:Zusammen mit seinem kleinen Bruder, dem Totschlag, öffnet uns der Mord einen Spalt breit die Tür in eine andere Welt jenseits der Alltagsroutine: die Welt von Blut und Gewalt, von Grenzerfahrungen, ungebremster Aggression und teuflischer Grausamkeit. Es ist die Welt der vermischten Nachrichten aus aller Welt, des Traums, des Theaters, der Dokumentarfilme und des sonntäglichen Tatort-Krimis. Unser Gedanken- und Gefühlshaushalt scheint die Befassung mit der Grausamkeit als Kontrastfolie zu benötigen: einerseits als ''divertimento'', also als Nervenkitzel, um sich vor "tödlicher Langeweile" zu bewahren, andererseits aber auch als eine - zum Glück - in die Sphäre der Repräsentation verlagerte psychohygienische Abfuhr konfligierender emotionaler Unruhezustände, als Katharsis eines auch vielen Experten immer noch rätselhaften Angst-Aggressions-Lust-Komplexes. Die Repräsentationen der Gewalt werden intensiv verbreitet, sie werden aber auch zugleich wie süchtig konsumiert - und wie der Leibhaftige geächtet. Gewaltdarstellungen in den Medien werden kritisch bewertet, für die reale Gewalt verantwortlich gemacht und müssen oft genug als Sündenböcke herhalten. Das ist nicht ganz gerecht und übersieht regelmäßig die womöglich für jede Gesellschaft überlebensnotwendige Funktion symbolischer Gewaltarbeit (Schäffauer 2011). Das scheint mir auch und besonders für die filmische und literarische Befassung mit der Figur des Serienkillers zu gelten - eine populäre Ikone, die so viele Ambivalenzen bündelt, dass sie selbst in der Wissenschaft Stirnrunzeln hervorruft; was genau es ist, was eine Rezeption und Durcharbeitung des medialen wie des realen Phänomens blockiert, kann ich an dieser Stelle nicht weiter untersuchen. Bei vielen Serienmördern in der Realität jedenfalls war immer wieder festzustellen, dass ihnen die Fähigkeit zur Differenzierung zwischen materieller und symbolischer Realität abging. Vereinfacht ausgedrückt: wo andere die Dinge im Traum, im künstlerischen Ausdruck oder in anderer sublimierter Form ausdrücken, müssen sie den Akt selbst ausführen. Vielleicht ist es der Verlust an Symbolisierungsfähigkeit, der uns Angst macht; jedenfalls kann man sagen: je deutlicher die realen Konsequenzen dieses Verlustes hervortreten, desto gründlicher werden sie ignoriert.  


Der Mord ist aber auch ein Schlüsselbegriff der Kriminologie selbst. Im kontroversen Fundament der Kriminologie als Wissenschaft, den Verbrecherbildern des Turiner Mediziners Cesare Lombroso aus dem Jahre 1876, spielt die Beschreibung des Mörders als des Inbegriffs des geborenen Verbrechers die zentrale Rolle. Im Zeitalter der Klassifikationen und Typologien investierte die Wissenschaft in die möglichst präzise Beschreibung unterschiedlicher Erscheinungsformen des Verbrechers, wobei man anscheinend der Überzeugung war, dass jedem gesetzlichen Straftatbestand ein klar abgrenzbarer Menschentypus entspräche. So wie das Gesetz zwischen Mord, Totschlag, Vergewaltigung und so weiter unterschied, so unterschied die Kriminologie den Mörder vom Totschläger und diesen wiederum vom Vergewaltiger, vom Taschendieb und vom Betrüger.
:Der Mord ist aber auch ein Schlüsselbegriff der Kriminologie selbst. Im kontroversen Fundament der Kriminologie als Wissenschaft, den Verbrecherbildern des Turiner Mediziners Cesare Lombroso aus dem Jahre 1876, spielt die Beschreibung des Mörders als des Inbegriffs des geborenen Verbrechers die zentrale Rolle. Im Zeitalter der Klassifikationen und Typologien investierte die Wissenschaft in die möglichst präzise Beschreibung unterschiedlicher Erscheinungsformen des Verbrechers, wobei man anscheinend der Überzeugung war, dass jedem gesetzlichen Straftatbestand ein klar abgrenzbarer Menschentypus entspräche. So wie das Gesetz zwischen Mord, Totschlag, Vergewaltigung und so weiter unterschied, so unterschied die Kriminologie den Mörder vom Totschläger und diesen wiederum vom Vergewaltiger, vom Taschendieb und vom Betrüger.
 
Der von Comte und Darwin beeinflusste Lombroso glaubte ebenso wie sein Freund und Schüler Enrico Ferri, Mörder schon nach ihrem Äußeren von Vergewaltigern unterscheiden zu können: "Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich; die Lippen dünn, die Eckzähne groß. Nystagmus ist häufig, auch einseitiges Gesichtszucken, wobei sie die Eckzähne zeigen, gleichsam grinsend oder drohend". Die Vergewaltiger hingegen "haben fast immer ein funkelndes Auge, feines Gesicht, schwellende Lippen und Brauen, aber einen starken Unterkiefer. Meist sind die gracil gebaut, bisweilen jedoch bucklig" (Lombroso 1894: 229 ff.). Enrico Ferri (1856-1929) versicherte , dass auch er im Stande sei, "allein aus den organischen Erscheinungen die Diagnose des Mörders zu machen inmitten anderer Verbrecher" (Ferri 1896: 38). Die sog. Lyoner Schule unter Alexandre Lacassagne (1843-1924) wiederum konterte derlei Biologismen gerne mit dem Hinweis auf sozialstrukturelle Ursachen aller Kriminalität und wurde für das Motto bekannt: "Jede Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient" (Lacassagne 1913: 364). So begann der Streit zwischen den beiden großen Lagern: ist es die Anlage oder ist es die Umwelt, die den Menschen zum Verbrecher macht? Ein Streit, der bis heute nicht beigelegt ist, denn auch der radikal anti-ätiologische Labeling Approach, der den gordischen Knoten mit einem entschiedenen Weder-Noch durchschlagen wollte, kommt ja aus diesem Bezugsrahmen nicht heraus. Nur dass bei ihm die Rolle der Umwelt auf Gesetz, Polizei und Justiz verengt werden: es ist die Gesellschaft in Gestalt dieser Institutionen, die den Menschen kriminalisiert, ihm das Etikett und die Rolle des Delinquenten als ein "negatives Gut" zuweist. Hier macht die Umwelt den Menschen zum Verbrecher, nicht indem sie ihn etwas tun lässt, sondern allein dadurch, dass sie ihn als Verbrecher bezeichnet und behandelt.


:Der von Comte und Darwin beeinflusste Lombroso glaubte ebenso wie sein Freund und Schüler Enrico Ferri, Mörder schon nach ihrem Äußeren von Vergewaltigern unterscheiden zu können: "Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich; die Lippen dünn, die Eckzähne groß. Nystagmus ist häufig, auch einseitiges Gesichtszucken, wobei sie die Eckzähne zeigen, gleichsam grinsend oder drohend". Die Vergewaltiger hingegen "haben fast immer ein funkelndes Auge, feines Gesicht, schwellende Lippen und Brauen, aber einen starken Unterkiefer. Meist sind die gracil gebaut, bisweilen jedoch bucklig" (Lombroso 1894: 229 ff.). Enrico Ferri (1856-1929) versicherte , dass auch er im Stande sei, "allein aus den organischen Erscheinungen die Diagnose des Mörders zu machen inmitten anderer Verbrecher" (Ferri 1896: 38). Die sog. Lyoner Schule unter Alexandre Lacassagne (1843-1924) wiederum konterte derlei Biologismen gerne mit dem Hinweis auf sozialstrukturelle Ursachen aller Kriminalität und wurde für das Motto bekannt: "Jede Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient" (Lacassagne 1913: 364). So begann der Streit zwischen den beiden großen Lagern: ist es die Anlage oder ist es die Umwelt, die den Menschen zum Verbrecher macht? Ein Streit, der bis heute nicht beigelegt ist, denn auch der radikal anti-ätiologische Labeling Approach, der den gordischen Knoten mit einem entschiedenen Weder-Noch durchschlagen wollte, kommt ja aus diesem Bezugsrahmen nicht heraus. Nur dass bei ihm die Rolle der Umwelt auf Gesetz, Polizei und Justiz verengt werden: es ist die Gesellschaft in Gestalt dieser Institutionen, die den Menschen kriminalisiert, ihm das Etikett und die Rolle des Delinquenten als ein "negatives Gut" zuweist. Hier macht die Umwelt den Menschen zum Verbrecher, nicht indem sie ihn etwas tun lässt, sondern allein dadurch, dass sie ihn als Verbrecher bezeichnet und behandelt.


== Die Nichtverfügbarkeit (elusiveness) des Mordes ==
== Die Nichtverfügbarkeit (elusiveness) des Mordes ==
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