Bindungstheorie

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John C. Bowlby (1907-1990), eigentlich aus der Psychoanalyse kommend, entwickelte aus Erkenntnissen seiner klinischen Arbeit in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die Theorie der Bindung (engl.: "attachment"). Diese Theorie wurde in der Folge und wird seitdem von einer großen Zahl an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiter verfolgt. Die bekanntesten aus der ersten Zeit sind Mary Ainsworth und Mary Main; in Deutschland waren Klaus und Karin Grossmann Schüler von Bowlby.

Definition

Die Bindungstheorie besagt, dass Menschen - wie im übrigen auch viele Säugetiere - ein biologisch begründetes Reaktionssystem zur Steuerung ihres Verhaltens besitzen, das bei Gefahr aktiviert wird. Gefahr kann z.B. eine akute Verletzung sein, Angst vor etwas und insbesondere auch die Trennung von einer als vital bedeutsam erlebten Versorgungsperson.

Grundlagen

Besonders kleine Kinder sind auf eine zuverlässig verfügbare Versorgungsperson angewiesen, um ihr so aktiviertes System wieder zu beruhigen. An eine solche zuverlässig verfügbare Versorgungsperson entwickelt das Kind - auf Grundlage komplexer Interaktionsstrukturen mit zahlreichen sich wechselseitig verstärkenden Signalen schon in der frühen Säuglingszeit - eine sogenannte Bindung. Bindungspersonen werden so in der Regel Mutter und Vater, öfter aber auch Erzieherin, Tagesmutter o.ä. Man nimmt an, dass ein Kind mehrere, aber nicht sehr viele Bindungspersonen haben kann; ob es eine Hierarchie von Bindungspersonen gibt, wird in der Literatur unterschiedlich diskutiert. Kindler & Lillig bezeichnen das Konzept einer Bindungshierarchie als "schwer handhabbar" (2004, S. 380).

Eine Person wird dann vom Kind als zuverlässige Bindungsperson erlebt, wenn sie feinfühlig und prompt auf kindliche Bedürfnisse reagiert: Das bedeutet sowohl, zuverlässig zur Stelle zu sein, wenn das Bindungssystem aktiviert ist, als auch, dem Kind Freiraum zu Exploration und Entwicklung zu lassen, wenn keine Gefahr besteht (sogenannter "circle of security" [[1]]). Je nachdem, wie gut die Bindungsperson diesen - individuell unterschiedlich ausgeprägten - Entwicklungsbedürfnissen gerecht wird, kann sich die Bindung zwischen Kind und Versorgungsperson unterschiedlich gestalten. Bindung ist so immer Ergebnis eines komplexen Interaktionsprozesses, der in einer sehr frühen Lebensphase eines Kindes beginnt.

Bindungsforschung

Unterschieden wurden bei Kindern in den ersten Untersuchungen von Ainsworth sichere und unsichere (unsicher-vermeidend oder unsicher-ambivalent) Bindungen. Diese Bindungsmuster werden als adaptiv angesehen, da sie die Beziehung zur Bindungsperson für das Kind effektiv und grundsätzlich bedürfnisgerecht strukturieren. Während die sichere Bindung jedenfalls als Ressource eines Kindes bei der Bewältigung kritischer Lebensereignisse gewertet werden kann, ist das Risikopotential der unsicheren Bindungsrepräsentationen nicht eindeutig.
Main fand später zusätzlich ein Desorganisationsmuster von Bindung, das selbst nicht als Bindungsrepräsentation angesehen wird. Die Desorganisation wird vielmehr als Signal einer erheblichen Störung in der Beziehung zur Bindungsperson gesehen; Hintergrund ist in der Regel Angst vor der Bindungsperson bei gleichzeitigem Bindungswunsch.

Die Bindungstheorie ist durch verschiedene, speziell zu ihrer Überprüfung entwickelte Diagnosemethoden untersucht worden. Die bekanntesten sind die "Fremde Situation" für einjährige Kinder und das Adult Attachment Interview für Erwachsene ab etwa 16 Jahren. Es haben sich fast überall ähnliche Verteilungen gefunden: 50-60% aller untersuchten Kinder weisen eine Repräsentation sicherer Bindung auf, etwa 30-40% sind unsicher-vermeidend und etwa 10-20% unsicher-ambivalent. Ein desorganisiertes Muster von Bindung wurde ggf. jeweils zusätzlich codiert. Die festgestellten Bindungsmuster erwiesen sich in den Längsschnittstudien als sehr stabil, sobald sie sich ab dem Alter von etwa zwei Jahren festigen und als Bindungsrepräsentation bzw. "inneres Arbeitsmodell von Bindung" gesehen werden können. Bei Erwachsenen findet man in der Regel Korrelate der Bindungsrepräsentationen ihrer Kindheit sowie eine hohe Übereinstimmung ihrer Bindungsrepräsentationen mit denen der eigenen Kinder ("Intergenerationentransmission von Bindung").

Die Erforschung von Bindungsrepräsentationen ist relativ aufwändig: die genannten Verfahren müssen alle individuell mit Probanden durchgeführt werden und erfordern zudem ein ausgiebiges Training der Testdurchführenden, da alle Verfahren auch die Auswertung von Verhaltens- und Interaktionsbeobachtungen erfordern (Ratings). Es dürfte damit zusammen hängen, dass außerhalb der großen Längsschnittstudien zu Einzelfragen je eher kleine und wenig repräsentative Samples untersucht wurden.

Neuere Forschung beschäftigt sich mit Ausmaß, Variabilität und Reversibilität hirnorganischer Veränderungen (Synapsen- und Dendritenbildung, chemische Austauschprozesse), die für Informationsverarbeitung und mittelbar für die Wahrnehmung von Interaktionsprozessen verantwortlich sind (z.B. [[2]]).


Bindungsstörungen

Neben den Arbeitsmodellen von Bindung, die als adaptiv bezeichnet werden können (sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent) wurden in allen Untersuchungsgruppen immer wieder Kinder mit Bindungsstörungen gesehen. Die Interaktionen zwischen Kind und Bindungsperson waren bei ihnen keiner der bekannten Kategorien zuzuordnen. Sie wurden wegen ihrer durchweg unangemessenen Strukturen als pathologisch angesehen. Die Bindungsstörung ist ein strukturiertes, (mehr oder weniger gut) organisiertes, wenn auch maladaptives Bindungsverhalten, das in verschiedenen Bezugssystemen gleichermaßen zu beobachten ist. Bindungsstörung wird auch als "schwerwiegende Fragmentierung bis Zerstörung des inneren Arbeitsmodells von Bindung" bezeichnet (Brisch in: Brisch & Hellbrügge, 2003, S.108f). Bei der Bindungsstörung ist in einer Stresssituation das Bindungssystem zwar voll aktiviert (z.B. maximale körperliche Erregung), aber die Bindungsperson wird nicht erfolgreich aufgesucht, um die Erregung zu mindern. Es bleibt so bei einem chronisch erhöhten Stressniveau. Je nach Alter des Kindes kann das gravierende Folgen z.B. im Hirnstoffwechsel haben (vgl. Himpel & Hüther 2004).

Die Bindungsstörung erscheint auch in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10), und zwar als "Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters" (F94.1) bzw. als "Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung" (F94.2). Die Systematik dieser Störungen bezieht sich allenfalls indirekt auf die Grundlagen der Bindungsforschung im hier beschriebenen Sinn.

Eine Bindungsstörung ist Ergebnis einer Fehlanpassung zwischen Bindungsverhalten des Kindes und Reaktion der erwachsenen Bindungsperson. Ursachen können Besonderheiten in den Voraussetzungen beim Kind sein (z.B. Hypersensibilität, auditive Störung, Trinkstörung) oder bei der erwachsenen Bindungsperson (z.B. Depression, Ängste, erhöhte allgemeine Belastung) oder in den Umständen der Interaktion (z.B. fehlende materielle Ressourcen) oder Wechselwirkungen verschiedener Faktoren. Brisch unterscheidet auf der Grundlage zahlreicher klinischer Studien folgende manifeste Formen gestörter Bindung:

  • Aggression: ambivalente Bindungsnähe durch aggressive Verhaltensweisen / Bindungswunsch wird durch Bezugsperson typischerweise verkannt / aggressive Antwort auf Bindungswunsch anderer / Ablehnung steigert Angst
  • Hemmung: bei Aktivierung des Bindungssystems Hemmung, die Bindungsperson als sichere Basis zu nutzen / in Abwesenheit der Bindungsperson auch Bindungsverhalten/-suche zu Fremden
  • Promiskuität: Pseudobindung an jede verfügbare, beliebig austauschbare Person / keine spezifische Bindungsperson / bei Aktivierung des Bindungssystems Suche nach Nähe irgendeiner Person
  • ohne Bindungszeichen: bei Aktivierung des Bindungssystems keine Suche nach Hilfe oder Bindungsperson / kein Trennungsprotest / extreme Vermeidung von Beziehung / Rückzug in Isolation
  • Psychosomatik: Deprivation mit physiologischer Dysregulation / psychogene Wachstumsretardierung / Störungen der Eltern-Kind-Interaktion (Schreistörung, Schlafstörung, Essstörung)
  • Rollenwechsel: Kind ist selbst "sichere emotionale Basis" für erwachsene Bezugsperson
  • Übererregung: Trennung kaum möglich / schon geringe Trennung führt zu Übererregung / Kind bewacht Bindungsperson / spielt auch in höherem Alter nur in der Nähe der Bindungsperson
  • Unfall-Risiko: spektakuläre Risikosituationen mit Aktivierung der Aufmerksamkeit der Bindungsperson / Inszenierung von Unfällen / Bindungsperson reagiert aber erst bei maximaler Gefahr für das Kind / kein Lerneffekt aus Unfallerfahrungen

In der Literatur finden sich immer wieder unscharfe Abgrenzungen zwischen Bindungsstörung und Desorganisation von Bindung. Zwar ist weitgehend einhellige Meinung, dass Desorgation von Bindung entsteht, wenn ein Kind die Bindungsperson selbst als beängstigend erlebt. Nicht einhellig sind die Beschreibungen und Bezeichnungen: Während Bretherton von "desorganisierter/desorientierter" Bindung spricht, spricht Main von einem "Zusammenbruch der Verhaltens- und Aufmerksamkeitsstrategien". Brisch beschreibt dasselbe als "desorganisiertes Verhaltensmuster" und "zusätzliche Codierung", die er von der Bindungsstörung trennt. Er spezifiziert, dass er die Desorganisation als Zwischenstufe sieht, die sich unter günstigen Bedingungen in eine der drei stabilen Bindungskategorien verwandelt, unter ungünstigen Bedingungen dagegen zu einer Bindungsstörung wird (mündliche Mitteilung 2004).


Bindungstheorie und Kriminologie

Bindung ist nach dem Konzept der Bindungstheorie ein personengebundenes, individuell unterschiedlich ausgeprägtes Merkmal, das Verhaltensbereitschaften in bestimmten Situationstypen vorbahnt. Auf Seiten der Kriminologie kann dies Konzept dann von Interesse sein, wenn es darum geht, abweichendes Verhalten aus interindividuellen Unterschieden zu erklären. Ein Bezug zwischen Bindungstheorie und Kriminologie ergibt sich über die Befunde zu Bindungsstörungen, z.T. zu den desorganisierten Formen von Bindung.


Verbindungslinien aus der Bindungstheorie

Bindungsstörungen erweisen sich nach den Ergebnissen der Längsschnittstudien als Risikofaktor kindlicher Entwicklung: Kinder mit Bindungsstörungen zeigen mangelnde Beziehungsfähigkeit, im Konflikt weniger pro-soziales Verhalten, ein Risiko psychosomatischer Störungen und dissoziativer Erkrankungen. Sie produzieren inkohärentes Verhalten und inkohärente Narrative. Sie haben ein hohes Risiko, (sexuell) misshandelt zu werden. Kinder mit Bindungsstörung weisen zudem eine Reihe körperlich nachweisbarer Besonderheiten auf (z.B. veränderte Stresshormonausschüttungen); ihre Copingstrategien in belastenden Situationen sind weniger flexibel und angepasst, als bei adaptiven Bindungsmustern.

Eine Hypothese könnte naheliegen, dass Personen mit diesen Voraussetzungen in kritischen Lebenssituationen leichter zu Verhalten neigen, das als kriminell gesehen wird.

Paulus ist einer solchen Hypothese in Bezug auf Mörder und Serienmörder nachgegangen [[3]]. Seine Arbeiten aus den Jahren 1997 und 1998 zeigen beispielhaft die Komplexität, mit der Bindungsvoraussetzungen mit den weiteren Bedingungen einer Biographie verflochten sind. Gleichzeitig wird deutlich, wie unscharf Binnendifferenzierungen des Bindungsbegriffs auch in einer bindungsorientierten Forschung ausfallen können: In seiner Arbeit "Serienmörder: Ursachen und Entwicklung extremer Gewalt" beschreibt er anhand einer Stichprobe eine mögliche Entwicklung von Gewalt: Am Anfang steht, abgeleitet aus Selbstauskünften befragter Täter, die Annahme einer unsicher-vermeidenden Bindung. Sie führt über weitere negative Beziehungs- und Umwelterfahrungen, insbesondere negativ verarbeitete Frustrationserlebnisse, zum Aufbau aggressiver Verhaltensschemata und aggressiver Phantasien. Im Zusammenhang mit situativen Komponenten führt das zu einer erhöhten aggressiven Verhaltensbereitschaft und tatsächlich aggressivem Verhalten. In seiner Arbeit "(Entwicklungs-)Psychologische Erklärungsansätze zur Genese einer extrem gewalttätigen Persönlichkeit" bezieht Paulus sich dagegen auf desorganisierte Muster: Er beschreibt Übereinstimmungen zwischen den familiären Lebensumständen der interviewten Täter und Lebensbedingungen, die geeignet sind, Desorganisation von Bindung zu begünstigen (besonders: abweisendes Elternverhalten). Er weist darauf hin, dass die von ihm beschriebenen Serientäter keine Chance hatten, in späteren Lebensphasen günstigere Bindungserfahrungen zu machen. Er schildert Aggression (aggressive Phantasien, spontan aggressive Verhaltensbereitschaften) hier als wesentliches Ergebnis der Desorganisation von Bindung. Im Zusammenhang mit der vorhergehenden Studie wird deutlich, dass die beschriebene Desorganisation als Zusatzbeschreibung eines anfangs als "unsicher-vermeidend" beschriebenen Bindungsmuster gesehen werden kann.

Ein ganz anderer Ansatz einer Verbindung zur Kriminologie könnte sich aus entwicklungspsychologischen Überlegungen zur Entwicklung von "Moral" und Normverständnis ergeben: Dazu vorliegende Stufenmodelle (vgl. Heidbrink 1991) gehen implizit davon aus, dass die Entwicklung moralischer Urteilskraft eng zusammenhängt mit der Beziehungsqualität zu emotional bedeutsamen erwachsenen Bezugspersonen. Eine weitergehende Annahme wäre, dass Kinder Schwierigkeiten haben, gesellschaftlich relevante Normen anzuerkennen, wenn ihnen eine Beziehung solcher Qualität fehlt. Ganz direkt darauf bezogen lässt sich Hirschis Ansatz sehen (1969, S.18). In Zusammenhang damit kann man aber auch Sutherlands Theorie der differenziellen Assoziation sehen, der davon ausgeht, dass ein Kind ggf. schon über seine frühen sozialen Kontakte - Eltern - Gewalthandlungen und ihre Bewertung lernt.

Verbindungslinien aus der Kriminologie

social bonds

Hirschi bezeichnet "social bonds" als wesentliche Steuerungselemente devianten Verhaltens: Neben "commitment", "involvement" und "belief" gehört dazu "attachment", das er als "essence of internalization of norms, conscience, or superego" sieht (1969, S.18) und als "emotionales Band", über das sich dem Kind "elterliche Ideale und Erwartungen" mitteilen (S.86). Hirschi bezieht sich damit auf sekundäre Folgen von Bindung, wie sie auch durch die Bindungstheorie gestützt werden können. Ein Bezug auf Bowlbys Bindungskonzept hinsichtlich der verhaltensbiologischen Grundannahmen oder der Diagnosekriterien fehlt. Das Konzept "Bindung" bleibt im Vergleich unterkomplex:

In einer ersten Abgrenzung geht Hirschi davon aus, dass fehlendes "attachment" den "psychopathischen" Täter auszeichne (S.17), spricht später von einer geringeren Wahrscheinlichkeit, dass ein Deliquent seinen Eltern verbunden sei ("closely tied"; S.85). Diagnostisch unterscheidet er mit einfacher Differenzierung zwischen "Bindung" und "fehlender Bindung", operationalisiert sie über Qualitäten von Kommunikation und andere, über Selbstauskünfte erhobene Beziehungsmerkmale (Fragebogenverfahren). Einen direkten Bezug zu Bowlby formuliert er lediglich in Bezug auf Untersuchungen, die psychiatrisch relevante Folgen einer längeren Trennung eines Kindes von der Mutter belegen (S.86f). Andere, aus Sicht der Bindungsforschung relevante Lebensumstände, die Bindung beeinflussen können, werden nicht thematisiert (etwa: andere Formen der Vernachlässigung oder Misshandlung).

Belastung

Agnew bezieht sich indirekt auf Elemente der Bindungstheorie: Er nennt als Faktoren besonderer Belastung den "Verlust positiver Stimuli", zu denen er den Verlust wesentlicher emotionaler Bezugspersonen rechnet (2001, S.91). Als besonders belastend für Jugendliche sieht er in diesem Zusammenhang "negative relations with parents", "divorce or separation of parents", "child abuse and neglect". Alle diese Faktoren sind aus Sicht der Bindungstheorie relevant für eine Aktivierung des Bindungssystems (insbesondere: Verlust der Bindungsperson) bzw. für die Gefahr der Entwicklung maladaptiver Bindungsstrategien (insbesondere: Scheidung, Kindesmisshandlung). Wenn er den Begriff "attachment" ausdrücklich benutzt, so ohne direkten Bezug zu theoretischen Grundlagen des Begriffs. Die Relevanz für die Erklärung von Abweichung schränkt er ein: "Data suggest that attachment to parents is associated with lower delinquency, although the association is often modest in size." (2001, S.145f).

parenting

"Parenting", angemessenes Elternverhalten, sehen Hirschi und Gottfredsons in einer Kette von Faktoren, an deren Ende abweichendes Verhalten stehen kann: Nachdem sie das Ausmaß an Selbstkontrolle als wesentlich für die Auftretenswahrscheinlichkeit abweichenden Verhaltens identifizieren, geht es ihnen um Bedingungen, die Selbstkontrolle einschränken: "The major 'cause' of low self-control thus apperars to be ineffective child-rearing." (1990, S.97) Was das bedeutet, leiten sie aus verschiedenen Untersuchungen ab, nach denen "(...) discipline, supervision, and affection tend to be missing in the homes of delinquents (...)" (S.97).

"Affection" ist das am ehesten mit Bindung verknüpfbare Element des angemessenen Elternverhaltens, und die Autoren berichten hierzu weitere Operationalisierungen, die die Verknüpfung festigen: "(...) fathers of nondelinquents were twice as likely to be warmly disposed toward their sons (...)" und: "(...) 28 percent of the mothers of delinquents were characterized as 'indifferent or hostile' toward the child (...)" (S.98). Auch wenn hier wieder jeder direkte Bezug auf Paradigmen der Bindungsforschung fehlt (wie wurde "warmly disposed" oder "indifferent/hostile" beobachtet und codiert?), weist doch die Beschreibung auf Elternverhalten, wie es zur Entwicklung sicherer Bindung einerseits oder Bindungsstörung und Bindungsdesorganisation andererseits beitragen kann.

Selbstkontrolle

Katz (1999 [[4]]) geht unter Bindungsgesichtspunkten Hirschi und Gottfredsons Annahme nach, dass Selbstkontrolle maßgeblich kriminelles Verhalten vorhersagt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Selbstkontrolle Bindungsmöglichkeiten nicht direkt vorhersagt. Auch stellt ihre Untersuchung die Annahme in Frage, dass Selbstkontrolle eine im Erwachsenenalter invariable Größe sei.

Bindungsparadoxa

Sponsel stellt in einer Arbeit "paradoxes" Bindungsverhalten aus kriminologischen Zusammenhängen vor, das auf den ersten Blick nicht leicht mit der Bindungstheorie vereinbar scheint. Er erklärt Verhaltensphänomene wie etwa das sogenannte "Stockholmsyndrom" unter Berücksichtigung verschiedener bindungsbezogener Zusatzannahmen (2001 [[5]].

Mögliche Forschungsinteressen

Die vorliegenden Theorien gehen von einer Art "Augenscheinvalidität" eines Zusammenhangs zwischen abweichendem Verhalten und Bindungsaspekten aus. Es fehlen aber bisher Forschungsergebnisse, die ausdrücklich den Verbindungen zwischen Bindungsmuster und Kriminalität nachgehen und dabei die anerkannten Forschungsparadigmen der Bindungstheorie berücksichtigen. Psychologisch motivierte Forschung zeigt bisher, dass aus Bindungsvoraussetzungen zwar Risiken abgeleitet werden können, nicht aber konkrete Verhaltensdispositionen in bestimmten Situationen. Kindler & Lillig empfehlen daher bisher auch auf Grundlage vorliegender Forschung vorsichtige Aussagen über Diagnose, Ätiologie und Folgen einer Bindungsstörung (2004, S. 379). Zu fragen wäre so womöglich weniger nach einem Zusammenhang an sich, als danach, wieviel von beobachtbar abweichendem Verhalten durch die Qualität von Bindung erklärt werden kann.

Überlegungen zu Untersuchungsdesigns für Fragestellung aus diesem Themenbereich lassen allerdings Schwierigkeiten erkennen: Experimentalstudien, womöglich mit Kontrollgruppen, dürften kaum zu konstruieren sein. Entweder sind Unmengen an möglichen intermittierenden Variblen zu kontrollieren oder Settings sind nicht realisierbar (etwa zu einer vergleichenden Untersuchung des Stresshormonspiegels bei aktiven Gewalttätern einerseits und Gleichaltrigen mit manifesten Bindungsstörungen andererseits). Aus dem Material vorliegender Längsschnittstudien lassen sich allenfalls Korrelationen, also statistische Effektstärken, berechnen, nicht aber Kausalitäten ableiten.

Literatur

AGNEW, R.: Juvenile Delinquency. Causes and Control. Los Angeles 2001

ALBRECHT, G.: Soziologische Erklärungsansätze individueller Gewalt und ihre empirische Bewährung. In: HEITMEYER, W. & HAGAN, J. (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden 2002, S. 763-818

BOWLBY, J.: Attachment and Loss, Vol. I: Attachment. New York 1969

BRETHERTON, I.: Zur Konzeption innerer Arbeitsmodelle in der Bindungstheorie. In: GLOGER-TIPPELT, G.: Bindung im Erwachsenenalter. Ein Handbuch für Forschung und Praxis. Bern 2001, S.52-74

BRISCH, K.-H.: Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart 1999

BRISCH, K.-H. & HELLBRÜGGE, T. (Hrsg.): Bindung und Trauma. Risiken und Schutzfaktoren für die Entwicklung von Kindern. Stuttgart 2003

DILLING, H., MOMBOUR, W., SCHMIDT, M.H. (Hrsg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapital V (F). Klinisch Diagnostische Leitlinien. Bern u.a. 1993

GLOGER-TIPPELT, G.: Familienbeziehungen und Bindungstheorie. in: SCHNEEWIND,K.A. (Hrsg.): Familienpsychologie im Aufwind. Brückenschläge zwischen Forschung und Praxis. Göttingen 2000, S. 49-63

GOTTFREDSON, M.R. & HIRSCHI, T.: A General Theory of Crime. Stanford 1990

HEIDBRINK, H.: Stufen der Moral. Zur Gültigkeit der kognitiven Entwicklungstheorie Lawrence Kohlbergs. München 1991

HIMPEL, S. & HÜTHER, G.: Auswirkungen emotionaler Verunsicherungen und traumatischer Erfahrungen auf die Hirnentwicklung. In: Stiftung zum Wohl des Pflegekindes (Hrsg.): 3. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Kontakte zwischen Pflegekind und Herkunftsfamilie, 2004, S.111-125

HIRSCHI, T.: Causes of Delinquency. Berkeley u.a. 1969

KINDLER, H. & LILLIG, S.: Psychologische Kriterien bei Entscheidungen über eine Rückführung von Pflegekindern nach einer früheren Kindeswohlgefährdung. Praxis der Rechtspsychologie, 14 (2) 2004, S. 368-397

MAIN, M.: Aktuelle Studien zur Bindung. In: GLOGER-TIPPELT, G.: Bindung im Erwachsenenalter. Ein Handbuch für Forschung und Praxis. Bern 2001, S.1-51

SPANGLER, G. & ZIMMERMANN, P. (Hrsg.): Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung und Anwendung. Stuttgart 1995

[1] http://www.circleofsecurity.org/docs/languages/08%20AHD%20final.pdf (Robert Marvin, Glen Cooper, Kent Hoffman and Bert Powell: The Circle of Security project:Attachment-based interventionwith caregiver–pre-school child dyads; 17.12.2007)

[2] http://www.forschung-sachsen-anhalt.de/index.php3?option=projektanzeige&lang=0&perform=&pid=11008&lang=0&perform=&PHPSESSID=0beemu7alpqtrrqs43t7g3vff2 (Einfluss von Stressfaktoren auf die Entwicklung corticaler Netzwerke: Zelluläre Mechanismen und Reversibilität CRH-induzierter; 17.12.2007)

[3] http://www.uni-saarland.de/fak5/ezw/personal/paulus/welcome.htm (Paulus, C.: Zum Mörder erzogen? Die mörderische Suche nach Liebe. (Entwicklungs-)Psychologische Erklärungsansätze zur Genese einer extrem gewalttätigen Persönlichkeit, Univ. des Saarlandes, 1998 und ders.: Serienmörder: Ursachen und Entwicklung extremer Gewalt. 1997; 16.10.2007)

[4] http://wcr.sonoma.edu/v1n2/katz.html (Katz, Rebecca S.: Building the Foundation for a Side-by-Side Explanatory Model: A General Theory of Crime, the Age-Graded Life-Course Theory, and Attachment Theory. 1999 Western Criminology Review 1(2); 23.12.2007)

[5] http://www.sgipt.org/gipt/entw/bindung/path_1.htm (Sponsel, Rudolf (DAS). Bindungs-Paradoxa, pathologische Bindungen und andere nicht ohne weiteres verständliche Bindungserscheinungen - auch im Alltag. Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie IP-GIPT. Erlangen; 28.01.2008)

http://de.wikipedia.org/wiki/Bindungstheorie (16.10.2007)