Bindungstheorie: Unterschied zwischen den Versionen

keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 24: Zeile 24:


Brisch unterscheidet auf der Grundlage zahlreicher klinischer Studien folgende '''Formen gestörter Bindung''':  
Brisch unterscheidet auf der Grundlage zahlreicher klinischer Studien folgende '''Formen gestörter Bindung''':  
- ''Aggression'': ambivalente Bindungsnähe durch aggressive Verhaltensweisen, Bindungswunsch wird durch Bezugsperson typischerweise verkannt, aggressive Antwort auf Bindungswunsch anderer, Ablehnung steigert Angst
*''Aggression'': ambivalente Bindungsnähe durch aggressive Verhaltensweisen, Bindungswunsch wird durch Bezugsperson typischerweise verkannt, aggressive Antwort auf Bindungswunsch anderer, Ablehnung steigert Angst
- ''Hemmung'': bei Aktivierung des Bindungssystems Hemmung, die Bindungsperson als sichere Basis zu nutzen, in Abwesenheit der Bindungsperson auch Bindungsverhalten/-suche zu Fremden
*''Hemmung'': bei Aktivierung des Bindungssystems Hemmung, die Bindungsperson als sichere Basis zu nutzen, in Abwesenheit der Bindungsperson auch Bindungsverhalten/-suche zu Fremden
Bindungsstörung "Promiskuität": Pseudobindung an jede verfügbare, beliebig austauschbare Person / keine spezifische Bindungsperson / bei Aktivierung des Bindungssystems Suche nach Nähe irgendeiner Person,
*''Promiskuität'': Pseudobindung an jede verfügbare, beliebig austauschbare Person / keine spezifische Bindungsperson / bei Aktivierung des Bindungssystems Suche nach Nähe irgendeiner Person  
- ''ohne Bindungszeichen'': bei Aktivierung des Bindungssystems keine Suche nach Hilfe oder Bindungsperson, kein Trennungsprotest, extreme Vermeidung von Beziehung, Rückzug in Isolation  
*''ohne Bindungszeichen'': bei Aktivierung des Bindungssystems keine Suche nach Hilfe oder Bindungsperson, kein Trennungsprotest, extreme Vermeidung von Beziehung, Rückzug in Isolation  
- ''Psychosomatik'': Deprivation mit physiologischer Dyregulation, psychogene Wachstumsretardierung, Störungen der Eltern-Kind-Interaktion (Schreistörung, Schlafstörung, Essstörung)
*''Psychosomatik'': Deprivation mit physiologischer Dyregulation, psychogene Wachstumsretardierung, Störungen der Eltern-Kind-Interaktion (Schreistörung, Schlafstörung, Essstörung)
- ''Rollenwechsel'': Kind ist selbst "sichere emotionale Basis" für erwachsene Bezugsperson  
*''Rollenwechsel'': Kind ist selbst "sichere emotionale Basis" für erwachsene Bezugsperson  
Bindungsstörung "Übererregung": Trennung kaum möglich / schon geringe Trennung führt zu Übererregung, Kind bewacht Bindungsperson, spielt auch in höherem Alter nur in der Nähe der Bindungsperson
*''Übererregung'': Trennung kaum möglich / schon geringe Trennung führt zu Übererregung, Kind bewacht Bindungsperson, spielt auch in höherem Alter nur in der Nähe der Bindungsperson
- ''Unfall-Risiko'': spektakuläre Risikosituation mit Aktivierung der Aufmerksamkeit der Bindungsperson, Inszenierung von Unfällen, Bindungsperson reagiert erst bei maximaler Gefahr für das Kind, kein Lerneffekt aus Unfallerfahrungen
*''Unfall-Risiko'': spektakuläre Risikosituationen mit Aktivierung der Aufmerksamkeit der Bindungsperson, Inszenierung von Unfällen, Bindungsperson reagiert aber erst bei maximaler Gefahr für das Kind, kein Lerneffekt aus Unfallerfahrungen


In der Literatur finden sich immer wieder unscharfe Abgrenzungen zwischen Bindungsstörung und Desorganisation von Bindung. Zwar ist weitgehend einhellige Meinung, dass Desorgation von Bindung entsteht, wenn ein Kind die Bindungsperson selbst als beängstigend erlebt. Nicht einhellig sind die Beschreibungen und Bezeichnungen: Während BRETHERTON von "desorganisierter/desorientierter" Bindung spricht, spricht MAIN von einem "Zusammenbruch der Verhaltens- und Aufmerksamkeitsstrategien". BRISCH beschreibt dasselbe als "desorganisiertes Verhaltensmuster" und "zusätzliche Codierung", die er von der Bindungsstörung trennt. Er spezifiziert, dass er die Desorganisation als Zwischenstufe sieht, die sich unter günstigen Bedingungen in eine der drei stabilen Bindungskategorien verwandelt, unter ungünstigen Bedingungen dagegen zu einer Bindungsstörung wird (mündliche Mitteilung 2004).
In der Literatur finden sich immer wieder unscharfe Abgrenzungen zwischen Bindungsstörung und Desorganisation von Bindung. Zwar ist weitgehend einhellige Meinung, dass Desorgation von Bindung entsteht, wenn ein Kind die Bindungsperson selbst als beängstigend erlebt. Nicht einhellig sind die Beschreibungen und Bezeichnungen: Während BRETHERTON von "desorganisierter/desorientierter" Bindung spricht, spricht MAIN von einem "Zusammenbruch der Verhaltens- und Aufmerksamkeitsstrategien". BRISCH beschreibt dasselbe als "desorganisiertes Verhaltensmuster" und "zusätzliche Codierung", die er von der Bindungsstörung trennt. Er spezifiziert, dass er die Desorganisation als Zwischenstufe sieht, die sich unter günstigen Bedingungen in eine der drei stabilen Bindungskategorien verwandelt, unter ungünstigen Bedingungen dagegen zu einer Bindungsstörung wird (mündliche Mitteilung 2004).
Zeile 38: Zeile 38:
Ein Bezug zwischen Bindungstheorie und Kriminologie ergibt sich über die Befunde zu Bindungsstörungen, z.T. zu den desorganisierten Formen von Bindung: Es gibt sowohl aus Richtung der Bindungstheorie empirische Befunde, die auf die Kriminologie verweisen können, als auch umgekehrt aus der Kriminologie Theorien, die auf die Bindungstheorie verweisen.
Ein Bezug zwischen Bindungstheorie und Kriminologie ergibt sich über die Befunde zu Bindungsstörungen, z.T. zu den desorganisierten Formen von Bindung: Es gibt sowohl aus Richtung der Bindungstheorie empirische Befunde, die auf die Kriminologie verweisen können, als auch umgekehrt aus der Kriminologie Theorien, die auf die Bindungstheorie verweisen.


====Die Sicht der Bindungstheorie====
====Verbindungslinien aus der Bindungstheorie====
Auf Seiten der Bindungstheorie sind es Ergebnisse der Längsschnittstudien und hier besonders die Ergebnisse zu den Bindungsstörungen. Bindungsstörungen erweisen sich als Risikofaktor der Entwicklung: Kinder mit Bindungsstörungen zeigen mangelnde Beziehungsfähigkeit, im Konflikt weniger pro-soziales Verhalten, Risiko psychosomatischer Störungen, Gefahr von Missbrauch und Misshandlung, dissoziative Erkrankungen, inkohärentes Verhalten und inkohärente Narrative; gut belegt ist eine hohe Rate der Weitergabe einer eigenen Bindungsstörung an die nächste Generation. Kinder mit Bindungsstörung weisen zudem eine Reihe auch körperlich nachweisbarer Besonderheiten auf (z.B. veränderte Stresshormonausschüttungen); ihre Copingstrategien in belastenden Situationen sind weniger flexibel und weniger angepasst.  
Auf Seiten der Bindungstheorie sind es Ergebnisse der Längsschnittstudien und hier besonders die Ergebnisse zu den Bindungsstörungen. Bindungsstörungen erweisen sich als Risikofaktor der Entwicklung: Kinder mit Bindungsstörungen zeigen mangelnde Beziehungsfähigkeit, im Konflikt weniger pro-soziales Verhalten, Risiko psychosomatischer Störungen, Gefahr von Missbrauch und Misshandlung, dissoziative Erkrankungen, inkohärentes Verhalten und inkohärente Narrative; gut belegt ist eine hohe Rate der Weitergabe einer eigenen Bindungsstörung an die nächste Generation. Kinder mit Bindungsstörung weisen zudem eine Reihe auch körperlich nachweisbarer Besonderheiten auf (z.B. veränderte Stresshormonausschüttungen); ihre Copingstrategien in belastenden Situationen sind weniger flexibel und weniger angepasst.  


Zeile 47: Zeile 47:
Ein ganz anderer Ansatz einer Verbindung zur Kriminologie könnte sich aus entwicklungspsychologischen Überlegungen zur Entwicklung von "Moral" und Normverständnis ergeben: Dazu vorliegende Stufenmodelle (vgl. HEIDBRINK 1991) gehen mindestens implizit davon aus, dass die Entwicklung moralischer Urteilskraft eng zusammenhängt mit der Beziehungsqualität zu emotional bedeutsamen erwachsenen Bezugspersonen. Eine Annahme wäre dann, dass Kinder, die keine Beziehung solcher Qualität finden, Schwierigkeiten haben, Normen anzuerkennen.
Ein ganz anderer Ansatz einer Verbindung zur Kriminologie könnte sich aus entwicklungspsychologischen Überlegungen zur Entwicklung von "Moral" und Normverständnis ergeben: Dazu vorliegende Stufenmodelle (vgl. HEIDBRINK 1991) gehen mindestens implizit davon aus, dass die Entwicklung moralischer Urteilskraft eng zusammenhängt mit der Beziehungsqualität zu emotional bedeutsamen erwachsenen Bezugspersonen. Eine Annahme wäre dann, dass Kinder, die keine Beziehung solcher Qualität finden, Schwierigkeiten haben, Normen anzuerkennen.


====Die Sicht der Kriminologie====
====Verbindungslinien aus der Kriminologie====
Bindung ist nach dem Konzept der Bindungstheorie ein personengebundenes, individuell unterschiedlich ausgeprägtes Merkmal, das Verhaltensbereitschaften in bestimmten Situationstypen vorbahnt. Auf Seiten der Kriminologie kann es dann von Interesse sein, wenn es darum geht, abweichendes Verhalten aus interindividuellen Unterschieden zu erklären.
Bindung ist nach dem Konzept der Bindungstheorie ein personengebundenes, individuell unterschiedlich ausgeprägtes Merkmal, das Verhaltensbereitschaften in bestimmten Situationstypen vorbahnt. Auf Seiten der Kriminologie kann es dann von Interesse sein, wenn es darum geht, abweichendes Verhalten aus interindividuellen Unterschieden zu erklären.


40

Bearbeitungen