Bindungstheorie: Unterschied zwischen den Versionen

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===Väter und Mütter===
John C. '''Bowlby''' (1907-1990), eigentlich aus der Psychoanalyse kommend, entwickelte aus Erkenntnissen seiner klinischen Arbeit in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die Theorie der Bindung (engl.: "attachment"). Diese Theorie wurde in der Folge und wird seitdem von einer großen Zahl an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiter verfolgt. Die bekanntesten aus der ersten Zeit sind Mary '''Ainsworth''' und Mary '''Main'''; in Deutschland waren Klaus und Karin Grossmann Schüler von Bowlby.  
John C. '''Bowlby''' (1907-1990), eigentlich aus der Psychoanalyse kommend, entwickelte aus Erkenntnissen seiner klinischen Arbeit in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die Theorie der Bindung (engl.: "attachment"). Diese Theorie wurde in der Folge und wird seitdem von einer großen Zahl an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiter verfolgt. Die bekanntesten aus der ersten Zeit sind Mary '''Ainsworth''' und Mary '''Main'''; in Deutschland waren Klaus und Karin Grossmann Schüler von Bowlby.  


===Definition===
===Definition===
Die '''Bindungstheorie''' besagt, dass Menschen - wie im übrigen auch viele Säugetiere - ein verhaltensbiologisch begründetes Bindungssystem besitzen, das bei Gefahr aktiviert wird. Gefahr kann z.B. eine akute Verletzung sein, Angst vor etwas und insbesondere auch die Trennung von einer als vital bedeutsam erlebten Versorgungsperson.  
Die '''Bindungstheorie''' besagt, dass Menschen - wie im übrigen auch viele Säugetiere - ein biologisch begründetes Reaktionssystem zur Steuerung ihres Verhaltens besitzen, das bei Gefahr aktiviert wird. Gefahr kann z.B. eine akute Verletzung sein, Angst vor etwas und insbesondere auch die Trennung von einer als vital bedeutsam erlebten Versorgungsperson.
 


===Grundlagen===
===Grundlagen===
Besonders kleine Kinder sind auf eine zuverlässig verfügbare Versorgungsperson angewiesen, um ihr so aktiviertes System wieder zu beruhigen. An eine solche zuverlässig verfügbare Versorgungsperson entwickelt das Kind - auf Grundlage komplexer Interaktionsstrukturen mit zahlreichen sich wechselseitig verstärkenden Signalen schon in der frühen Säuglingszeit - eine sogenannte Bindung. Bindungspersonen werden so in der Regel Mutter und Vater, öfter aber auch Erzieherin, Tagesmutter o.ä. Man nimmt an, dass ein Kind mehrere, aber nicht sehr viele Bindungspersonen haben kann; ob es eine Hierarchie von Bindungspersonen gibt, wird in der Literatur unterschiedlich diskutiert. Kindler & Lillig bezeichnen das Konzept einer Bindungshierarchie als "schwer handhabbar" (2004, S. 380)  
Besonders kleine Kinder sind auf eine zuverlässig verfügbare Versorgungsperson angewiesen, um ihr so aktiviertes System wieder zu beruhigen. An eine solche zuverlässig verfügbare Versorgungsperson entwickelt das Kind - auf Grundlage komplexer Interaktionsstrukturen mit zahlreichen sich wechselseitig verstärkenden Signalen schon in der frühen Säuglingszeit - eine sogenannte Bindung. Bindungspersonen werden so in der Regel Mutter und Vater, öfter aber auch Erzieherin, Tagesmutter o.ä. Man nimmt an, dass ein Kind mehrere, aber nicht sehr viele Bindungspersonen haben kann; ob es eine Hierarchie von Bindungspersonen gibt, wird in der Literatur unterschiedlich diskutiert. Kindler & Lillig bezeichnen das Konzept einer Bindungshierarchie als "schwer handhabbar" (2004, S. 380).  
 
Eine Person wird dann vom Kind als zuverlässige '''Bindungsperson''' erlebt, wenn sie feinfühlig und prompt auf kindliche Bedürfnisse reagiert: Das bedeutet sowohl, zuverlässig zur Stelle zu sein, wenn das Bindungssystem aktiviert ist, als auch dem Kind Freiraum zu Exploration und Entwicklung zu lassen, wenn keine Gefahr besteht (sogenannter "circle of security"). Je nachdem, wie gut die Bindungsperson diesen - individuell unterschiedlich ausgeprägten - Entwicklungsbedürfnissen gerecht wird, kann sich die Bindung zwischen Kind und Versorgungsperson unterschiedlich gestalten. Bindung ist so immer Ergebnis eines komplexen Interaktionsprozesses, der in einer sehr frühen Lebensphase eines Kindes beginnt.


Eine Person wird dann vom Kind als zuverlässige '''Bindungsperson''' erlebt, wenn sie feinfühlig und prompt auf kindliche Bedürfnisse reagiert: Das bedeutet sowohl, zuverlässig zur Stelle zu sein, wenn das Bindungssystem aktiviert ist, als auch, dem Kind Freiraum zu Exploration und Entwicklung zu lassen, wenn keine Gefahr besteht (sogenannter "circle of security" [[http://www.circleofsecurity.org/docs/languages/08%20AHD%20final.pdf]]). Je nachdem, wie gut die Bindungsperson diesen - individuell unterschiedlich ausgeprägten - Entwicklungsbedürfnissen gerecht wird, kann sich die Bindung zwischen Kind und Versorgungsperson unterschiedlich gestalten. Bindung ist so immer Ergebnis eines komplexen Interaktionsprozesses, der in einer sehr frühen Lebensphase eines Kindes beginnt.


===Bindungsforschung===
===Bindungsforschung===
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Die Erforschung von Bindungsrepräsentationen ist relativ aufwändig: die genannten Verfahren müssen alle individuell mit Probanden durchgeführt werden und erfordern zudem ein ausgiebiges Training der Testdurchführenden, da alle Verfahren auch die Auswertung von Verhaltens- und Interaktionsbeobachtungen erfordern (Ratings). Es dürfte damit zusammen hängen, dass außerhalb der großen Längsschnittstudien zu Einzelfragen je eher kleine und wenig repräsentative Samples untersucht wurden.  
Die Erforschung von Bindungsrepräsentationen ist relativ aufwändig: die genannten Verfahren müssen alle individuell mit Probanden durchgeführt werden und erfordern zudem ein ausgiebiges Training der Testdurchführenden, da alle Verfahren auch die Auswertung von Verhaltens- und Interaktionsbeobachtungen erfordern (Ratings). Es dürfte damit zusammen hängen, dass außerhalb der großen Längsschnittstudien zu Einzelfragen je eher kleine und wenig repräsentative Samples untersucht wurden.  
Neuere Forschung beschäftigt sich mit Ausmaß, Variabilität und Reversibilität hirnorganischer Veränderungen (Synapsen- und Dendritenbildung, chemische Austauschprozesse), die für Informationsverarbeitung und mittelbar für die Wahrnehmung von Interaktionsprozessen verantwortlich sind (z.B. [[http://www.forschung-sachsen-anhalt.de/index.php3?option=projektanzeige&lang=0&perform=&pid=11008&lang=0&perform=&PHPSESSID=0beemu7alpqtrrqs43t7g3vff2]]).




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====Verbindungslinien aus der Bindungstheorie====
====Verbindungslinien aus der Bindungstheorie====
Bindungsstörungen erweisen sich nach den Ergebnissen der Längsschnittstudien als Risikofaktor kindlicher Entwicklung: Kinder mit Bindungsstörungen zeigen mangelnde Beziehungsfähigkeit, im Konflikt weniger pro-soziales Verhalten, ein Risiko psychosomatischer Störungen und dissoziativer Erkrankungen. Sie produziere inkohärentes Verhalten und inkohärente Narrative. Sie haben ein hohes Risiko, (sexuell) misshandelt zu werden. Kinder mit Bindungsstörung weisen zudem eine Reihe körperlich nachweisbarer Besonderheiten auf (z.B. veränderte Stresshormonausschüttungen); ihre Copingstrategien in belastenden Situationen sind weniger flexibel und angepasst, als bei adaptiven Bindungsmustern.  
Bindungsstörungen erweisen sich nach den Ergebnissen der Längsschnittstudien als Risikofaktor kindlicher Entwicklung: Kinder mit Bindungsstörungen zeigen mangelnde Beziehungsfähigkeit, im Konflikt weniger pro-soziales Verhalten, ein Risiko psychosomatischer Störungen und dissoziativer Erkrankungen. Sie produzieren inkohärentes Verhalten und inkohärente Narrative. Sie haben ein hohes Risiko, (sexuell) misshandelt zu werden. Kinder mit Bindungsstörung weisen zudem eine Reihe körperlich nachweisbarer Besonderheiten auf (z.B. veränderte Stresshormonausschüttungen); ihre Copingstrategien in belastenden Situationen sind weniger flexibel und angepasst, als bei adaptiven Bindungsmustern.  


Eine Hypothese könnte naheliegen, dass Personen mit diesen Voraussetzungen in kritischen Lebenssituationen leichter zu Verhalten neigen, das als kriminell gesehen wird.  
Eine Hypothese könnte naheliegen, dass Personen mit diesen Voraussetzungen in kritischen Lebenssituationen leichter zu Verhalten neigen, das als kriminell gesehen wird.  


Paulus ist einer solchen Hypothese in Bezug auf Mörder und Serienmörder nachgegangen. Seine Arbeiten aus den Jahren 1997 und 1998 zeigen beispielhaft die Komplexität, mit der Bindungsvoraussetzungen mit den weiteren Bedingungen einer Biographie verflochten sind. Gleichzeitig wird deutlich, wie unscharf Binnendifferenzierungen des Bindungsbegriffs auch in einer bindungsorientierten Forschung ausfallen können:
Paulus ist einer solchen Hypothese in Bezug auf Mörder und Serienmörder nachgegangen [[http://www.uni-saarland.de/fak5/ezw/personal/paulus/welcome.htm]]. Seine Arbeiten aus den Jahren 1997 und 1998 zeigen beispielhaft die Komplexität, mit der Bindungsvoraussetzungen mit den weiteren Bedingungen einer Biographie verflochten sind. Gleichzeitig wird deutlich, wie unscharf Binnendifferenzierungen des Bindungsbegriffs auch in einer bindungsorientierten Forschung ausfallen können:
In seiner Arbeit "Serienmörder: Ursachen und Entwicklung extremer Gewalt" beschreibt er anhand einer Stichprobe eine mögliche Entwicklung von Gewalt: Am Anfang steht, abgeleitet aus Selbstauskünften befragter Täter, die Annahme einer unsicher-vermeidenden Bindung. Sie führt über weitere negative Beziehungs- und Umwelterfahrungen, insbesondere negativ verarbeitete Frustrationserlebnisse, zum Aufbau aggressiver Verhaltensschemata und aggressiver Phantasien. Im Zusammenhang mit situativen Komponenten führt das zu einer erhöhten aggressiven Verhaltensbereitschaft und tatsächlich aggressivem Verhalten.
In seiner Arbeit "Serienmörder: Ursachen und Entwicklung extremer Gewalt" beschreibt er anhand einer Stichprobe eine mögliche Entwicklung von Gewalt: Am Anfang steht, abgeleitet aus Selbstauskünften befragter Täter, die Annahme einer unsicher-vermeidenden Bindung. Sie führt über weitere negative Beziehungs- und Umwelterfahrungen, insbesondere negativ verarbeitete Frustrationserlebnisse, zum Aufbau aggressiver Verhaltensschemata und aggressiver Phantasien. Im Zusammenhang mit situativen Komponenten führt das zu einer erhöhten aggressiven Verhaltensbereitschaft und tatsächlich aggressivem Verhalten.
In seiner Arbeit "(Entwicklungs-)Psychologische Erklärungsansätze zur Genese einer extrem gewalttätigen Persönlichkeit" bezieht Paulus sich dagegen auf desorganisierte Muster: Er beschreibt Übereinstimmungen zwischen den familiären Lebensumständen der interviewten Täter und Lebensbedingungen, die geeignet sind, Desorganisation von Bindung zu begünstigen (besonders: abweisendes Elternverhalten). Er weist darauf hin, dass die von ihm beschriebenen Serientäter keine Chance hatten, in späteren Lebensphasen günstigere Bindungserfahrungen zu machen. Er schildert Aggression (aggressive Phantasien, spontan aggressive Verhaltensbereitschaften) hier als wesentliches Ergebnis der Desorganisation von Bindung. Im Zusammenhang mit der vorhergehenden Studie wird deutlich, dass die beschriebene Desorganisation als Zusatzbeschreibung eines anfangs als "unsicher-vermeidend" beschriebenen Bindungsmuster gesehen werden kann.
In seiner Arbeit "(Entwicklungs-)Psychologische Erklärungsansätze zur Genese einer extrem gewalttätigen Persönlichkeit" bezieht Paulus sich dagegen auf desorganisierte Muster: Er beschreibt Übereinstimmungen zwischen den familiären Lebensumständen der interviewten Täter und Lebensbedingungen, die geeignet sind, Desorganisation von Bindung zu begünstigen (besonders: abweisendes Elternverhalten). Er weist darauf hin, dass die von ihm beschriebenen Serientäter keine Chance hatten, in späteren Lebensphasen günstigere Bindungserfahrungen zu machen. Er schildert Aggression (aggressive Phantasien, spontan aggressive Verhaltensbereitschaften) hier als wesentliches Ergebnis der Desorganisation von Bindung. Im Zusammenhang mit der vorhergehenden Studie wird deutlich, dass die beschriebene Desorganisation als Zusatzbeschreibung eines anfangs als "unsicher-vermeidend" beschriebenen Bindungsmuster gesehen werden kann.


Ein ganz anderer Ansatz einer Verbindung zur Kriminologie könnte sich aus entwicklungspsychologischen Überlegungen zur Entwicklung von "Moral" und Normverständnis ergeben: Dazu vorliegende Stufenmodelle (vgl. Heidbrink 1991) gehen implizit davon aus, dass die Entwicklung moralischer Urteilskraft eng zusammenhängt mit der Beziehungsqualität zu emotional bedeutsamen erwachsenen Bezugspersonen. Eine weitergehende Annahme wäre, dass Kinder Schwierigkeiten haben, gesellschaftlich relevante Normen anzuerkennen, wenn ihnen eine Beziehung solcher Qualität fehlt. In Zusammenhang damit könnte man Sutherlands Theorie der differenziellen Assoziation sehen, der davon ausgeht, dass ein Kind ggf. schon über seine frühen sozialen Kontakte - Eltern - Gewalthandlungen und ihre Bewertung lernt.
Ein ganz anderer Ansatz einer Verbindung zur Kriminologie könnte sich aus entwicklungspsychologischen Überlegungen zur Entwicklung von "Moral" und Normverständnis ergeben: Dazu vorliegende Stufenmodelle (vgl. Heidbrink 1991) gehen implizit davon aus, dass die Entwicklung moralischer Urteilskraft eng zusammenhängt mit der Beziehungsqualität zu emotional bedeutsamen erwachsenen Bezugspersonen. Eine weitergehende Annahme wäre, dass Kinder Schwierigkeiten haben, gesellschaftlich relevante Normen anzuerkennen, wenn ihnen eine Beziehung solcher Qualität fehlt. Ganz direkt darauf bezogen lässt sich Hirschis Ansatz sehen (1969, S.18). In Zusammenhang damit kann man aber auch Sutherlands Theorie der differenziellen Assoziation sehen, der davon ausgeht, dass ein Kind ggf. schon über seine frühen sozialen Kontakte - Eltern - Gewalthandlungen und ihre Bewertung lernt.


====Verbindungslinien aus der Kriminologie====
====Verbindungslinien aus der Kriminologie====
=====social bonds=====
=====social bonds=====
Hirschi bezeichnet "social bonds" als wesentliche Steuerungselemente devianten Verhaltens: Neben "commitment", "involvement" und "belief" gehört dazu "attachment", das er als "essence of internalization of norms, conscience, or superego" sieht (1969, S.18) und als "emotionales Band", über das sich dem Kind "elterliche Ideale und Erwartungen" mitteilen (S.86). Hirschi bezieht sich damit auf sekundäre Folgen von Bindung, wie sie auch durch die Bindungstheorie gestützt werden können. Ein ausdrücklicher Bezug auf Bowlbys Bindungskonzept, insbesondere auf die verhaltensbiologischen Grundannahmen oder die Diagnosekriterien, fehlt. Das Konzept "Bindung" bleibt im Vergleich unterkomplex:  
Hirschi bezeichnet "social bonds" als wesentliche Steuerungselemente devianten Verhaltens: Neben "commitment", "involvement" und "belief" gehört dazu "attachment", das er als "essence of internalization of norms, conscience, or superego" sieht (1969, S.18) und als "emotionales Band", über das sich dem Kind "elterliche Ideale und Erwartungen" mitteilen (S.86). Hirschi bezieht sich damit auf sekundäre Folgen von Bindung, wie sie auch durch die Bindungstheorie gestützt werden können. Ein Bezug auf Bowlbys Bindungskonzept hinsichtlich der verhaltensbiologischen Grundannahmen oder der Diagnosekriterien fehlt. Das Konzept "Bindung" bleibt im Vergleich unterkomplex:  


In einer ersten Abgrenzung geht Hirschi davon aus, dass fehlendes "attachment" den "psychopathischen" Täter auszeichne (S.17), spricht später von einer geringeren Wahrscheinlichkeit, dass ein Deliquent seinen Eltern verbunden sei ("closely tied"; S.85). Diagnostisch unterscheidet er mit einfacher Differenzierung zwischen "Bindung" und "fehlender Bindung", operationalisiert sie über Qualitäten von Kommunikation und andere, über Selbstauskünfte erhobene Beziehungsmerkmale (Fragebogenverfahren). Einen direkten Bezug zu Bowlby formuliert er lediglich in Bezug auf Untersuchungen, die psychiatrisch relevante Folgen einer längeren Trennung eines Kindes von der Mutter belegen (S.86f). Andere, aus Sicht der Bindungsforschung relevante Lebensumstände, die Bindung beeinflussen können, werden nicht thematisiert (etwa: andere Formen der Vernachlässigung oder Misshandlung).  
In einer ersten Abgrenzung geht Hirschi davon aus, dass fehlendes "attachment" den "psychopathischen" Täter auszeichne (S.17), spricht später von einer geringeren Wahrscheinlichkeit, dass ein Deliquent seinen Eltern verbunden sei ("closely tied"; S.85). Diagnostisch unterscheidet er mit einfacher Differenzierung zwischen "Bindung" und "fehlender Bindung", operationalisiert sie über Qualitäten von Kommunikation und andere, über Selbstauskünfte erhobene Beziehungsmerkmale (Fragebogenverfahren). Einen direkten Bezug zu Bowlby formuliert er lediglich in Bezug auf Untersuchungen, die psychiatrisch relevante Folgen einer längeren Trennung eines Kindes von der Mutter belegen (S.86f). Andere, aus Sicht der Bindungsforschung relevante Lebensumstände, die Bindung beeinflussen können, werden nicht thematisiert (etwa: andere Formen der Vernachlässigung oder Misshandlung).


=====Belastung=====
=====Belastung=====
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"Affection" ist das am ehesten mit Bindung verknüpfbare Element des angemessenen Elternverhaltens, und die Autoren berichten hierzu weitere Operationalisierungen, die die Verknüpfung festigen: "(...) fathers of nondelinquents were twice as likely to be warmly disposed toward their sons (...)" und: "(...) 28 percent of the mothers of delinquents were characterized as 'indifferent or hostile' toward the child (...)" (S.98). Auch wenn hier wieder jeder direkte Bezug auf Paradigmen der Bindungsforschung fehlt (wie wurde "warmly disposed" oder "indifferent/hostile" beobachtet und codiert?), weist doch die Beschreibung auf Elternverhalten, wie es zur Entwicklung sicherer Bindung einerseits oder Bindungsstörung und Bindungsdesorganisation andererseits beitragen kann.
"Affection" ist das am ehesten mit Bindung verknüpfbare Element des angemessenen Elternverhaltens, und die Autoren berichten hierzu weitere Operationalisierungen, die die Verknüpfung festigen: "(...) fathers of nondelinquents were twice as likely to be warmly disposed toward their sons (...)" und: "(...) 28 percent of the mothers of delinquents were characterized as 'indifferent or hostile' toward the child (...)" (S.98). Auch wenn hier wieder jeder direkte Bezug auf Paradigmen der Bindungsforschung fehlt (wie wurde "warmly disposed" oder "indifferent/hostile" beobachtet und codiert?), weist doch die Beschreibung auf Elternverhalten, wie es zur Entwicklung sicherer Bindung einerseits oder Bindungsstörung und Bindungsdesorganisation andererseits beitragen kann.
=====Selbstkontrolle=====
Katz (1999 [[http://wcr.sonoma.edu/v1n2/katz.html]]) geht unter Bindungsgesichtspunkten Hirschi und Gottfredsons Annahme nach, dass Selbstkontrolle maßgeblich kriminelles Verhalten vorhersagt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Selbstkontrolle Bindungsmöglichkeiten nicht direkt vorhersagt. Auch stellt ihre Untersuchung die Annahme in Frage, dass Selbstkontrolle eine im Erwachsenenalter invariable Größe sei.
=====Bindungsparadoxa=====
Sponsel stellt in einer Arbeit "paradoxes" Bindungsverhalten aus kriminologischen Zusammenhängen vor, das auf den ersten Blick nicht leicht mit der Bindungstheorie vereinbar scheint. Er erklärt Verhaltensphänomene wie etwa das sogenannte "Stockholmsyndrom" unter Berücksichtigung verschiedener bindungsbezogener Zusatzannahmen (2001 [[http://www.sgipt.org/gipt/entw/bindung/path_1.htm]].


====Mögliche Forschungsinteressen====
====Mögliche Forschungsinteressen====
Die vorliegenden Theorien gehen von einer Art "Augenscheinvalidität" eines Zusammenhangs zwischen abweichendem Verhalten und Bindungsaspekten aus. Es fehlen aber bisher Forschungsergebnisse, die ausdrücklich den Verbindungen zwischen Bindungsmuster und Kriminalität nachgehen und dabei die anerkannten Forschungsparadigmen der Bindungstheorie berücksichtigen. Psychologisch motivierte Forschung zeigt bisher, dass aus Bindungsvoraussetzungen zwar Risiken abgeleitet werden können, nicht aber konkrete Verhaltensdispositionen in bestimmten Situationen. Kindler & Lillig empfehlen daher bisher auch auf Grundlage vorliegender Forschung vorsichtige Aussagen über Diagnose, Ätiologie und Folgen einer Bindungsstörung (2004, S. 379). Zu fragen wäre so womöglich weniger nach einem Zusammenhang an sich, als danach, wieviel von  beobachtbar abweichendem Verhalten durch die Qualität von Bindung erklärt werden kann.
Die vorliegenden Theorien gehen von einer Art "Augenscheinvalidität" eines Zusammenhangs zwischen abweichendem Verhalten und Bindungsaspekten aus. Es fehlen aber bisher Forschungsergebnisse, die ausdrücklich den Verbindungen zwischen Bindungsmuster und Kriminalität nachgehen und dabei die anerkannten Forschungsparadigmen der Bindungstheorie berücksichtigen. Psychologisch motivierte Forschung zeigt bisher, dass aus Bindungsvoraussetzungen zwar Risiken abgeleitet werden können, nicht aber konkrete Verhaltensdispositionen in bestimmten Situationen. Kindler & Lillig empfehlen daher bisher auch auf Grundlage vorliegender Forschung vorsichtige Aussagen über Diagnose, Ätiologie und Folgen einer Bindungsstörung (2004, S. 379). Zu fragen wäre so womöglich weniger nach einem Zusammenhang an sich, als danach, wieviel von  beobachtbar abweichendem Verhalten durch die Qualität von Bindung erklärt werden kann.
Überlegungen zu Untersuchungsdesigns für Fragestellung aus diesem Themenbereich lassen schon im vorhinein Schwierigkeiten erkennen: Experimentalstudien, womöglich mit Kontrollgruppen, dürften kaum zu konstruieren sein. Entweder sind Unmengen an möglichen intermittierenden Variblen zu kontrollieren oder Settings sind nicht realisierbar (etwa zu einer vergleichenden Untersuchung des Stresshormonspiegels bei aktiven Gewalttätern einerseits und Gleichaltrigen mit manifesten Bindungsstörungen andererseits). Aus dem Material vorliegender Längsschnittstudien lassen sich allenfalls Korrelationen, also statistische Effektstärken, berechnen, nicht aber Kausalitäten ableiten.  
 
Überlegungen zu Untersuchungsdesigns für Fragestellung aus diesem Themenbereich lassen allerdings Schwierigkeiten erkennen: Experimentalstudien, womöglich mit Kontrollgruppen, dürften kaum zu konstruieren sein. Entweder sind Unmengen an möglichen intermittierenden Variblen zu kontrollieren oder Settings sind nicht realisierbar (etwa zu einer vergleichenden Untersuchung des Stresshormonspiegels bei aktiven Gewalttätern einerseits und Gleichaltrigen mit manifesten Bindungsstörungen andererseits). Aus dem Material vorliegender Längsschnittstudien lassen sich allenfalls Korrelationen, also statistische Effektstärken, berechnen, nicht aber Kausalitäten ableiten.


===Literatur===
===Literatur===
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HIMPEL, S. & HÜTHER, G.: Auswirkungen emotionaler Verunsicherungen und traumatischer Erfahrungen auf die Hirnentwicklung. In: Stiftung zum Wohl des Pflegekindes (Hrsg.): 3. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Kontakte zwischen Pflegekind und Herkunftsfamilie, 2004, S.111-125  
HIMPEL, S. & HÜTHER, G.: Auswirkungen emotionaler Verunsicherungen und traumatischer Erfahrungen auf die Hirnentwicklung. In: Stiftung zum Wohl des Pflegekindes (Hrsg.): 3. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Kontakte zwischen Pflegekind und Herkunftsfamilie, 2004, S.111-125  
HIRSCHI, T.: Causes of Delinquency. Berkeley u.a. 1969


KINDLER, H. & LILLIG, S.: Psychologische Kriterien bei Entscheidungen über eine Rückführung von Pflegekindern nach einer früheren Kindeswohlgefährdung. Praxis der Rechtspsychologie, 14 (2) 2004, S. 368-397  
KINDLER, H. & LILLIG, S.: Psychologische Kriterien bei Entscheidungen über eine Rückführung von Pflegekindern nach einer früheren Kindeswohlgefährdung. Praxis der Rechtspsychologie, 14 (2) 2004, S. 368-397  
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SPANGLER, G. & ZIMMERMANN, P. (Hrsg.): Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung und Anwendung. Stuttgart 1995  
SPANGLER, G. & ZIMMERMANN, P. (Hrsg.): Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung und Anwendung. Stuttgart 1995  


[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Bindungstheorie (16.10.2007)  
[1] http://www.circleofsecurity.org/docs/languages/08%20AHD%20final.pdf (Robert Marvin, Glen Cooper, Kent Hoffman and Bert Powell: The Circle of Security project:Attachment-based interventionwith caregiver–pre-school child dyads; 17.12.2007)
 
[2] http://www.forschung-sachsen-anhalt.de/index.php3?option=projektanzeige&lang=0&perform=&pid=11008&lang=0&perform=&PHPSESSID=0beemu7alpqtrrqs43t7g3vff2 (Einfluss von Stressfaktoren auf die Entwicklung corticaler Netzwerke: Zelluläre Mechanismen und Reversibilität CRH-induzierter; 17.12.2007)
 
[3] http://www.uni-saarland.de/fak5/ezw/personal/paulus/welcome.htm (Paulus, C.: Zum Mörder erzogen? Die mörderische Suche nach Liebe. (Entwicklungs-)Psychologische Erklärungsansätze zur Genese einer extrem gewalttätigen Persönlichkeit, Univ. des Saarlandes, 1998 und ders.: Serienmörder: Ursachen und Entwicklung extremer Gewalt. 1997; 16.10.2007)
 
[4] http://wcr.sonoma.edu/v1n2/katz.html (Katz, Rebecca S.: Building the Foundation for a Side-by-Side Explanatory Model: A General Theory of Crime, the Age-Graded Life-Course Theory, and Attachment Theory. 1999 Western Criminology Review 1(2); 23.12.2007)
 
[5] http://www.sgipt.org/gipt/entw/bindung/path_1.htm
(Sponsel, Rudolf (DAS). Bindungs-Paradoxa, pathologische Bindungen und andere nicht ohne weiteres verständliche Bindungserscheinungen - auch im Alltag. Internet Publikation  für Allgemeine und Integrative Psychotherapie  IP-GIPT. Erlangen; 28.01.2008)


[2] http://www.uni-saarland.de/fak5/ezw/personal/paulus/welcome.htm (Paulus, C.: Zum Mörder erzogen?
http://de.wikipedia.org/wiki/Bindungstheorie (16.10.2007)
Die mörderische Suche nach Liebe. (Entwicklungs-)Psychologische Erklärungsansätze zur Genese einer extrem gewalttätigen Persönlichkeit, Univ. des Saarlandes, 1998 und ders.: Serienmörder: Ursachen und Entwicklung extremer Gewalt. 1997; 16.10.2007)
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