Bindungstheorie: Unterschied zwischen den Versionen

700 Bytes hinzugefügt ,  17:15, 31. Dez. 2017
keine Bearbeitungszusammenfassung
 
(5 dazwischenliegende Versionen von 3 Benutzern werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
===Väter und Mütter===
John C. '''Bowlby''' (1907-1990), eigentlich aus der Psychoanalyse kommend, entwickelte aus Erkenntnissen seiner klinischen Arbeit in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die Theorie der Bindung (engl.: "attachment"). Diese Theorie wurde in der Folge und wird seitdem von einer großen Zahl an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiter verfolgt. Die bekanntesten aus der ersten Zeit sind Mary '''Ainsworth''' und Mary '''Main'''; in Deutschland waren Klaus und Karin Grossmann Schüler von Bowlby.  
John C. '''Bowlby''' (1907-1990), eigentlich aus der Psychoanalyse kommend, entwickelte aus Erkenntnissen seiner klinischen Arbeit in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die Theorie der Bindung (engl.: "attachment"). Diese Theorie wurde in der Folge und wird seitdem von einer großen Zahl an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiter verfolgt. Die bekanntesten aus der ersten Zeit sind Mary '''Ainsworth''' und Mary '''Main'''; in Deutschland waren Klaus und Karin Grossmann Schüler von Bowlby.  


===Definition===
===Definition===
Die '''Bindungstheorie''' besagt, dass Menschen - wie im übrigen auch viele Säugetiere - ein verhaltensbiologisch begründetes Bindungssystem besitzen, das bei Gefahr aktiviert wird. Gefahr kann z.B. eine akute Verletzung sein, Angst vor etwas und insbesondere auch die Trennung von einer als vital bedeutsam erlebten Versorgungsperson.  
Die '''Bindungstheorie''' besagt, dass Menschen - wie im übrigen auch viele Säugetiere - ein biologisch begründetes Reaktionssystem zur Steuerung ihres Verhaltens besitzen, das bei Gefahr aktiviert wird. Gefahr kann z.B. eine akute Verletzung sein, Angst vor etwas und insbesondere auch die Trennung von einer als vital bedeutsam erlebten Versorgungsperson.
 


===Grundlagen===
===Grundlagen===
Zeile 11: Zeile 8:


Eine Person wird dann vom Kind als zuverlässige '''Bindungsperson''' erlebt, wenn sie feinfühlig und prompt auf kindliche Bedürfnisse reagiert: Das bedeutet sowohl, zuverlässig zur Stelle zu sein, wenn das Bindungssystem aktiviert ist, als auch, dem Kind Freiraum zu Exploration und Entwicklung zu lassen, wenn keine Gefahr besteht (sogenannter "circle of security" [[http://www.circleofsecurity.org/docs/languages/08%20AHD%20final.pdf]]). Je nachdem, wie gut die Bindungsperson diesen - individuell unterschiedlich ausgeprägten - Entwicklungsbedürfnissen gerecht wird, kann sich die Bindung zwischen Kind und Versorgungsperson unterschiedlich gestalten. Bindung ist so immer Ergebnis eines komplexen Interaktionsprozesses, der in einer sehr frühen Lebensphase eines Kindes beginnt.
Eine Person wird dann vom Kind als zuverlässige '''Bindungsperson''' erlebt, wenn sie feinfühlig und prompt auf kindliche Bedürfnisse reagiert: Das bedeutet sowohl, zuverlässig zur Stelle zu sein, wenn das Bindungssystem aktiviert ist, als auch, dem Kind Freiraum zu Exploration und Entwicklung zu lassen, wenn keine Gefahr besteht (sogenannter "circle of security" [[http://www.circleofsecurity.org/docs/languages/08%20AHD%20final.pdf]]). Je nachdem, wie gut die Bindungsperson diesen - individuell unterschiedlich ausgeprägten - Entwicklungsbedürfnissen gerecht wird, kann sich die Bindung zwischen Kind und Versorgungsperson unterschiedlich gestalten. Bindung ist so immer Ergebnis eines komplexen Interaktionsprozesses, der in einer sehr frühen Lebensphase eines Kindes beginnt.


===Bindungsforschung===
===Bindungsforschung===
Zeile 59: Zeile 55:
====Verbindungslinien aus der Kriminologie====
====Verbindungslinien aus der Kriminologie====
=====social bonds=====
=====social bonds=====
Hirschi bezeichnet "social bonds" als wesentliche Steuerungselemente devianten Verhaltens: Neben "commitment", "involvement" und "belief" gehört dazu "attachment", das er als "essence of internalization of norms, conscience, or superego" sieht (1969, S.18) und als "emotionales Band", über das sich dem Kind "elterliche Ideale und Erwartungen" mitteilen (S.86). Hirschi bezieht sich damit auf sekundäre Folgen von Bindung, wie sie auch durch die Bindungstheorie gestützt werden können. Ein ausdrücklicher Bezug auf Bowlbys Bindungskonzept, insbesondere auf die verhaltensbiologischen Grundannahmen oder die Diagnosekriterien, fehlt. Das Konzept "Bindung" bleibt im Vergleich unterkomplex:  
Hirschi bezeichnet "social bonds" als wesentliche Steuerungselemente devianten Verhaltens: Neben "commitment", "involvement" und "belief" gehört dazu "attachment", das er als "essence of internalization of norms, conscience, or superego" sieht (1969, S.18) und als "emotionales Band", über das sich dem Kind "elterliche Ideale und Erwartungen" mitteilen (S.86). Hirschi bezieht sich damit auf sekundäre Folgen von Bindung, wie sie auch durch die Bindungstheorie gestützt werden können. Ein Bezug auf Bowlbys Bindungskonzept hinsichtlich der verhaltensbiologischen Grundannahmen oder der Diagnosekriterien fehlt. Das Konzept "Bindung" bleibt im Vergleich unterkomplex:  


In einer ersten Abgrenzung geht Hirschi davon aus, dass fehlendes "attachment" den "psychopathischen" Täter auszeichne (S.17), spricht später von einer geringeren Wahrscheinlichkeit, dass ein Deliquent seinen Eltern verbunden sei ("closely tied"; S.85). Diagnostisch unterscheidet er mit einfacher Differenzierung zwischen "Bindung" und "fehlender Bindung", operationalisiert sie über Qualitäten von Kommunikation und andere, über Selbstauskünfte erhobene Beziehungsmerkmale (Fragebogenverfahren). Einen direkten Bezug zu Bowlby formuliert er lediglich in Bezug auf Untersuchungen, die psychiatrisch relevante Folgen einer längeren Trennung eines Kindes von der Mutter belegen (S.86f). Andere, aus Sicht der Bindungsforschung relevante Lebensumstände, die Bindung beeinflussen können, werden nicht thematisiert (etwa: andere Formen der Vernachlässigung oder Misshandlung).  
In einer ersten Abgrenzung geht Hirschi davon aus, dass fehlendes "attachment" den "psychopathischen" Täter auszeichne (S.17), spricht später von einer geringeren Wahrscheinlichkeit, dass ein Deliquent seinen Eltern verbunden sei ("closely tied"; S.85). Diagnostisch unterscheidet er mit einfacher Differenzierung zwischen "Bindung" und "fehlender Bindung", operationalisiert sie über Qualitäten von Kommunikation und andere, über Selbstauskünfte erhobene Beziehungsmerkmale (Fragebogenverfahren). Einen direkten Bezug zu Bowlby formuliert er lediglich in Bezug auf Untersuchungen, die psychiatrisch relevante Folgen einer längeren Trennung eines Kindes von der Mutter belegen (S.86f). Andere, aus Sicht der Bindungsforschung relevante Lebensumstände, die Bindung beeinflussen können, werden nicht thematisiert (etwa: andere Formen der Vernachlässigung oder Misshandlung).


=====Belastung=====
=====Belastung=====
Zeile 73: Zeile 69:
=====Selbstkontrolle=====
=====Selbstkontrolle=====
Katz (1999 [[http://wcr.sonoma.edu/v1n2/katz.html]]) geht unter Bindungsgesichtspunkten Hirschi und Gottfredsons Annahme nach, dass Selbstkontrolle maßgeblich kriminelles Verhalten vorhersagt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Selbstkontrolle Bindungsmöglichkeiten nicht direkt vorhersagt. Auch stellt ihre Untersuchung die Annahme in Frage, dass Selbstkontrolle eine im Erwachsenenalter invariable Größe sei.
Katz (1999 [[http://wcr.sonoma.edu/v1n2/katz.html]]) geht unter Bindungsgesichtspunkten Hirschi und Gottfredsons Annahme nach, dass Selbstkontrolle maßgeblich kriminelles Verhalten vorhersagt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Selbstkontrolle Bindungsmöglichkeiten nicht direkt vorhersagt. Auch stellt ihre Untersuchung die Annahme in Frage, dass Selbstkontrolle eine im Erwachsenenalter invariable Größe sei.
=====Bindungsparadoxa=====
Sponsel stellt in einer Arbeit "paradoxes" Bindungsverhalten aus kriminologischen Zusammenhängen vor, das auf den ersten Blick nicht leicht mit der Bindungstheorie vereinbar scheint. Er erklärt Verhaltensphänomene wie etwa das sogenannte "Stockholmsyndrom" unter Berücksichtigung verschiedener bindungsbezogener Zusatzannahmen (2001 [[http://www.sgipt.org/gipt/entw/bindung/path_1.htm]].


====Mögliche Forschungsinteressen====
====Mögliche Forschungsinteressen====
Zeile 117: Zeile 116:
[3] http://www.uni-saarland.de/fak5/ezw/personal/paulus/welcome.htm (Paulus, C.: Zum Mörder erzogen? Die mörderische Suche nach Liebe. (Entwicklungs-)Psychologische Erklärungsansätze zur Genese einer extrem gewalttätigen Persönlichkeit, Univ. des Saarlandes, 1998 und ders.: Serienmörder: Ursachen und Entwicklung extremer Gewalt. 1997; 16.10.2007)
[3] http://www.uni-saarland.de/fak5/ezw/personal/paulus/welcome.htm (Paulus, C.: Zum Mörder erzogen? Die mörderische Suche nach Liebe. (Entwicklungs-)Psychologische Erklärungsansätze zur Genese einer extrem gewalttätigen Persönlichkeit, Univ. des Saarlandes, 1998 und ders.: Serienmörder: Ursachen und Entwicklung extremer Gewalt. 1997; 16.10.2007)


[4] http://wcr.sonoma.edu/v1n2/katz.html. (Katz, R.S.: Building the Foundation for a Side-by-Side Explanatory Model: A General Theory of Crime, the Age-Graded Life-Course Theory, and Attachment Theory. 1999 Western Criminology Review 1(2); 23.12.2007)  
[4] http://wcr.sonoma.edu/v1n2/katz.html (Katz, Rebecca S.: Building the Foundation for a Side-by-Side Explanatory Model: A General Theory of Crime, the Age-Graded Life-Course Theory, and Attachment Theory. 1999 Western Criminology Review 1(2); 23.12.2007)
 
[5] http://www.sgipt.org/gipt/entw/bindung/path_1.htm
(Sponsel, Rudolf (DAS). Bindungs-Paradoxa, pathologische Bindungen und andere nicht ohne weiteres verständliche Bindungserscheinungen - auch im Alltag. Internet Publikation  für Allgemeine und Integrative Psychotherapie  IP-GIPT. Erlangen; 28.01.2008)


[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Bindungstheorie (16.10.2007)
http://de.wikipedia.org/wiki/Bindungstheorie (16.10.2007)
1.841

Bearbeitungen