Bindungstheorie: Unterschied zwischen den Versionen

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===Grundlagen===
===Grundlagen===
Besonders kleine Kinder sind auf eine zuverlässig verfügbare Versorgungsperson angewiesen, um ihr so aktiviertes System wieder zu beruhigen. An eine solche zuverlässig verfügbare Versorgungsperson entwickelt das Kind - auf Grundlage komplexer Interaktionsstrukturen mit zahlreichen sich wechselseitig verstärkenden Signalen schon in der frühen Säuglingszeit - eine sogenannte Bindung. Bindungspersonen werden so in der Regel Mutter und Vater, öfter aber auch Erzieherin, Tagesmutter o.ä. Man nimmt an, dass ein Kind mehrere, aber nicht sehr viele Bindungspersonen haben kann; ob es eine Hierarchie von Bindungspersonen gibt, wird in der Literatur unterschiedlich diskutiert. Kindler & Lillig bezeichnen das Konzept einer Bindungshierarchie als "schwer handhabbar" (2004, S. 380)  
Besonders kleine Kinder sind auf eine zuverlässig verfügbare Versorgungsperson angewiesen, um ihr so aktiviertes System wieder zu beruhigen. An eine solche zuverlässig verfügbare Versorgungsperson entwickelt das Kind - auf Grundlage komplexer Interaktionsstrukturen mit zahlreichen sich wechselseitig verstärkenden Signalen schon in der frühen Säuglingszeit - eine sogenannte Bindung. Bindungspersonen werden so in der Regel Mutter und Vater, öfter aber auch Erzieherin, Tagesmutter o.ä. Man nimmt an, dass ein Kind mehrere, aber nicht sehr viele Bindungspersonen haben kann; ob es eine Hierarchie von Bindungspersonen gibt, wird in der Literatur unterschiedlich diskutiert. Kindler & Lillig bezeichnen das Konzept einer Bindungshierarchie als "schwer handhabbar" (2004, S. 380).


Eine Person wird dann vom Kind als zuverlässige '''Bindungsperson''' erlebt, wenn sie feinfühlig und prompt auf kindliche Bedürfnisse reagiert: Das bedeutet sowohl, zuverlässig zur Stelle zu sein, wenn das Bindungssystem aktiviert ist, als auch dem Kind Freiraum zu Exploration und Entwicklung zu lassen, wenn keine Gefahr besteht (sogenannter "circle of security"). Je nachdem, wie gut die Bindungsperson diesen - individuell unterschiedlich ausgeprägten - Entwicklungsbedürfnissen gerecht wird, kann sich die Bindung zwischen Kind und Versorgungsperson unterschiedlich gestalten. Bindung ist so immer Ergebnis eines komplexen Interaktionsprozesses, der in einer sehr frühen Lebensphase eines Kindes beginnt.
Eine Person wird dann vom Kind als zuverlässige '''Bindungsperson''' erlebt, wenn sie feinfühlig und prompt auf kindliche Bedürfnisse reagiert: Das bedeutet sowohl, zuverlässig zur Stelle zu sein, wenn das Bindungssystem aktiviert ist, als auch, dem Kind Freiraum zu Exploration und Entwicklung zu lassen, wenn keine Gefahr besteht (sogenannter "circle of security"; http://www.circleofsecurity.org/docs/languages/08%20AHD%20final.pdf). Je nachdem, wie gut die Bindungsperson diesen - individuell unterschiedlich ausgeprägten - Entwicklungsbedürfnissen gerecht wird, kann sich die Bindung zwischen Kind und Versorgungsperson unterschiedlich gestalten. Bindung ist so immer Ergebnis eines komplexen Interaktionsprozesses, der in einer sehr frühen Lebensphase eines Kindes beginnt.




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Die Erforschung von Bindungsrepräsentationen ist relativ aufwändig: die genannten Verfahren müssen alle individuell mit Probanden durchgeführt werden und erfordern zudem ein ausgiebiges Training der Testdurchführenden, da alle Verfahren auch die Auswertung von Verhaltens- und Interaktionsbeobachtungen erfordern (Ratings). Es dürfte damit zusammen hängen, dass außerhalb der großen Längsschnittstudien zu Einzelfragen je eher kleine und wenig repräsentative Samples untersucht wurden.  
Die Erforschung von Bindungsrepräsentationen ist relativ aufwändig: die genannten Verfahren müssen alle individuell mit Probanden durchgeführt werden und erfordern zudem ein ausgiebiges Training der Testdurchführenden, da alle Verfahren auch die Auswertung von Verhaltens- und Interaktionsbeobachtungen erfordern (Ratings). Es dürfte damit zusammen hängen, dass außerhalb der großen Längsschnittstudien zu Einzelfragen je eher kleine und wenig repräsentative Samples untersucht wurden.  
Neuere Forschung beschäftigt sich mit Ausmaß, Variabilität und Reversibilität hirnorganischer Veränderungen (Synapsen- und Dendritenbildung, chemische Austauschprozesse), die für Informationsverarbeitung und mittelbar für die Wahrnehmung von Interaktionsprozessen verantwortlich sind (z.B. http://www.forschung-sachsen-anhalt.de/index.php3?option=projektanzeige&lang=0&perform=&pid=11008&lang=0&perform=&PHPSESSID=0beemu7alpqtrrqs43t7g3vff2).




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====Verbindungslinien aus der Bindungstheorie====
====Verbindungslinien aus der Bindungstheorie====
Bindungsstörungen erweisen sich nach den Ergebnissen der Längsschnittstudien als Risikofaktor kindlicher Entwicklung: Kinder mit Bindungsstörungen zeigen mangelnde Beziehungsfähigkeit, im Konflikt weniger pro-soziales Verhalten, ein Risiko psychosomatischer Störungen und dissoziativer Erkrankungen. Sie produziere inkohärentes Verhalten und inkohärente Narrative. Sie haben ein hohes Risiko, (sexuell) misshandelt zu werden. Kinder mit Bindungsstörung weisen zudem eine Reihe körperlich nachweisbarer Besonderheiten auf (z.B. veränderte Stresshormonausschüttungen); ihre Copingstrategien in belastenden Situationen sind weniger flexibel und angepasst, als bei adaptiven Bindungsmustern.  
Bindungsstörungen erweisen sich nach den Ergebnissen der Längsschnittstudien als Risikofaktor kindlicher Entwicklung: Kinder mit Bindungsstörungen zeigen mangelnde Beziehungsfähigkeit, im Konflikt weniger pro-soziales Verhalten, ein Risiko psychosomatischer Störungen und dissoziativer Erkrankungen. Sie produzieren inkohärentes Verhalten und inkohärente Narrative. Sie haben ein hohes Risiko, (sexuell) misshandelt zu werden. Kinder mit Bindungsstörung weisen zudem eine Reihe körperlich nachweisbarer Besonderheiten auf (z.B. veränderte Stresshormonausschüttungen); ihre Copingstrategien in belastenden Situationen sind weniger flexibel und angepasst, als bei adaptiven Bindungsmustern.  


Eine Hypothese könnte naheliegen, dass Personen mit diesen Voraussetzungen in kritischen Lebenssituationen leichter zu Verhalten neigen, das als kriminell gesehen wird.  
Eine Hypothese könnte naheliegen, dass Personen mit diesen Voraussetzungen in kritischen Lebenssituationen leichter zu Verhalten neigen, das als kriminell gesehen wird.  
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In seiner Arbeit "(Entwicklungs-)Psychologische Erklärungsansätze zur Genese einer extrem gewalttätigen Persönlichkeit" bezieht Paulus sich dagegen auf desorganisierte Muster: Er beschreibt Übereinstimmungen zwischen den familiären Lebensumständen der interviewten Täter und Lebensbedingungen, die geeignet sind, Desorganisation von Bindung zu begünstigen (besonders: abweisendes Elternverhalten). Er weist darauf hin, dass die von ihm beschriebenen Serientäter keine Chance hatten, in späteren Lebensphasen günstigere Bindungserfahrungen zu machen. Er schildert Aggression (aggressive Phantasien, spontan aggressive Verhaltensbereitschaften) hier als wesentliches Ergebnis der Desorganisation von Bindung. Im Zusammenhang mit der vorhergehenden Studie wird deutlich, dass die beschriebene Desorganisation als Zusatzbeschreibung eines anfangs als "unsicher-vermeidend" beschriebenen Bindungsmuster gesehen werden kann.
In seiner Arbeit "(Entwicklungs-)Psychologische Erklärungsansätze zur Genese einer extrem gewalttätigen Persönlichkeit" bezieht Paulus sich dagegen auf desorganisierte Muster: Er beschreibt Übereinstimmungen zwischen den familiären Lebensumständen der interviewten Täter und Lebensbedingungen, die geeignet sind, Desorganisation von Bindung zu begünstigen (besonders: abweisendes Elternverhalten). Er weist darauf hin, dass die von ihm beschriebenen Serientäter keine Chance hatten, in späteren Lebensphasen günstigere Bindungserfahrungen zu machen. Er schildert Aggression (aggressive Phantasien, spontan aggressive Verhaltensbereitschaften) hier als wesentliches Ergebnis der Desorganisation von Bindung. Im Zusammenhang mit der vorhergehenden Studie wird deutlich, dass die beschriebene Desorganisation als Zusatzbeschreibung eines anfangs als "unsicher-vermeidend" beschriebenen Bindungsmuster gesehen werden kann.


Ein ganz anderer Ansatz einer Verbindung zur Kriminologie könnte sich aus entwicklungspsychologischen Überlegungen zur Entwicklung von "Moral" und Normverständnis ergeben: Dazu vorliegende Stufenmodelle (vgl. Heidbrink 1991) gehen implizit davon aus, dass die Entwicklung moralischer Urteilskraft eng zusammenhängt mit der Beziehungsqualität zu emotional bedeutsamen erwachsenen Bezugspersonen. Eine weitergehende Annahme wäre, dass Kinder Schwierigkeiten haben, gesellschaftlich relevante Normen anzuerkennen, wenn ihnen eine Beziehung solcher Qualität fehlt. In Zusammenhang damit könnte man Sutherlands Theorie der differenziellen Assoziation sehen, der davon ausgeht, dass ein Kind ggf. schon über seine frühen sozialen Kontakte - Eltern - Gewalthandlungen und ihre Bewertung lernt.
Ein ganz anderer Ansatz einer Verbindung zur Kriminologie könnte sich aus entwicklungspsychologischen Überlegungen zur Entwicklung von "Moral" und Normverständnis ergeben: Dazu vorliegende Stufenmodelle (vgl. Heidbrink 1991) gehen implizit davon aus, dass die Entwicklung moralischer Urteilskraft eng zusammenhängt mit der Beziehungsqualität zu emotional bedeutsamen erwachsenen Bezugspersonen. Eine weitergehende Annahme wäre, dass Kinder Schwierigkeiten haben, gesellschaftlich relevante Normen anzuerkennen, wenn ihnen eine Beziehung solcher Qualität fehlt. Ganz direkt darauf bezogen lässt sich Hirschis Ansatz sehen (1969, S.18). In Zusammenhang damit kann man aber auch Sutherlands Theorie der differenziellen Assoziation sehen, der davon ausgeht, dass ein Kind ggf. schon über seine frühen sozialen Kontakte - Eltern - Gewalthandlungen und ihre Bewertung lernt.


====Verbindungslinien aus der Kriminologie====
====Verbindungslinien aus der Kriminologie====
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[2] http://www.uni-saarland.de/fak5/ezw/personal/paulus/welcome.htm (Paulus, C.: Zum Mörder erzogen?
[2] http://www.uni-saarland.de/fak5/ezw/personal/paulus/welcome.htm (Paulus, C.: Zum Mörder erzogen?
Die mörderische Suche nach Liebe. (Entwicklungs-)Psychologische Erklärungsansätze zur Genese einer extrem gewalttätigen Persönlichkeit, Univ. des Saarlandes, 1998 und ders.: Serienmörder: Ursachen und Entwicklung extremer Gewalt. 1997; 16.10.2007)
Die mörderische Suche nach Liebe. (Entwicklungs-)Psychologische Erklärungsansätze zur Genese einer extrem gewalttätigen Persönlichkeit, Univ. des Saarlandes, 1998 und ders.: Serienmörder: Ursachen und Entwicklung extremer Gewalt. 1997; 16.10.2007)
[3] http://www.circleofsecurity.org/docs/languages/08%20AHD%20final.pdf (Robert Marvin, Glen Cooper, Kent Hoffman and Bert Powell: The Circle of Security project:Attachment-based interventionwith caregiver–pre-school child dyads; 17.12.2007)
[4] http://www.forschung-sachsen-anhalt.de/index.php3?option=projektanzeige&lang=0&perform=&pid=11008&lang=0&perform=&PHPSESSID=0beemu7alpqtrrqs43t7g3vff2 (Einfluss von Stressfaktoren auf die Entwicklung corticaler Netzwerke: Zelluläre Mechanismen und Reversibilität CRH-induzierter; 17.12.2007)
Anonymer Benutzer