Bindungstheorie: Unterschied zwischen den Versionen

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Gefunden wurden schließlich auch '''Bindungsstörungen''', d.h. Interaktionen zwischen Kind und Bindungsperson, die keiner der bekannten Kategorien angehörten und wegen ihrer unangemessenen Strukturen als pathologisch angesehen wurden. Die Bindungsstörung ist ein strukturiertes, (mehr oder weniger gut) organisiertes, wenn auch maladaptives Bindungsverhalten, das in verschiedenen Bezugssystemen gleichermaßen zu beobachten ist. Bindungsstörung wird auch als "schwerwiegende Fragmentierung bis Zerstörung des inneren Arbeitsmodells von Bindung" bezeichnet (BRISCH in: BRISCH & HELLBRÜGGE, 2003, S.108f). Bei der Bindungsstörung ist in einer Stresssituation das Bindungssystem zwar voll aktiviert (z.B. maximale körperliche Erregung), aber die Bindungsperson wird nicht erfolgreich aufgesucht, um die Erregung zu mindern. Es bleibt so bei einem chronisch höhten Stressniveau. Je nach Alter des Kindes kann das gravierende Folgen z.B. im Hirnstoffwechsel haben (vgl. HIMPEL & HÜTHER 2004).
Die Bindungstheorie ist durch verschiedene, speziell zu ihrer Überprüfung entwickelte '''Diagnosemethoden''' ("Fremde Situation", Geschichtenergänzungsverfahren, Bindungsinterview für Zehnjährige, Child Attachment Interview, Adult Attachment Interview u.a.) in verschiedenen Kulturen und zum Teil in Längsschnittstudien (eine der längsten die noch laufende Bielefelder Längsschnittstudie von Grossmann & Grossmann) untersucht worden.
Es haben sich fast überall ähnliche '''Verteilungen''' gefunden:
50-60% aller untersuchten Kinder weisen eine Repräsentation sicherer Bindung auf, etwa 30-40% sind unsicher-vermeidend und etwa 10-20% unsicher-ambivalent (das Desorganisationsmuster wurde ggf. jeweils zusätzlich codiert). Die festgestellten Bindungsmuster erwiesen sich in den Längsschnittstudien als sehr stabil, sobald sie sich ab dem Alter von etwa zwei Jahren festigen und als Bindungsrepräsentation bzw. "inneres Arbeitsmodell von Bindung" gesehen werden können. Auch bei Erwachsenen findet man in der Regel Korrelate der Bindungsrepräsentationen ihrer Kindheit.
 
Die Erforschung von Bindungsrepräsentationen ist relativ aufwändig: die genannten Verfahren müssen alle individuell mit Probanden durchgeführt werden und erfordern zudem ein ausgiebiges Training der Testdurchführenden, da alle Verfahren auch die Auswertung von Verhaltens- und Interaktionsbeobachtungen erfordern. Es dürfte damit zusammen hängen, dass außerhalb der großen Längsschnittstudien zu Einzelfragen je eher kleine und wenig repräsentative Samples untersucht wurden.
 
===Bindungsstörungen===
Neben den Arbeitsmodellen von Bindung, die als adaptiv bezeichnet werden können (sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent) wurden in allen Untersuchungsgruppen immer wieder auch Kinder mit Bindungsstörungen gesehen. Die Interaktionen zwischen Kind und Bindungsperson waren bei ihnen keiner der bekannten Kategorien zuzuordnen und wurden wegen ihrer durchweg unangemessenen Strukturen als pathologisch angesehen. Die Bindungsstörung ist ein strukturiertes, (mehr oder weniger gut) organisiertes, wenn auch maladaptives Bindungsverhalten, das in verschiedenen Bezugssystemen gleichermaßen zu beobachten ist. Bindungsstörung wird auch als "schwerwiegende Fragmentierung bis Zerstörung des inneren Arbeitsmodells von Bindung" bezeichnet (BRISCH in: BRISCH & HELLBRÜGGE, 2003, S.108f). Bei der Bindungsstörung ist in einer Stresssituation das Bindungssystem zwar voll aktiviert (z.B. maximale körperliche Erregung), aber die Bindungsperson wird nicht erfolgreich aufgesucht, um die Erregung zu mindern. Es bleibt so bei einem chronisch höhten Stressniveau. Je nach Alter des Kindes kann das gravierende Folgen z.B. im Hirnstoffwechsel haben (vgl. HIMPEL & HÜTHER 2004).
 
Die Bindungsstörung erscheint auch in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10), und zwar als "Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters" (F94.1) bzw. als "Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung" (F94.2). Die Systematik dieser Störungen bezieht sich allenfalls indirekt auf die Grundlagen der Bindungsforschung im hier beschriebenen Sinn.


Brisch unterscheidet folgende '''Formen gestörter Bindung''':  
Brisch unterscheidet auf der Grundlage zahlreicher klinischer Studien folgende '''Formen gestörter Bindung''':  
- ''Aggression'': ambivalente Bindungsnähe durch aggressive Verhaltensweisen, Bindungswunsch wird durch Bezugsperson typischerweise verkannt, aggressive Antwort auf Bindungswunsch anderer, Ablehnung steigert Angst
- ''Aggression'': ambivalente Bindungsnähe durch aggressive Verhaltensweisen, Bindungswunsch wird durch Bezugsperson typischerweise verkannt, aggressive Antwort auf Bindungswunsch anderer, Ablehnung steigert Angst
- ''Hemmung'': bei Aktivierung des Bindungssystems Hemmung, die Bindungsperson als sichere Basis zu nutzen, in Abwesenheit der Bindungsperson auch Bindungsverhalten/-suche zu Fremden
- ''Hemmung'': bei Aktivierung des Bindungssystems Hemmung, die Bindungsperson als sichere Basis zu nutzen, in Abwesenheit der Bindungsperson auch Bindungsverhalten/-suche zu Fremden
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Bindungsstörung "Übererregung": Trennung kaum möglich / schon geringe Trennung führt zu Übererregung, Kind bewacht  Bindungsperson, spielt auch in höherem Alter nur in der Nähe der Bindungsperson
Bindungsstörung "Übererregung": Trennung kaum möglich / schon geringe Trennung führt zu Übererregung, Kind bewacht  Bindungsperson, spielt auch in höherem Alter nur in der Nähe der Bindungsperson
- ''Unfall-Risiko'': spektakuläre Risikosituation mit Aktivierung der Aufmerksamkeit der Bindungsperson, Inszenierung von Unfällen, Bindungsperson reagiert erst bei maximaler Gefahr für das Kind, kein Lerneffekt aus Unfallerfahrungen
- ''Unfall-Risiko'': spektakuläre Risikosituation mit Aktivierung der Aufmerksamkeit der Bindungsperson, Inszenierung von Unfällen, Bindungsperson reagiert erst bei maximaler Gefahr für das Kind, kein Lerneffekt aus Unfallerfahrungen
Die Bindungstheorie ist durch verschiedene, speziell zu ihrer Überprüfung entwickelte '''Diagnosemethoden''' ("Fremde Situation", Geschichtenergänzungsverfahren, Bindungsinterview für Zehnjährige, Child Attachment Interview, Adult Attachment Interview u.a.) in verschiedenen Kulturen und zum Teil in Längsschnittstudien (eine der längsten die noch laufende Bielefelder Längsschnittstudie von Grossmann & Grossmann) untersucht worden.
Es haben sich fast überall ähnliche '''Verteilungen''' gefunden:
50-60% aller untersuchten Kinder weisen eine Repräsentation sicherer Bindung auf, etwa 30-40% sind unsicher-vermeidend und etwa 10-20% unsicher-ambivalent (das Desorganisationsmuster wurde ggf. jeweils zusätzlich codiert). Die festgestellten Bindungsmuster erwiesen sich in den Längsschnittstudien als sehr stabil, sobald sie sich ab dem Alter von etwa zwei Jahren festigen und als Bindungsrepräsentation bzw. "inneres Arbeitsmodell von Bindung" gesehen werden können. Auch bei Erwachsenen findet man in der Regel Korrelate der Bindungsrepräsentationen ihrer Kindheit.
Die Erforschung von Bindungsrepräsentationen ist relativ aufwändig: die genannten Verfahren müssen alle individuell mit Probanden durchgeführt werden und erfordern zudem ein ausgiebiges Training der Testdurchführenden, da alle Verfahren auch die Auswertung von Verhaltens- und Interaktionsbeobachtungen erfordern. Es dürfte damit zusammen hängen, dass außerhalb der großen Längsschnittstudien zu Einzelfragen je eher kleine und wenig repräsentative Samples untersucht wurden.


===Bindungstheorie und Kriminologie===
===Bindungstheorie und Kriminologie===
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BRISCH, K.-H. & HELLBRÜGGE, T. (Hrsg.): Bindung und Trauma. Risiken und Schutzfaktoren für die Entwicklung von Kindern. Stuttgart 2003
BRISCH, K.-H. & HELLBRÜGGE, T. (Hrsg.): Bindung und Trauma. Risiken und Schutzfaktoren für die Entwicklung von Kindern. Stuttgart 2003
DILLING, H., MOMBOUR, W., SCHMIDT, M.H. (Hrsg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapital V (F). Klinisch Diagnostische Leitlinien. Bern u.a. 1993


GLOGER-TIPPELT, G.: Bindung im Erwachsenenalter. Ein Handbuch für Forschung und Praxis. Bern 2001
GLOGER-TIPPELT, G.: Bindung im Erwachsenenalter. Ein Handbuch für Forschung und Praxis. Bern 2001
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